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Tagesmail

Donnerstag, 09. August 2012 – Das Alte und das Neue

Hello, Freunde der Superhelden,

das Rätsel ist gelöst, warum Jungs schlechter lesen als Mädchen. Sie bekamen nicht die richtigen Bücher in die Hand. Jungs wollen keine Mädchenbücher, sie wünschen sich Superhelden, Waffen, Abenteuer. Die Zeiten der Geschlechternivellierung seien vorüber, befindet die FAZ.

Nun beginne eine neue Bücherwelle. Die Jungs kriegen, was sie begehren: „Die bunten Seiten der Macht“. Die kleinen Leser der neuen Macht-Bücher entwickelten „Superkräfte wie von selbst“, so Volker Weidermann. Lesen sei wie schwereloses Hangeln von einer Liane zur anderen, es lockten neue Welten auf „der hellen Seite der Macht“.

Einmal bunt, dann hell, so seien die neuen Seiten der Macht, die Weidermann voll bunter Empathie beschreibt, als hätte er selber Spaß an den muskulösen Abenteuern der Supermänner, die niemals ins Schwanken kämen. Vorbei die Zeiten, dass echte Knaben sich mit faden Sanftheiten des anderen Geschlechts langweilen mussten. Platz da, nun kommen Bücher „nur für Jungs“.

Am Anfang brauche es einen kräftigen Schubs für die Superboys, dann kämen Mühelosigkeit und Freude wie von selbst. Lies! Sonst wird nie ein echter Mann aus dir, spricht der bekümmerte Vater, der es auch nie werden durfte! Damit das Lesen gleich ins Leben tritt, gibt’s richtige Muskelschaumstoffkostüme für die Nachwuchsleser, denn Jungs im frühen Alter „haben einen besonders unauffälligen Muskelwuchs.“

So stellt man sich das wahre Leseabenteuer vor: was sich im Gehirnareal musculus supermanni abspielt, wird im schaumstoffverstärkten Bizeps eins zu eins abgebildet, damit den Kleinen der Leseerfolg sogleich

plastisch und synchron bewiesen werden kann. Bubengemäß müssen die Geschichten einfach, klar und kurz sein, unterbrochen von aufregenden Bildern und großen bunten Comic-Wörtern.

Getreu der Realität der Männer wird jede Gefahr in Supergeschwindigkeit aus der Welt geschafft. Fehlen nur noch naturidentische Schaumstofflianen in der Zauberwelt der Bubenzimmer, an denen sich die Mini-Tarzans entlanghangeln – plus Eintrittsverbot für doofe Mädchen.

Eine Generation effeminierter Väter, verweichlicht durch Horden geschlechternivellierender Grundschullehrerinnen, darf endlich ihre männlichen Charakterdefizite mit Hilfe väterfreundlicher Knaben nachträglich korrigieren.

Lesen, das waren mal Leseangebote. Die Kinder entschieden, was sie spannend fanden. Heute entscheiden Verlage in Kooperation mit schubsenden Vätern. Ein kleiner Schubs hat noch nie geschadet, stimmts?

Natürlich benötigen Kinder eine sinnvolle Gelegenheit, um mit ihren Gewaltphantasien – vor allem denen, die kostenlos per Verlagstraktate und TV ins Haus geliefert werden – zurecht zu kommen. Kinder brauchen Märchen, wusste vor Dekaden Bruno Bettelheim. Doch vor allem, so der Kinderpsychologe, bräuchten sie Eltern, die ihre Kinder selbst entscheiden ließen und mit ihnen über ihre Phantasien, Gott und die Welt redeten.

Das ist für Volker Weidermann bestimmt so selbstverständlich, dass er schlicht vergaß, diese Trivialitäten zu erwähnen.

 

Junge Supermänner kann‘s nicht ohne alte geben, die sich nicht von Liane zu Liane, sondern freischwebend von Edmund Burke bis Otto von Bismarck durchhangeln. Kann es sein, dass ein angesehener Kolumnist in einer angesehenen Tageszeitung keine Scheu mehr kennt, zur Missachtung von Völker- und Verfassungsrecht und zur ungezwungenen Blut- und Eisenpolitik aufzurufen?

Sodass ein ausgewachsener Bundesrichter sich bemüßigt fühlt, dem Herrn Gauland die rote Karte zu zeigen?

