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Donnerstag, 06. Dezember 2012 – Israel braucht eine zweite Chance

Hello, Freunde selbstbestimmter Arbeit,

er heißt Boes, für BILD ist er bös. Er lebt von Hartz4, lehnt jede angebotene Arbeit als „Zwangsarbeit“ ab, tritt für das BGE ein, arbeitet ehrenamtlich für die Gesellschaft. „Ich sorge für das Wohl der Republik.“ Hartz4 hält er für verfassungswidrig, weil es gegen die Menschenwürde verstoße. Eine Gesellschaft, die nur auf Erwerbsarbeit setze, schaufele sich ihr eigenes Grab.

Mit Abiturnote 3,5 hat‘s bei ihm nur zum nutzlosen Philosophiestudium gereicht, das man wegen Systemgefährdung allmählich vom Verfassungsschutz überwachen lassen sollte. Bei Maischberger „lümmelt er sich im Schneidersitz und verbreitet seine dummdreisten Thesen.“, so BILD, eine Postille, die man wegen Verbreitung dummdreister Parolen vom Verfassungsschutz überwachen lassen sollte.

 

In der Israelfrage ist die judenfeindlich-philosemitische Springerpresse auf der ganzen Linie implodiert und sucht sich Ersatzobjekte, um von ihrem vollständigen Desaster abzulenken. Axel Springer war kein Freund Israels, sondern ein von jesuanischen Selbsterlösungsphantasien angeheiterter Galan, der Israel liebte, um sich selbst zu lieben und sich mit Ablass-Werken die ewige Seligkeit zu kaufen. Auch er, wie Luther, lebte von der Hoffnung, seine vorbildliche Golgathamanie werde die Juden und Israelis zu Hauf zum wahren christlichen Glauben überlaufen lassen. Was aus

Luthers Judenliebe geworden ist, wissen wir – leider noch immer nicht. Also auf ein Neues.

Was das Thema Israel betrifft, leben wir medial in Nord-Korea. Schlimmer kann eine Desinformationswüste nicht sein. Jetzt, nach dem weltweiten Israel-GAU, werden von unseren philosemitischen Kanälen und Gazetten so ganz nebenbei völlig andere Fakten und Meinungen unter die Weste des Publikums gejubelt, dass die Weste es hoffentlich nicht bemerke.

Die ARD bringt ein Interview mit der israelisch-deutschen Zeithistorikerin Tamar Amar-Dahl, das die bislang verbreitete Faktenlage auf den Kopf stellt. Gesendet wurde das Interview selbstredend nicht. Die Historikerin spricht Tacheles und stellt die deutsch-jüdischen Legenden auf den Kopf. ZDF-Kleber verneigt sich vor jeder Legende, wenn sie tot ist.

Gab es da vor Jahren nicht eine putzige Überwachungs-Utopie, in der das Wahrheitsministerium nach Belieben die historischen Fakten auf den Kopf stellen, die Bibliotheken säubern und umorientieren konnte? Soweit haben wir‘s gebracht, mit flächendeckender Unterstützung der stramm stehenden Polit- und Medieneliten. Die Rede von der unabhängigen Vierten Macht ist eine Legende, vor der Kleber sich verneinen sollte – damit sie endlich das Zeitliche segne.

Die Historikerin sagt in umwerfend schlichten Worten: das ganze Friedensgerede Netanjahus und seiner Regierung sei nichts als Show, alle westlichen Verantwortlichen wüssten es und würden die Komparsen in der Illuminaten-Show mimen.

Amar-Dahl: „Das zionistische Israel versteht sich so, dass das Land Israel dem jüdischen Volk gehört und damit auch dem jüdischen Staat. Das ist seine grundsätzliche ideologische Überzeugung. Deswegen hält es Regierungschef Benjamin Netanjahu auch für ein Gebot, diese Gebiete weiter jüdisch zu besiedeln. Eine Zwei-Staaten-Lösung steht gar nicht auf der Tagesordnung. Das ist eine Sache, die Israel nicht nur nicht will, sondern auch bekämpft. Und diese Politik kann Deutschland wahrscheinlich auf Dauer nicht unterstützen.“

Doch Netanjahu steht beileibe nicht allein, ganz Israel – bis auf die üblichen Selbsthasser – steht hinter seiner rechtsradikal-faschistischen Regierung und wird ihn alternativlos wieder wählen.

