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Donnerstag, 06. September 2012 – Empathie

Hello, Freunde der Versöhnung,

die Frage der Beschneidung wird nicht zur Versöhnung zwischen religiösen und nichtreligiösen Juden führen. Säkulare Juden werden sich erneut der religiösen Mehrheit ihres Volkes unterordnen müssen. Im Schatten des Holocaust wollen sie der Welt nicht das Bild eines gespaltenen Judentums bieten.

Viele israelische Juden würden ihre Kinder nicht beschneiden, wenn sie innerlich frei wären, ihrer Gesinnung zu folgen. Aus Angst vor mangelnder Loyalität mit ihrem Volk, den Opfern der deutschen Bluttaten, schrecken sie zurück, das Bild der Einheit zu zerbrechen und fügen sich dem Druck der Mehrheit.

Experten haben schnell einen Begriff zur Hand und nennen diese Haltung „kulturelle Identität“, im Unterschied zur „nationalen oder religiösen Identität“. Der Begriff Identität führt in die Irre. Die Einheit ist eine vom Gruppendruck erzwungene, keine freiwillige und selbstbestimmte.

Das loyale Verhalten der andersdenkenden Minderheit verdeckt die wachsende Kluft zwischen gläubigen und ungläubigen Juden. Durch gemeinsam erlittenes Schicksal fühlen sie sich vereint, durch das aufkommende Problem der Religion fühlen sie sich getrennt.

Im Zweifelsfall müssen sie vor der Welt das Bild der Einheit bieten, weshalb sie die klare Beantwortung der Frage vermeiden: Rasse – oder Religion? Rasse darf es nicht sein – zumal in Israel der religiöse Rassismus sich immer mehr

durchsetzt –, Religion kann‘s für Nichtgläubige auch nicht sein.

Weil sie mit der inhumanen Politik Israels nicht identifiziert werden wollen, verstecken immer mehr amerikanische Juden ihre rassisch-religiöse Zugehörigkeit, sagt Judith Butler. Weil sie das Bild der nationalen Geschlossenheit nicht zerbrechen wollen, lassen säkulare Juden in Israel ihre Kinder noch immer beschneiden.

Die Frage der Beschneidung wird vermutlich nicht zur Versöhnung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen führen, obwohl der Konflikt das Potential hätte, über das Verhältnis von Religion und Rechtsstaat nachzudenken.

Die politische Staatsraison wird sich juristisch niederschlagen und die Beschneidung mit gewissen Kompromissen bei der medizinischen Betäubung gestatten.

Um den Anschein eines muslimisch-jüdischen Sondergesetzes zu vermeiden, wird es eine allgemeine Erlaubnis zur Beschneidung geben, meint der Strafrechtler Merkel. Auch jene Eltern werden dann ihre minderjährigen Knaben beschneiden dürfen, die keine religiösen, sondern ästhetische oder sonstige Gründe ins Feld führen.

Das Grundrecht der Unverletzlichkeit wird für Kinder nicht mehr gelten. Würde man juristischer Logik folgen, könnten selbst Befürworter der weiblichen Beschneidung sich demnächst auf ein deutsches Gesetz berufen.

Dabei geht es gar nicht um eine Konfrontation zwischen „Deutschen“ und „Juden“, sondern um eine Konfrontation zwischen Glauben und demokratischer Vernunft. Demokratische Vernunft ist allgemeine Vernunft, die allgemeine Gesetze hervorbringt. Deshalb der Grundsatz: vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich.

Die drei Monotheismen Judentum, Christentum und der Islam sind auf Privilegien und Sonderrechten ihrer Erwählten aufgebaut. Sonderrechte und allgemeines Recht schließen sich aus.

In heftigen Kämpfen der Neuzeit wurden christliche Kirchen vom Geist der Aufklärung zur Aufgabe ihrer Sonderrechte gezwungen. Was nicht kompatibel war mit allgemeinem vernünftigem Recht, musste ad acta gelegt werden. Das war der Geist des Laizismus, der weltlichen Demokratie.

Nach der Aufklärung im ausgehenden 18. Jahrhundert benötigten christliche Kirchen noch etwa 200 Jahre, bis sie huldvoll geneigt waren, Menschenrechte und demokratische Gesetze zu akzeptieren – die sie heute gar erfunden haben wollen.