Alexander Gauland beruft sich nicht nur auf den englischen Vater des Konservatismus, der ein Gegner der Französischen Revolution war, den Menschen und seine Vernunft für inkorrigibel sündig und die Gesellschaft für eine gottgewollte Kastengesellschaft hielt. Auch den Militärphilosophen Clausewitz, für den Krieg nichts als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war, hält er hoch in Ehren.

Weicheier seien sie, die deutschen Pazifistenmemmen, die ein Problem mit militärischer Gewalt hätten. Hier fehlt ohne Zweifel der supermann-gestählte männliche Nachwuchs, Herr Ex-Staatssekretär.

Doch ausgerechnet der unkomplizierte Gewaltanbeter wirft seiner Parteigenossin, einer Ossihexe namens Merkel, vor, sie habe aus dem prinzipienfesten Christenklub ein ideologisches Nichts gezaubert, eine „Organisation zum Machterhalt, ohne dass man noch wüsste, wofür und wogegen.“

(Dieter Deiseroth in HINTERGRUND: Einstimmung auf Verfassungs- und Völkerrechtsbruch)

Sollten wir bei unserem Blut- und Eisenfresser etwa einen neurotischen Bezug zur Macht diagnostizieren müssen? Hat er nicht bemerkt, dass Merkel – wie im Übrigen die ganze Politelite – der Burke-Devise huldigt: wer sich nicht ändert, bleibt sich nicht treu?

Das heißt auf Präzisdeutsch: wer konservativ ist, darf nicht konservativ sein. Das ist das ideologische Nest der übergroßen Koalition aller Parteien, hier kuscheln sie und werden sich immer ähnlicher. Konservative Menschen betonen gern die Logik der Macht, mit der Macht der Logik haben sie‘s weniger. Müssen sie auch nicht, wer Macht hat, braucht keine weiteren Argumente.

Nach Burke muss sich der Staat dem „großen Geist der Veränderung“ unterwerfen, womit er auch die Hegel‘sche Geschichtsdialektik inspirierte. Halten zu Gnaden, in diesen Ablegern der Heilsgeschichte entscheidet nicht der Mensch, was auf die tägliche Polit-Agenda kommt. Die ständig wechselnden Grundwerte werden vom Zeitgeist entschieden, der die Chamäleon-Ausgabe des göttlichen Geistes ist.

Merkel kennt ihren Burke besser als der schnarrende Preußenimitator Gauland. Und sollte sie ihn nicht kennen, hat sie ihn als gemeinsamen Nenner aller westlichen Verwandlungs-Parteien intuitiv geahnt.

Burke war Gegner der gewalttätigen Revolution – hatte auch er Probleme mit der Gewalt? –, aber ein Anhänger der Evolution, der eleganten Verwandlung des Alten in das Neue. Doch wie? Wie kann man Altes konservieren, wenn man Neues zulässt? Dabei sollte es nicht um Tempofragen gehen. Doch genau um die geht’s.

Der ganze Unterschied zwischen Progressiven und Konservativen ist auf die Frage der Veränderungsgeschwindigkeit zusammengeschnurrt. Die Progressiven bilden die vorwitzige Avantgarde, die Konservativen die langsame, behutsame Derrieregarde, die den Veränderungsprozess nur entschleunigt und abbremst, aber nicht stoppt. Gar nicht stoppen kann, denn die Evolution bestimmt über den weiteren Verlauf der Begebnisse und nicht der Mensch, der zur autonomen Gestaltung seines Schicksals gar nicht fähig ist.

Was Gauland bei Merkel bemängelt, ist die Korrosion „abstrakter“ Grundwerte. Genau die werden in ihrer leblosen Abstraktheit von Burke abgelehnt. Er spricht von „natürlichen Rechten“, die in allen Staaten in „abstrakter Vollkommenheit“ existieren könnten. Genau dies sei ihre Unvollkommenheit. „Aber eben in ihrer abstrakten Vollkommenheit liegt ihre praktische Unzulänglichkeit.“

Da wir auf Erden nichts Perfektes zustande bringen, müssen wir uns mit dem Unvollkommenen begnügen, das praktisch und konkret sein muss und ständig verändert werden kann. „Da aber die Grade der Freiheit und der Einschränkung nach Zeit und Umständen wechseln müssen, so können sie unmöglich vermittelst einer abstrakten Regel festgesetzt werden: und nichts ist abgeschmackter, als darüber in der Voraussetzung einer solchen Regel zu räsonieren.“

Abstrakte Leitideen zu formulieren, habe also keinen Sinn, so Burke. Wir können sie nicht realisieren, und wenn wir‘s doch versuchten, müssten wir zur revolutionär-utopischen Gewalt greifen.