Amar-Dahl: „Israel kann es nicht. Es ist auch im Land kein Thema. Auch nicht im Wahlkampf. Auch die Opposition spricht nicht davon. Netanjahu redet zwar mit dem Ausland über eine Zwei-Staaten-Lösung, aber nur aufgrund des außenpolitischen Drucks.“

Israel führe die Welt an der Nase herum, so die Befragte. Und die Welt ließe sich an der Nase herumführen.

Ob Deutschland zu unkritisch mit Israel sei?

Amar-Dahl: Die Deutschen haben ein Problem mit der Art ihrer Kritik an Israel. Sie fühlen sich nicht frei, über die politische Lage zu reden.“

Also müsse man von einer Hinhaltetaktik reden?

Amar-Dahl: „Ja. Einen Palästinenserstaat wird Israel unter dieser Regierung nie unterstützen. Dafür müsste schon ein komplett neues politisches Denken aufkommen.“ Israel werde sich mit dieser Haltung international immer mehr isolieren.

Und wie lange ginge das Spektakel schon?

„Die israelischen Regierungen merken schon seit 45 Jahren, dass sie ein Problem haben. Aber sie glauben fest daran, dass ihre Politik alternativlos ist.“

(Interview auf tagesschau.de von Thomas Reinhold mit Tamar Amar-Dahl)

Gibt es wirklich eine Bewegung im Land – der Jugend etwa? – die Anlass zur Hoffnung wäre? Nein. Die revoltierende Jugend vor einem Jahr hat gegen soziale Missstände protestiert, die palästinensische Frage wurde mit Absicht außen vor gelassen.

Das war nicht nur Taktik, das war auch Überzeugung und Lebensgefühl. Selbst die jungen Israelis finden nicht die Kraft, der zunehmenden Religionitis zu widerstehen, sie verdrängen, wie beim Tanz auf dem Vulkan, das leidige Problem mit den lästigen Nachbarn beim Partymachen.

Die entscheidende Frage wurde auch in diesem Interview nicht angeschnitten. Warum kann Israel nichts ändern? Weil die Ultrafrommen es geschafft haben, die Gesamtatmosphäre des Landes zu bestimmen. Die Erwählten wollen das biblische Land in alttestamentarischen Grenzen und die Theokratie der Priester und Propheten wieder auferstehen lassen. Jeder Kompromiss mit Gojim wäre Blasphemie an Jahwes Willen.

Die konkrete Innen- und Außenpolitik des Heiligen Landes wird längst von fundamentalistischen Biblizisten dominiert. Israel ist zu einem jüdischen Ajatollastaat verkommen. Eine fehlende radikale Aufklärungsbewegung hat schon seit den Anfängen des Staates die Weichen falsch gestellt. Ben Gurion wollte mit Zuckerstückchen die Ultras an die Kette legen, innerhalb von zwei Generationen haben sie den – anfänglich abgelehnten – Staat an die himmlische Kette gelegt.

Welch hübsche deutsch-jüdische Parallele: Deutschland schafft sich ab, sagt Herr Sarrazin und Israel schafft sich ab, sagt Herr Gorenberg.

Wie Recht Freud hatte, als er von der Identität des Opfers mit dem Aggressor sprach! Da gab es mal die Wissenschaft der Viktimologie, die die unbewussten Zusammenhänge zwischen Tätern und Opfern untersucht. Das hätte die Wissenschaft sein müssen, um die deutsch-jüdischen Beziehungen unter die Lupe zu nehmen. Seltsam nur, dass man von dieser politisch unerwünschten Wissenschaft seit Jahrzehnten nichts mehr hört.

Das Opfer verinnerliche unbewusst die Persönlichkeitseigenschaften des Aggressors und mache sie zu Anteilen ihres eigenen Selbst, so eine Definition. Wer geschlagen wurde, wird seine Kinder wieder schlagen, um sich zu entlasten. So werden Opfer wider Willen zu Tätern, in die umgekehrte Richtung geht’s nur im Sado-Maso-Studio, wo die Herren mit der Peitsche selbst gepeitscht werden.