Das jüdische Volk hat in Israel einen jungen Staat und als Staat diese Kämpfe zwischen dem Geist der Allgemeinheit und dem der Besonderheit noch nicht so weit durchgeführt, dass man von einem gesicherten säkularen Laizismus in Israel sprechen könnte. Im Gegenteil, der Ungeist der Ultrareligiösen erobert das Land.

Westliche Juden in Israel – besonders aus Deutschland – sind frappiert und tief enttäuscht über diese Entwicklung. Dachten sie doch, dass diese Gefahr längst überwunden sei, zumal sie in Deutschland selbst an vorderer Stelle dabei waren, den religiösen Geist unters Joch der allgemeinen Gesetze zu zwingen.

Die hochaufgeklärten Ashkenasim rechneten nicht mit dem Fanatismus ihrer religiös zurückgebliebenen Landesleute aus dem Osten Europas und den nordafrikanischen Staaten – den Sephardim –, die heute die Majorität im Lande Israel bilden und die Religion gegen den Geist der Säkularen unterstützen.

Hier liegt eine deutliche Parallele zur amerikanischen Entwicklung vor. Die Gründerväter der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung waren aufgeklärte Bewunderer der athenischen Polis, die im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte durch unendliche religiöse Einwanderungswellen an die Seite gedrängt wurden zugunsten des Neuen Kanaan, das die Christen aus dem alten Europa mit Gottes Hilfe gefunden haben wollten.

Die Beschneidungsfrage ist ein Konflikt zwischen Vernunft und Glaube, der eigentlich dem 18. und 19. Jahrhundert angehört und heute gar nicht mehr „zeitgemäß“ ist. Hätten die Deutschen durch ihre Verbrechen die Uhr nicht in die düstere Epoche der Religionskriege zurückgedreht, wäre der Konflikt um die Beschneidung längst ausgestanden. Das aus Deutschland stammende Reformjudentum hätte sich problemlos in Deutschland durchgesetzt und das blutige Ritual zu einer geistigen Beschneidung humanisiert, wie etwa Michael Wolffsohn es in einem eindringlichen WELT-Artikel forderte.

Dass es hierbei um einen Konflikt zwischen Vernunft und Glaube geht, wird von deutschen, zunehmend religiöser werdenden Intellektuellen und Medienschreibern vehement geleugnet. Sie wollen ihren Glauben an die deutsche Synthese aus Vernunft und Offenbarung nicht verlieren. Also benutzen sie die „Zufälligkeit“ des jüdisch-deutschen Streits, um die Sache ihres – zumeist larvierten Glaubens – mit Hilfe der Antisemitismus-Keule zum Schweigen zu bringen.

Alle, die nicht ihrer „philosemitischen“ Meinung sind, sind böse Antisemiten. So unentwegt Christian Bommarius von der BZ, der seinen juristischen Sachverstand als sacrificium intellectus auf dem Altar der korrekten politischen Meinung opfert, indem er blindwütig alle Einwände gegen seine Position unter Antisemitismus-Verdacht stellt. Auf Sachargumente einzugehen, fällt ihm im Furor seiner Rechtgläubigkeit nicht im Traume ein.

Man stelle sich eine Sekunde lang vor, die Beschneidung würde nicht von Juden gefordert und durchgeführt werden, sondern allein von Muslimen aus Hinteranatolien. Die Empörung hierzulande wäre grenzenlos.

Es ist allein das unaufgeräumte schlechte Gewissen der Deutschen, das seine Wiedergutmachens-Absichten unter Beweis stellen will, indem es die „Gegner der Juden“ mit korrektem philosemitischem Gelärme niederschreit. Die Absichten der Schuldbewussten sind gut, ihre Methoden der Realisierung weniger.

Durch blinde Gefügigkeit und devote Kritiklosigkeit wird keine Schuld abgetragen. Die forcierte Loyalität der überidentischen Philosemiten gilt gar nicht den Juden, sondern den religiösen Juden und dient hinterrücks den Interessen ihrer eigenen Religion. Und der Dämpfung eines unverjährbaren Schuldgefühls, das seine verdrängten Qualen durch missverstandene Loyalität besänftigen will.