Hayek war ein Burke-Fan und hier gründet sich seine Abneigung gegen alle „abstrakten Utopien“. Wer den Himmel auf Erden hole, würde eine Hölle errichten. Das ist eine Kritik an Platon, der beim Realisieren seines perfekten Gerechtigkeitsstaates den Urfaschismus erfand. Doch bei aller berechtigten Aversion gegen Platon hat man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Manchmal hilft ein Quäntchen gesunder Menschenverstand, der bei Briten sonst in hohem Ansehen steht. Ich muss eine Leitidee nicht mit Donnerschlag und der Dampfwalze verwirklichen. Sonst entstünde tatsächlich die Hölle der Perfektion.

Ich kann aus der Idee ein Lernprogramm entwickeln und sie nach den üblichen Regeln der Demokratie stücklesweis in Realität verwandeln. Das hatte Popper mit seiner Stückwerktechnologie im Sinn, weshalb er mit seinem strikten Utopieverbot mit sich selbst in Widerspruch geriet.

Jede Zielvorstellung muss zuerst abstrakt sein. Das ist kein Mangel, sondern eine pragmatische Kursregulierung in die richtige Richtung. Ich kann nicht drauflos wursteln, wenn ich kein klares Ziel anpeilen kann. Sonst wird’s tatsächlich ein Gewurstel.

Will ich Französisch lernen im Wahn, demnächst wie Marcel Proust zu schreiben, kann ich nach wenigen Wochen entnervt das abstrakte Ziel streichen, weil ich es für unerfüllbar halte. Das ist falscher Perfektionismus, vorausgesetzt, ich wollte so gut wie möglich Französisch lernen. Streich ich das abstrakte Ziel, habe ich den Zweck des Französischlernens verraten.

Wäre ich wirklich pragmatisch, würde ich sagen: ich fordere das Unmögliche, um das Mögliche möglich zu machen. Das abstrakte Fernziel bleibt. Es ist nicht dadurch falsch geworden, dass meine Lernversuche kläglich ausfallen.

Bin ich rational, muss ich mir mehr Zeit nehmen und darf keinem Alles oder Nichts-Prinzip folgen. Würde sich herausstellen, dass ich lieber Russisch lernte, um Tolstoi zu entziffern, müsste ich mein Lernziel verändern. Mit Französisch kann man Tolstoi nicht im Original lesen. Ich müsste meinen Fehler zugestehen, das falsche Lernziel korrigieren und zur neuen Sprache übergehen. Das wäre eine rational nachvollziehbare Änderung.

Von solch irdischem Krimskrams redet Burke gar nicht, denn all dies setzte die Autonomie des Menschen voraus. Bei Hegel und Burke entscheiden aber Mächte, die dem Menschen keinerlei Rechenschaft schuldig sind und alles im Alleingang bestimmen. Der absolute Geist, die Evolution, die Geschichte: alles Abkömmlinge der Heilsgeschichte.

Was nun treibt Merkel? Was die Parteien, die sich ständig ändern müssen, um sich treu zu bleiben? Meinen sie: sie müssen sich unablässig erneuern – um die Alten zu bleiben? Innerhalb weniger Wochen erneuern wir alle Körperzellen, um die alte Identität zu bewahren.

Hier trennen sich unwiderruflich die Welten, denn Erneuerung ist nicht Erneuerung. Im griechischen Kosmosdenken erneuern wir uns, um das Alte zu retten, zu bewahren, zu bereichern. Um zu reifen.

Im christlichen Denken ist das Neue der Feind des Alten. Das Alte ist der böse sündige Feind, der absterben muss, um dem gänzlich Neuen und Messianischen das Feld zu überlassen. Das Alte ist vergangen, siehe, ich mache alles neu. Unter dem Vorzeichen des natürlichen Neuen hat sich das übernatürliche Neue eingeschlichen wie der Dieb in der Nacht.

Im kosmischen Reigen regeneriert sich die Natur, indem sie sich ständig aufs Neue reproduziert. Kein Altes wird als minderwertig abgestoßen und auf eine Deponie gekarrt. Was sich in der Natur überlebt und verbraucht hat, wird dem Kreislauf der Natur zurückgegeben. Ein unentsorgbares Müllproblem kann nicht entstehen.