Der sanfte Gründer des Christentums hatte persönlich zur Peitsche gegriffen, um die Juden aus dem Tempel zu jagen. „Und er machte eine Geissel aus Stricken und trieb alle aus dem Tempel hinaus … und sprach: Machet nicht das Haus meines Vaters zu einem Kaufhause!“ ( Neues Testament > Johannes 2,15 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/2/“>Joh. 2,15 ff)

Die Geschichte hat oft genug bewiesen, dass die Unterdrückten und Gepeitschten, endlich freigekommen, selbst zu Unterdrückern und Despoten werden. Die Revolutionen fressen ihre Kinder. Wer sich gepeinigt und gedemütigt fühlte, wird seinerseits peinigen und demütigen. So die Deutschen, die Russen, die Mao-Chinesen, so alle Knechte in der Welt, die zu Herren wurden.

Wer die begeisternden Berichte über die zionistischen Gründerjahre liest, weiß, dass die hochbelesenen zionistischen Gründerväter von der Gefahr der Umkehrung wussten und sich trainierten, in den ersten Kriegen die Gegner nicht als hassenswerte Feinde zu betrachten. Offenbar scheint es ihnen in hohem Maße gelungen zu sein.

Doch dann machten sie einen verhängnisvollen Fehler, als sie die Ultrabiblizisten – die den laizistischen Staat anfänglich kategorisch abgelehnt hatten – mit Privilegien ausstatteten, die von den Jahwisten genutzt wurden, um die Alltagsatmosphäre systematisch zu unterwandern und – je länger die Probleme mit den Nachbarn anhielten und wuchsen – den laizistischen, ja gottlosen Geist des modernen Israel ins Gegenteil zu verkehren.

Deutschland ist gerade dabei, denselben Fehler zu begehen, der säkularen Gründeratmosphäre nachträglich den Gott einzuhauchen und demokratische Grundprinzipien auszuhöhlen. Die Kirchen genießen Sonderrechte, über den Religionsunterricht und viele Kindergärten haben sie direkten Zugriff auf kindliche Seelen, in der Gleichberechtigung der Homosexuellen ist die CDU weich geworden, in der Beschneidungsfrage verbinden sich alle drei Erlöserreligionen, um das Alte Testament als ökumenische Scharia an die Stelle des Rechts zu setzen.

Böckenförde war nicht der erste und wichtigste, der die Demokratie ohne Gottes Beistand gefährdet sah. Unser aller bewunderter erster Aufklärer am Platz, Habermas, wollte hinter dem katholischen Böckenförde nicht zurückstehen und schlüpfte gar dem Papst in spe, damals noch Kardinal Ratzinger, unter die Soutane. Immer nach dem schizophrenen Dogma: er selbst sei religiös unmusikalisch, aber die Menge bräuchte wohl die Knute jener Religionen, die jahrhundertelang alle demokratischen Versuche mit Feuer und Höllendrohungen bekämpft hatte.

Religiöse Wiederaufrüster der ersten Jahre waren fast alle führenden Intellektuellen, die aber aus unterschiedlichen Lägern kamen. Die einen trugen noch das religiöse Mäntelchen der NS-Bewegung, das sie durch die Niederlage der Nazis für geläutert hielten. Christentum minus Hitler sollte das wiedergewonnene Urchristentum sein. So bei dem greisen Historiker Friedrich Meinecke, der eine Mischung aus Jesus und Goethe empfahl, um die verbrecherischen Deutschen in Menschen zu verwandeln.

Die anderen, die als Hitlergegner im Ausland gegen den Nazismus gekämpft hatten, empfahlen justament das Christentum – gereinigt von den Deutschen Christen – als Gründerideologie der jungen Republik. Zu ihnen gehört leider auch der vorzügliche Karl Popper, der sich jedoch – wie nicht selten bei säkularen Juden, die die christliche Agape (Nächstenliebe) der alttestamentarischen Racheideologie vorzogen – in Fragen Christentum von einer ecclesia patiens-Verklärung des Christentums in die Irre führen ließ.

In seiner Sehnsucht nach Sanftmütigkeit und einer friedlichen Menschheit erkor Popper ausgerechnet den Judenhasser Karl Barth zu seinem Gewährsmann. Im zweiten Band von „Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ preist er den führenden Kopf der Bekennenden Kirche als Gegner der lutherischen Nazitheologen, die Christus nicht in einer einmaligen Offenbarung, sondern in kontinuierlicher Offenbarung in den verschiedenen Volksgeistern erkennen wollten.