Es tut sich was in den Katakomben der modernen Welt, wir nähern uns einem gewaltigen Umbruch der Zeiten. Es knirscht und gärt in den Abgründen der bisherigen Geschichte. Die gewaltigen, selbst hergestellten apokalyptischen Gefahren veranlassen immer mehr Zeitgenossen zur Frage: Menschheit, woher und wohin?

Wir müssen uns ändern, sonst werden wir von einer Natur, die unsere Machenschaften nicht länger erträgt, zur Unkenntlichkeit verändert, planiert, ja, von der Platte gefegt. Es geht nicht um Pipifax, um Eurogedöns und Fiskal-Petitessen.

Es wird Zeit, dass die Menschheit sich auf die Couch legt zu einer grundsätzlichen Anamnese. Welche unglückliche Kindheit hat sie an den Rand des Abgrunds gebracht? Auf welchen Säulen ruhen ihre menschlichen Qualitäten, auf welchen ihre rasende Kopflosigkeit?

Um vor der eigenen Tür zu beginnen: auf wie vielen Pfeilern ruht Europa? Der alte Kontinent ist nicht durch den Heiligen Geist allein geprägt. Sondern durch den unheiligen der griechischen Aufklärungsphilosophie. Beide Faktoren zerfleischen sich seit 2000 Jahren in inniger Hassliebe. Zumeist in trügerischer Scheinsynthese, gelegentlich in offener Feldschlacht.

Thomas von Aquin und Hegel waren die Oberhäupter einer falschen Harmonie; die Aufklärungsepochen öffneten zwischendurch die Fenster und sorgten für frische Luft. Momentan werden der lutherische Hegel und der katholische Thomas reaktiviert, um der unverträglichen Konfrontation von „Natur“ und „Offenbarung“ aus dem Weg zu gehen. Friede, Friede, Friede und den Menschen ein Wohlgefallen, das Abendland ist eine monolithische Einheit und wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

In Wirklichkeit kämpft eine religiös gesteuerte Naturfeindschafts- und Welteroberungs-Politik gegen die leise Stimme einer kosmos- und menschenfreundlichen Vernunft um Sein oder Nichtsein.

Das selbsterfüllende eschatologische Moment der Gegenwart wird am liebsten von jenen niedergemacht, die nichts unterlassen, um selbst mit einer bewussten oder verleugneten Endzeitreligion die Welt an den Abgrund zu bringen.

Keine Maya-Kalender, keine Heils- und Unheilsgeschichten sind die Urheber des finalen Unheils, es ist der Mensch, der seinen eigenen Bankrott verfolgt und verschärft, dabei alles Ungemach höheren Mächten in die Schuhe schieben will.

Franz Walter hat Recht, wenn er den Blick in die tieferen Eingeweiden der Menschengeschichte lenken will – was ihm aber nur ahndungsweise gelingt.

Der Beschneidungskonflikt nun zeigt an einem repräsentativen Symptom, wo die Reise hingehen könnte: in den Urstreit zwischen Glaube und Vernunft.

Dazu muss man nicht in die Zukunft schauen – was selbst Propheten und Zukunftsforschern misslingt –, man müsste nur die unbewältigten Probleme der Gegenwart und Vergangenheit wahrnehmen und in die Zukunft hochrechnen. Was nicht durchgearbeitet ist, steht unter Wiederholungszwang, sagt Freud.

Wir haben nur eine einzige Chance, die Zukunft zu gewinnen, wenn wir unsere Vergangenheit erinnernd durchdringen. Das ist die Chance des jetzigen Konflikts, der uns den Weg zeigen könnte, wenn wir denn einen Weg sehen wollten.

Das in Hass und Liebe eintrainierte jüdisch-deutsche Tandem ist noch am ehesten geeignet, die Tiefengefahren der Zukunft aufzudecken, weil es intuitiv den wahren Kern des Umbruchs spürt, wenngleich nicht auf den Begriff bringen kann: den Konflikt zwischen dem Geist demokratischer Allgemeinheit und dem Sonderrecht exklusiver Religionen.

Die Welt wird nur zu einer friedlichen Menschheit zusammenwachsen, wenn alles Sondergetue und alle angemaßten Machtprivilegien abgetan werden und dem Grundsatz weichen: Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit.

Wie geht’s mit dem aktuellen Beschneidungskonflikt weiter?