Natur ist wie die Urschlange Uroboros, die sich ständig erneuert, indem sie sich selber auffrisst. Alles ändert sich, indem alles gleich bleibt. Bei Heraklit bleibt nichts unverändert, obgleich alles gleich bleibt.

Diametral anders im Christentum, das die Natur als Altes und Verwerfliches bekämpft, es vollständig eliminiert, um an seine Stelle das übernatürliche Neue zu setzen. Wohin mit dem Alten? Wie Atommüll ist es unentsorgbar. Der theologische Begriff für das Unentsorgbare ist – die Hölle.

Natur kennt keine Hölle und keinen Himmel. Übernatur will die guten und schlechten Seiten der Natur übertrumpfen, indem sie beide Pole zum Heiligen und Bösen extremisiert. Die unlösbaren Müllfragen hat das Christentum in die Welt gebracht. Bei Schelling ist Welt der „Abfall von Gott“. Die Welt ist das Produkt des Falls, des Sündenfalls.

Der Sündenfall wird zum Abfall, der von Gott nicht mehr der Natur zurückgegeben werden kann. Der Sündenberg steigt und steigt, bis die Endkatastrophe zur Großen Reinigung ansetzen muss. Allein vergeblich, sie kann nur den Spreu vom Weizen trennen. Das Böse ist nur kanalisier-, aber nicht entsorgbar. Ewig muss es in der streng isolierten Hölle unter schrecklichen Foltern leiden.

Hier zeigt sich die wesenhafte Überlegenheit des natürlichen Systems über das übernatürliche. Die Natur nimmt alles zurück und verwandelt alles per ewiger Wiederkehr des Gleichen in das Neue, das identisch ist mit dem Alten.

Dem übernatürlichen System fehlt jegliche Kraft, aus dem Alten das neue Alte zu machen. Es kann sich nicht regenerieren. Ihm fehlt die Kompetenz zur Wiedergeburt. Das „Wieder“ muss in der übernatürlichen Religion gestrichen werden. Die übernatürliche Wiedergeburt besteht darin, die alte Natur zu vernichten, um einen neuen Himmel und eine neue Erde an ihre Stelle zu setzen.

Würden die Parteien im griechisch-kosmischen Sinn sagen, sie erneuern sich, um die alten Parteien zu bleiben, wäre alles paletti. Tun sie aber nicht. Ihr Neues ist der Feind des Alten. Sie verraten das Alte im Namen des Neuen. Geben aber nicht zu, dass sie ihren ursprünglichen Zielen untreu geworden sind. Im Bilde zu reden, sie sind zum Russischlernen übergegangen, indem sie behaupten, Französisch zu pauken.

Kann eine Partei nicht hinzulernen? Unbedingt, wie jeder Mensch. Wenn Lernen zum Ergebnis kommt, dass die ursprünglichen Ziele falsch waren, muss man klipp und klar erklären: Stopp, wir sind zu neuen Erkenntnissen gelangt, die alten Ziele werden gestrichen. Dann können ihre alten Programme geschreddert werden. Durch Versuch und Irrtum haben sie ihre alten Ziele überprüft und falsifiziert, ab jetzt gelten neue Ziele.

Doch was machen die Parteien? Sie revidieren und korrigieren nichts – und behaupten dennoch, sie hätten sich erneuert. Kennen wir das System inzwischen? Es ist das Deutungssystem der Theologen, die ständig jedem Zeitgeist hinterherhecheln – ohne ihre unfehlbare Heilige Schrift unmissverständlich zu falsifizieren. Stattdessen schichten sie Deutungsleichen auf Deutungsleichen und errichten groteske Pyramiden aus abgelegten Thesen, die sie schön kühl halten, um sie in veränderten Zeiten wieder zu beleben, als wäre nichts geschehen.

Die Parteien imitieren bewusstseinslos die Strategie der Gottesmänner, indem sie ständig Neuigkeiten anbringen, ohne zu klären, ob das Alte noch gilt oder ob es widerrufen wurde. Sie wollen sich erneuern, indem sie kein Jota dazugelernt haben. Stets ist das angeblich Neue das angeblich Alte. Und wenn sich dabei die Balken biegen.