Wenn Gott der Gott der Geschichte ist, dann muss er sich auch in der Geschichte offenbaren, so die Lutheraner. Seit Hegel – den Popper hasste – tat Gott dies auch vorbildlich. In einer historischen Heilslinie aus dem Osten bis in den Westen offenbart sich Gott in zunehmender Weise, indem er sich immer eine Nation herausgreift, in der er sich besonders darstellt. Am Ende der Geschichte aber erwählt Gott die Deutschen, um den Weltgeist in unvergleichlicher Weise zur Vollendung zu bringen.

Gegen diese Vermischung aus Jenseitigem und Diesseitigem hatte Barth sich entschieden zur Wehr gesetzt. Gott ist immer der Ganz Andere, der mit menschlichen Machenschaften nichts zu tun habe.

Die Abschiebung Gottes ins Jenseits gefiel Popper, der das Göttliche unbefleckt von trügerischen Erfolgen halten wollte. Das Christentum lehre, dass der „weltliche Erfolg nicht entscheidend“ sei. Die Geschichte Jesu hätte mit machtpolitischen Erfolgen in der Geschichte nichts zu tun. Sie sei nichts anderes als „das Leiden eines Menschen.“

Barth hatte erklärt: „Christus leidet. Daher erobert er nicht. Er triumphiert nicht. Er hat keinen Erfolg. Er erreicht nichts als seine Kreuzigung. Dasselbe kann man von seiner Beziehung zu seinem Volke und zu seinen Schülern sagen.“

Popper bezieht sich auch auf Kierkegaard und dessen Ablehnung alles hegelianischen Heilstriumphalismus. Entscheidend sei nur, so der Däne, was „einige Fischer der Welt gegeben haben.“

Dieser einfache und schlichte, alle Macht ablehnende Messias war die Leitfigur aller kritischen Intellektuellen. Von Popper über Bloch bis Dutschke, der es sogar für richtig hielt, als Marxist auf der Kanzel einer Berliner Kirche den sanften und ohnmächtigen Zimmermannssohn zu predigen, für Dutschke das Vorbild seines revolutionären Eintretens für Gerechtigkeit.

Natürlich wusste Popper, dass die christliche Botschaft eine außerordentliche Erfolgsideologie war. Doch den Hinweis auf diesen Erfolg wollte Popper nicht als Beweis für die Richtigkeit des Glaubens gelten lassen. Denn das sei eine höchst gefährliche Methode der Verteidigung. „Ihre stillschweigende Annahme, dass der weltliche Erfolg der Kirche als ein Argument zugunsten des Christentums betrachtet werden kann, offenbart einen Mangel an Glauben.“

Die Urchristen hätten einen solchen Erfolg als Bestätigung abgelehnt. „Sie glaubten, dass das Gewissen die Macht und nicht die Macht das Gewissen zu beurteilen habe.“ Man könnte fast umgekehrt sagen, Erfolglosigkeit war für Popper das Zeichen wahren Christentums.

Hier zeigt sich der absolute Widerspruch zwischen Popper und seinem großen Freund Hayek, einem der Gründerväter des heutigen Neoliberalismus, der gerade im unwiderstehlichen, wenn auch nicht nachvollziehbaren Erfolg des Marktes den evolutionären Beweis der Wahrheit sah. Hayek entstammte dem Habsburger Adel und wollte sich mit lächerlichen Erfolglosigkeiten nicht abgeben. Seine Losung: der Markt besiegt alles, war eine ökonomische Fortbildung der Kreuzzügler: Deus lo volt, Gott will es, und was er will, das führt er aus.

Leider hat Popper seinen Freund von seiner abweichenden Meinung nie überzeugen können, vermutlich hat er’s nicht mal probiert.

Für Popper war Christentum nichts als tätige Hilfe und Unterstützung der Schwachen. Christus lehre uns, „dass die einzige Weise, in der wir unseren Glauben zeigen können, darin besteht, dass wir den Bedürftigen praktische Hilfe zukommen lassen.“ Das sei auch dann möglich, wenn man eine gewisse „Verachtung für weltliche Erfolge im Sinne von Macht, Ruhm und Reichtum“ zeige. Popper wollte lieber Märtyrer sein – als Propagandist einer Kirche der Inquisition.