Rafael Seligmann weiß es. Auf sein Geheiß, seine Bitte, wird der Bundestag das neue Gesetz beschließen, das Seligmann in der BILD unterschriftsreif vorgelegt hat. Sein Blick ist voller Hoffnung. Das deutsch-jüdische Zusammenleben habe nämlich viele Gemeinsamkeiten. Darunter den beschnittenen Jesus und eine gemeinsame 1700-jährige Geschichte.

Hat Seligmann vergessen, wie oft im Namen des beschnittenen Messias die Christen über die Juden hergefallen sind? Hat er vergessen, wie viele jüdische Leichen in 1700 Jahren von deutschen Brüdern im Herrn produziert wurden?

Seligmanns verzweifelte Deutschen-Pädagogik gleicht eher johanneischen Schreckensvisionen, die sich nicht deutlich artikulieren dürfen, als pragmatisch nüchternen Szenarien.

Das bewegende Hauptereignis des Tages ist die resigniert-aggressive Mutterklage und –schelte von Charlotte Knobloch über alle deutschen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft, Psychologie oder Politik, die sie dazu gebracht hätten, zum ersten Mal in ihrem Leben in Nachkriegsdeutschland konkret über Auswanderung nachzudenken.

„Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will.“ Weil sie aber das Land noch immer liebe, brauche sie neue Zeichen der Bestätigung und des Vertrauens. „Ich verlange keine Sonderrechte. Sie sind im Positiven so wenig förderlich wie im Negativen. Aber ich fordere Respekt und ein Mindestmaß an Empathie. Das sollte doch drin sein für Juden in Deutschland.“

(Charlotte Knobloch in der SZ: Wollt ihr uns Juden noch?)

Doch: Knobloch verlangt Sonderrechte. Wär‘s anders, gäbe es gar keine Probleme. Respekt und Empathie sind die Grundlagen des sozialen Lebens, ohne die wir einpacken könnten.

Werte Frau Knobloch, solche Tugenden sind reziprok und beruhen auf Gegenseitigkeit, sonst müssten die einen nur „liefern“ und die andern würden nur „beliefert“ werden. Solche Herr-Knecht-Beziehungen erträgt keine Gemeinschaft.

Ihr eigener Beitrag in der SZ, Frau Knobloch, lässt von ihren Gegnern nichts übrig. Aus Ihrem Blickwinkel müssten das lauter Scharlatane und möglicherweise verkappte Antisemiten sein, die mit der Debatte nichts anderes bezwecken, als alle Juden aus dem Land zu jagen. Das ist abenteuerlich und kann nicht ihr Ernst sein.

Haben Sie nicht die Überlegungen ihres jüdischen Mitbruders Wolffsohn zur Kenntnis genommen, der die Drohungen mit Auswandern für abwegig und die deutsche Demokratie für eine bewährte und verlässliche hält?

Sie wollen stellvertretend für die Juden reden. Doch damit negieren Sie alle jüdischen Stimmen in Israel und Amerika, die anderer Meinung sind als Sie. Zudem, wer andere für unerträgliche Besserwisser hält, ohne sich mit einem einzigen Argument abzugeben, präsentiert sich selbst im Status der Immunität und Unwiderlegbarkeit.

Ihre Worte sind voller Bitterkeit, aber einer Bitterkeit, die Andersdenkenden nicht die geringste Chance lässt, ihre Bedenken und Widersprüche zu äußern. Sie machen tabula rasa, ohne zu erkennen zu geben, dass Sie im Affekt die Regeln demokratischer Debatten noch anerkennen.

Ihre Bitterkeit ist unter Ihren Voraussetzungen nachvollziehbar, da Sie Judesein mit Beschnittensein in eins setzen. Dabei wissen Sie selbst, dass dies nicht zutrifft, dass jeder Mensch automatisch Jude ist, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum jüdischen Glauben konvertiert ist.

Laut Wolffsohn sind selbst talmudische Gelehrte nicht einstimmig der Meinung, dass das Beschnittensein existentiell zur jüdischen Identität gehört. Viele russische Juden in Israel sind bis heute nicht beschnitten und werden doch nicht „exkommuniziert“.