Demokratie kann man nicht erneuern, indem man sie durch ein monströses Wirtschaftssystem abschafft. Man kann das Recht nicht erneuern, indem man es fremden Sonderrechten unterwirft und behauptet, es sei gleich geblieben. Man kann die öffentliche Debatte nicht erneuern, indem man sie dem Ungeist einer debatten-allergischen Vernunftfeindschaft ausliefert.

Merkel weiß nicht, was sie tut. Gauland behauptet es zu wissen, obgleich er genausowenig weiß.

Niemand ist perfekt, doch durch Lernen können wir uns der Vollendung nähern. Doch nicht, wenn wir Christen sind. Um dem Vernichtungsurteil des Herrn Recht zu geben, müssen wir penetrant beweisen, dass wir zu nichts fähig sind. Zur Annäherung an die Vollkommenheit schon gar nicht.

Das ist der Grund, warum Burke die abstrakte Vollkommenheit als Ziel des menschlichen Handelns ablehnt. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich gebeugten Hauptes repetieren muss: Wir sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, oder mit Selbstbewusstsein sagen darf: langsam, aber sicher lernen wir aus unseren Fehlern und nähern uns dem Ziel – einer friedlichen Menschheit.

Der Gläubige muss alle rationalen Ziele auf Erden dementieren. Alle Fähigkeiten und Kompetenzen, auf die er stolz ist und die er sich nicht ausreden lassen darf, sind Sünden wider das sola gratia, sola fide und sola scriptura (allein durch Gnade, Glauben und Schrift).

Um ihr Scheitern zu verleugnen, sind die Parteien nicht imstande, den Verrat an ihren ursprünglichen Zielen zu bekennen. Stattdessen schwurbeln sie von ständiger Erneuerung, die alles beim Alten lässt. Diese religiös erzwungene Bankrotthaltung verhindert jedes rationale Hinzulernen in Versuch und Irrtum.

Es versteht sich von selbst, dass diese rationale Lernunfähigkeit die ganze Moderne auszeichnet. Die Gegenwart korrigiert sich nicht, bekennt ihre Fehler nicht, was im Jargon heißt: wir schauen nicht zurück, wir blicken nach vorn in die Zukunft. Fehler kann man nur in der Vergangenheit begehen. Also müsste man sich mit der Vergangenheit beschäftigen und sie nicht verleugnen.

Als die Deutschen noch taten, als ob sie sich mit den politischen Sünden des Dritten Reiches beschäftigten, hörte man ununterbrochen: das Geheimnis der Versöhnung ist die Erinnerung. Was man nicht erarbeitet hat durch Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, steht unter Wiederholungszwang.

Alles dahin. Des Vergangenen erinnern ist inzwischen zum Verrat an der Zukunft geworden, die stets jungfräulich am Punkte Null der Geschichte beginnen muss.

Gauland ist nicht nur ein diffuser Konservativer, er hat auch keine Hemmungen, zur Verletzung des kodifizierten Rechts aufzurufen.

 

Immer mehr häufen sich die Stimmen aus den Eliteschichten, die der Demokratie und dem Recht einen gelangweilten und snobistischen Tritt geben. Unbeteiligt schauen die Gazetten zu und „nehmen nicht ernst, was sie sehen und lesen.“ So Jörg Sundermeier in der TAZ.

Sundermeier hat noch Drastischeres zu bieten als einen Gauland, nämlich einen Künstler, der sich ständig mit Hakenkreuzen und Nazi-Emblemen garniert. In einer Frankfurter Ausstellung hatte er das Porträt Hitlers an die Wand geklebt, darunter das Wort „Vater“ geschrieben. Ein Kunstkritiker schreibt, Meese hasse die Demokratie und verehre den Faschismus: „doch das mache ihn nicht zum Nazi.“

Iwo, wer wird denn so was denken! Auch Martin Mosebach und Botho Strauß würden aus ihrer demokratiefeindlichen Gesinnung keinen Hehl machen – und jeder hielte das nur für eine extravagante Pose.

Sundermeier fragt zu Recht, was der Kulturbetrachter mit solch anstößig klingenden Sätzen mache. Antwort: „Er will Bedeutung in sie hineinhubern, das Offensichtliche aber nicht sehen.“

Just so begann vor 80 Jahren das Verhängnis in Deutschland. Jeder sah es, niemand wollte es gesehen haben.

Wenn deutsche Schulkinder nicht mehr unterscheiden können zwischen Demokratie und Diktatur: von welchen Erwachsenen müssen sie es gelernt haben?