Es ist außerordentlich aufregend, in den beiden Freunden Popper und Hayek zwei völlig unterschiedliche Auslegungen des Christentums in persönlicher Verbundenheit wirksam zu sehen. Für Hayek war der unbegrenzte Markt die Offenbarung seines katholischen Erfolgsgottes in der Wirtschaft. Der einzige Unterschied zu den Naziprotestanten war das Medium der Offenbarung. Bei den Nazis zeigt sich Gottes Majestät in Kriegen und Kriegsgeschrei (und der Vernichtung der jüdischen Gottesmörder), bei Hayek im Erfolg der Wirtschaft und des persönlichen Reicherwerdens. Die Mittel sind verschieden, das Gottesprinzip fortschreitender Offenbarung in der Geschichte ist das gleiche.

Was hat das alles mit dem deutsch-jüdischen Problem zu tun? Obgleich Popper ein säkularer Jude war, spricht aus seiner existentiellen Aversion gegen allen Erfolg das uralte jüdische Prinzip des Leidens. Hören wir seine gewaltige Stelle gegen den Erfolg:

„Und in der Tat – unsere intellektuelle und sittliche Erziehung ist korrupt. Sie ist verdorben durch die Bewunderung der Brillanz, durch die Bewunderung der Weise, in der Dinge gesagt werden, die an die Stelle einer kritischen Betrachtung des Gesagten (und des Getanen) tritt. Sie ist verdorben durch die romantische Idee des Glanzes auf der Bühne der Geschichte, auf der wir alle Schauspieler sind. Wir sind dazu erzogen, bei allen unseren Handlungen die Galerie im Auge zu behalten.“

Ist Israel ein jüdischer Staat? Ist die jüdische Religion eine Religion des Erfolgs – oder der Leiden? Oder des Erfolgs durch Leiden?

Nach 2000 Jahren der Staatenlosigkeit, oft schlimmster Verfolgungen, Pogromen und Leiden wollten die jungen Zionisten einen Schlussstrich unter das Kapitel des leidenden Juden ziehen. Der Sabre – die Kaktusfeige – war das Symbol des in Palästina geborenen wehrhaften Juden, der in keiner Hinsicht an den ewig leidenden, passiven, ja feigen Juden der Diaspora erinnern sollte.

Der humane Krieger war das Ich-Ideal des israelischen homo novus. Wäre es dem jungen, mit so viel Emphase startenden Staat gelungen, dieses Ich-Ideal des sachlich-wehrhaften, aber human gesonnenen und friedensliebenden Sabre seinen Einwanderern zu vermitteln, gäbe es heute kein Nahost-Problem mehr.

Die kühnen Pioniere, die glaubten, alle Religion überwunden zu haben, unterschätzten zwei wesentliche Gefahren: a) die Macht der Psychologie. Die unbewusste Identität des Opfers mit dem Aggressor macht Opfer leicht zu Aggressoren, wenn man die eigene Vergangenheit nicht gründlich aufarbeitet. Und b) die Macht der Religion. Wer jahrtausendelang unter der transzendenten Knute stand, kann sie sich in ein, zwei Generationen nicht aus den Rippen schwitzen.

Es genügt nicht, sich ein weltliches Über-Ich zuzulegen, ohne das archaisch verfestigte religiöse Es durch radikale Religionskritik aufzubrechen und davonzuschwemmen.

Das waren die beiden wunden Stellen der jungen Gesellschaft, die von den lautlos einströmenden Ultras als Eingangspforten in die israelische Gesellschaft benutzt wurden, um mit Hilfe des religiösen Es das labile, weltliche Über-Ich zum Einsturz zu bringen. Aus Furcht, wieder ins Stadium des passiven und wehrlosen Judentums zurückzufallen, wollten die Sabres lieber die Sünde des Gegenteils begehen und die Rolle der hartherzigen und mitleidlosen Täter spielen.

Wie lange dauerte die Staatenwerdung anderer Nationen, die nicht das Schicksal des ewig wandernden Juden durchstehen mussten? In fünfzig Jahren bedrohter Demokratie – die Bedrohung kam eher aus dem Binnenbereich der Gesellschaft als von schwachen Nachbarn – kann man unmöglich ein stabiles Gemeinwesen installieren.

Nehmen wir nur die Kibbuzim, die sozialistischen Genossenschaften, mit denen die Zionisten das kapitalistische System zur Strecke bringen wollten und für die sie in aller Welt bewundert wurden. Heute sind sie wie vom Erdboden verschluckt. Israel ist eines der kapitalistischsten Länder der Welt geworden. Mit allen Schattenseiten des Ausbeutersystems.