Wolffsohn verweist zudem auf die ökumenische Möglichkeit, das blutige Ritual zur geistigen Beschneidung fortzuentwickeln, die der Jude Paulus im Neuen Testament als Zeichen eines erneuerten jüdischen Glaubens bezeichnet, das zugleich Zeichen eines wahren christlichen Glaubens wäre.

Diese Perspektiven nehmen Sie nicht einmal zur Kenntnis. Ihre Worte sind voller Herabsetzung und keine Einladung zum Streitgespräch. Sie höhnen über selbsternannte Retter der Säkularität, als ob letztere nicht permanent in Gefahr wäre. Über jene, die das Ritual auf Legalität überprüften, als sei es nicht ständige Pflicht jedes Demokraten, die gesetzlichen Grundlagen der Gesellschaft zu überprüfen.

Zuerst sollten die verbrecherischen Deutschen zur Demokratie erzogen werden. Und nun, da sie ihre Lektion einigermaßen gelernt haben, sollen sie dafür verhöhnt werden? Dieses doppelbödige Verhalten nennt man in der Psychologie Double Bind. Tu etwas, doch wehe, du tust es.

Mitnichten wird ihre Religion „in den Dreck gezogen“, wie Sie behaupten, wenn man dieselbe kritisch unter die Lupe nimmt. Zumal es nur um jene Elemente geht, die mit allgemeinen Rechten unvereinbar sind. Es ist das Recht, ja die unbedingte Pflicht von Medizinern und anderen Fachleuten, vor den Folgen eines nicht unerheblichen körperlichen Eingriffs zu warnen, wenn es dafür statistisch verwertbare Belege gibt. Und die gibt es.

Warum sind immer weniger amerikanische Männer bereit, ihre unfreiwillige Beschneidung für richtig zu halten? Warum klagen immer mehr über psychosexuelle Langzeitfolgen? Was für Sie die „Entfernung eines winzigen Hautstücks ist“, war für Freud die Hauptquelle des Antisemitismus. Sie sind furchtbar in Ihrem heiligen Zorn, aber nicht fair.

Sie haben viel Leid in Ihrem Leben erfahren und jeder vernünftige Mensch wird das zu ehren und respektieren wissen. Doch ohne es zu bemerken, spielen Sie die typische Mutter, die ihr Leid benutzt, um ihre Forderungen und Meinungen durch Erregen schlechten Gewissens bei den „Kindern“ bedingungslos durchzusetzen.

Auch Mütter sind nicht unfehlbar und haben sich an die Regeln eines gleichberechtigten Streitgesprächs zu halten. Sonst tun sie genau das, was sie den patriarchalischen Despoten vorwerfen: sie werden unduldsam und – halten zu Gnaden – empathielos.

Frau Knobloch, Ihr Wort gilt etwas in dieser Republik. Warum nutzen sie es nicht, um zu einer umfassenden Debatte in der Gesellschaft aufzurufen?

Alle Menschen haben es nötig, ihre demokratischen Kompetenzen zu überprüfen und überprüfen zu lassen: Deutsche, Juden, Europäer, Amerikaner, Hindus, Buddhisten und Konfuzianer. Hier gibt es weder Fehlerlose noch solche, die man nicht ernst nehmen müsste. Diesem Geschäft widmete Sokrates sein ganzes Leben.

Das deutsch-jüdische Zusammenleben wird seine Belastbarkeit nicht in Machtsprüchen, Erpressungen – und ängstlich-feigem Wegducken erweisen. Sondern in einem „machtfreien Diskurs“, wo jeder seine Gedanken und Gefühle ebenso frei äußern kann, wie er die Gedanken und Gefühle Andersdenkender aufmerksam anzuhören hat.

Bleiben Sie in diesem Land, Frau Knobloch. Sie werden gebraucht wie jeder Jude, Muslim oder sonstige Mensch, der kritisch-solidarisch in dieser Gesellschaft leben will. Ohne Ihre Erinnerungen werden Deutsche kaum verstehen, welch schreckliche Untaten ihre Väter und Mütter, oder sagen wir besser, Großväter und Großmütter, begangen haben.

Sagen Sie Deutschen und Juden frank und frei Ihre Meinung. Doch lassen Sie sich auch umgekehrt die Meinungen jener sagen, die Ihnen beim besten Willen nicht zustimmen können.

Kritik ist ein Zeichen des Vertrauens, nicht des Hasses und der Ablehnung.