War das nicht der endgültige Bankrott der sozialistischen Zionisten? War das nicht ein Verlust der primären Identität der Pioniere, der bis heute nicht verdaut worden ist?

Innerhalb weniger Dekaden ist die auf Gerechtigkeit eingestellte Gesellschaft ins Gegenteil gekippt. Bei solch immensen Kippbewegungen kann sich keine psychische Stabilität bilden. Man fühlt sich unglaubwürdig, verbunden mit dem Gefühl, immer mehr in moralische Unglaubwürdigkeit zu schliddern, bis es einem schließlich egal ist, ob man auch noch zum waffenstarrenden Besatzer wird.

Selbst bei kritischen Israelis hört man bewundernde Worte für das israelische Wirtschaftswunder und die technische Innovationspotenz. Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der ökologischen Verträglichkeit des immensen Wohlstands (für wenige) werden unzureichend thematisiert.

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s mitnichten ungeniert. Das schlechte Gewissen der totalen Veränderung des jüdischen Ich-Ideals paarte sich mit der intoleranten Psychologie religiöser Auserwähltheit: die Welt war schon immer gegen uns. Aus dieser projektiven Abwehr wurde ein selbstgerechtes Wahrheitskriterium. Ist also die Welt gegen uns, müssen wir richtig liegen.

Das ist das Geheimnis der Verbundenheit Netanjahus mit der Gesellschaft, die einen Finsterling als Rädelsführer benötigt, um von eigenen Schwächen abzulenken.

Was ist ein Jude? Der Angehörige einer Rasse, einer Religion? Ein weiteres Minenfeld unklarer Identitätsbildung. Wer kein Rassist sein will, darf sich der Religion nicht verschließen – und wenn er noch so weltlich gesonnen sein will. Man will der bösen Welt keine jüdischen Stereotype liefern und watet bereits knietief in Anti-Stereotypen, die jederzeit in verhasste uralte Selbstbilder zurückkippen können.

So schwankt das israelische Selbstbild zwischen charismatischem Kosmopolitismus und verschlossen-verbittertem homo militaris. Man fühlt sich den amerikanischen Biblizisten-Freunden verpflichtet, die täglich ungeduldiger darauf warten, dass Israel sich geschlossen zu Christus bekennt, damit der Messias erscheinen kann. Auch hier sind die besten Freunde und Philosemiten verkappte Antisemiten.

Auch die außerordentliche Macht über Amerika ist kein Grund zum Jubel und wird von besonnenen Israelis mit großer Skepsis betrachtet. Ist doch diese Weltpotenz der Grund, alle Klischees über den machtgierigen Juden zu bestätigen.

Wohin man schaut: überall psychische Kollektivwunden, Extreme des Verhaltens und maximale Schwankungen der eigenen Wir-Bildung. Nirgendwo eine in sich ruhende Mitte der vielen unverträglichen Seelen in der jüdischen Brust. Dazu die vielen ethnischen Unterschiede zwischen äthiopischen, russischen und anderen Einwanderern.

Hier strikte Ablehnung der christlichen Religion wie bei den Ultras, dort eine Idealisierung des Bergpredigers als pazifistischer Friedensstifter. Nicht nur bei Popper, gegenwärtig auch bei Wolffsohn, der von einer unio mystica zwischen erwachendem Judentum und geläutertem Papsttum träumt. Für Wolffsohn sind die Diasporajuden die eigentlich friedfertigen Christen – und die christlichen Nationen althebräische Militärberserker.

Auch hier endlose Verstrickungen und Rivalitäten um den Titel der Frömmsten der Frommen. Das Geflecht aus tödlicher Rivalität und paradiesischen Endzeitverbrüderungen ist die sprudelnde Quelle von nie endenden Enttäuschungen und Hassgefühlen.

Netanjahus Politik ist eine religiöse Ultrapolitik in Vollendung. Hier spricht kein machiavellistischer Verstand mehr – der pragmatisch noch ansprechbar wäre –, hier spricht das Alte Testament in wortwörtlicher Auslegung. Uralte heilige Schriften bestimmen die Brennpunkte moderner Weltpolitik. Unfehlbare und gewalttätige Religionen – soweit das Auge reicht.

Der Ultrakurs wird das leidenserprobte Volk in den Abgrund führen. Israel braucht eine zweite Chance zur radikalen Neubesinnung.