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Donnerstag, 02. Februar 2012 – Curios

Hello, Freunde des Gilgamesch,

seit wann gibt’s Wirtschaft, seit wann den Kapitalismus? Die zweite Frage ist fast zur Glaubensfrage geworden.

Nach Max Weber gibt’s den Kapitalismus seit dem holländisch-englischen Calvinismus, andere sehen ihn schon in der italienischen Frührenaissance als Wirkung des Zusammenpralls Europas mit der damals überlegenen arabischen Hochkultur nach der Zeit der Kreuzzüge.

Liest man etwa die „Kulturgeschichte des Hellenismus“ von Carl Schneider, natürlich die „Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt“ von Rostovzeff, kann man sich nur wundern, wie modern die Welt der ptolemäischen Nachfolger Alexanders ausschaute: Geld, Banken, Kredit, hochdifferenzierte Arbeitsteilung, Globalisierung der damals bekannten Welt in regem Handel und Wandel, die immer dominanter werdende Rolle der Wirtschaft im sorgenreichen täglichen Leben, das Auseinanderklaffen der Stände in Reiche und Arme, der Luxus, die Frage nach der Gerechtigkeit.

Dann das wunderbare Buch von Robert von Pöhlmann, die „Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt“ von 1893, der in glasklarer und meinungsstarker Sprache vom „Kommunismus der Urzeit“ über Demokratie, Athen, Platon, die vielen Utopien, Sparta, das Urchristentum bis zum Verfall des Römerreiches alle Aspekte des Ökonomischen in einer Weise erhellt, dass man nur staunen kann, in welchem Maß

die Geschichte der Antike von sozialen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen und Aufständen geradezu erbebte.

Deutsche Graecomanen mit sicheren Professorengehältern, die „ihren“ Homer zu rezitieren pflegten, kümmerten sich nicht um schnöde Aspekte des Überlebens, Ernährens, Armbleibens und Reichwerdens. Für sie war die Antike das Reich ästhetischer Herzenserhebungen, in denen es zwar heldenhaften Schlachtenlärm gab, aber nicht die banausische Frage, was Sokrates bei Xenophon einem Manne rät, wie er wirtschaftlich auf einen grünen Zweig kommen könne.

Solche Bücher können heute nicht mehr geschrieben werden, weil heutige Experten das Wort Kapitalismus noch nicht gehört haben und also die Frage nicht beantworten können, ob es einen solchen – und wenn überhaupt, weshalb und wieso – schon früher gegeben habe.

Wie christliche Gottesgelehrte erstaunt tun über die These, dass neutestamentlicher Antisemitismus etwas mit dem modernen zu tun haben könne, so tun Altphilologen erstaunt, wenn man in der Welt des Schönen, Logischen und Tragischen die Antwort finden wollte, ob entweder der Sozialismus das humanste System für autonome Menschen sei oder nicht doch die Monopolwirtschaft des Marktes.

Ein deutscher Ordinarius, zu seinem Fachgebiet befragt, beginnt obligatorisch mit einem kleinen verwirrenden Feuerwerk, dass sein Thema viel zu komplex sei, um handhabbare „Ergebnisse“ zu präsentieren. Alles ist so überirdisch undurchdringlich geworden, dass Laien nur staunend, fasziniert und – ratlos-deprimiert zurückbleiben. Die Fachleute natürlich auch, doch sie verstecken sich hinter gelehrter Dummstellerei, die sie als docta ignorantia zelebrieren. Vorhang zu und alle Fragen offen.

Wer nicht daran zweifelt, ob es ihn selber gibt, zieht schon den Totalitarismusverdacht auf sich. Der notwendige methodische Zweifel bei der Wahrheitssuche wurde zum totalen Zweifel aufgeblasen, ob man denn suchen dürfe, was es gar nicht geben kann. Die Wahrheit, dass es keine gibt, wäre ja auch eine, die sich als solche nicht zu erkennen gibt.

Der unfehlbare Wahrheitsterror der abendländischen Religion hat die Menschen derart zermürbt und in störrische Reaktionshaltung getrieben, dass sie inzwischen in ihrer Leugnung der Wahrheit selbst unfehlbar geworden sind.

Das Ergebnis dieser als Überoffenheit und Übertoleranz daherkommenden Feigheit und Meinungslosigkeit können wir gegenwärtig immer deutlicher erkennen. Historische Wahrheiten werden per Gesetz der Debatte entzogen. Wegen politischer Dummbacken wird die Ergebnisoffenheit bei immer mehr Fragen kassiert und dem Knüppel des Verfassungsschutzes übergeben.

Willy Brandt, Lichtgestalt vieler 68er Studenten, hat mit seinem Radikalenerlass das Rückgrat einer ganzen Generation gebrochen. Die Braven, Angepassten schlüpften in den Staatsdienst und wurden autoritär-angepasste Pauker, die andern fühlten ihr Leben verpfuscht und gingen als Verbitterte und Bestrafte in Wirtschaft, Politik und Medien.

Spätestens als die Posaunen von Jericho die Mauer zwischen DDR und BRD in Trümmer legten und den Sozialismus ultimativ als Teufelsgeburt entlarvten, verbannten sie ihre meterlangen Marxschinken endgültig aus den Ikearegalen. Der Neoliberalismus fand Tür und Tor weit geöffnet, als er wie ein Fremder aus London und Chicago im Brausen und Wehen des Geistes über Deutschland niederkam.

Man versteht nichts von Demokratie, wenn man ihre antike Entstehung nicht als jahrhundertelange, von allen Schichten umkämpfte beste Antwort auf die Kämpfe zwischen Ökonomie und Demokratie, Gleichheit und wirtschaftlicher Potenz des Einzelnen versteht, der sich als Teil einer freien Polis definiert, bei deren Schicksal er ein selbstbewusstes Wörtchen mitreden will.

Geht man weiter zurück, kann man beim poetischen Landwirt Hesiod nachlesen, wie schon er die Macht der Kreditgeber verflucht, die überschuldeten und betrogenen Bauern Grund, Boden und Haus wegschnappen.

Eins sollte klar sein: kaum war das Matriarchat abgemurkst und kaum begann die Hochkultur der Männer ihren Siegeszug über Mensch, Weib und Natur, waren auch schon Wirtschaft, Tausch und Geld erfunden, um arbeits- und hierarchiegeteilte Klassen und Stände durch einen künstlichen Blutkreislauf zu verbinden, damit die vertikale Konstruktion nicht von vorneherein auseinander bricht.

Notdürftig sollte Geld jene Untertanen verbinden, die in staatenlosen Zeiten noch durch Gefühle der Gleichheit miteinander verbunden waren. Geld wurde zum minderwertigen Emotionsersatz. Hab ich Geld, kann ich mir Gefühle kaufen, schrieb einer der Väter des Neoliberalismus, Ludwig von Mises: ich bin unabhängig von Menschen, wenn ich mir Sex, Liebe und Fürsorglichkeit als Dienstleistungen erwerben kann.

Das ist im Kern der Freiheitsbegriff des Liberalismus: frei von lästigen Menschen, denen ich meine Gefühle offenbaren, mit denen ich mich um das beste Leben raufen müsste, von deren Zuneigung ich viel zu abhängig bin, um mich als Master of Universe zu fühlen.

Die Ursünde beginnt nicht beim harmlosen Tauschen von Dingen, sondern beim Tauschen von gefühlsbefreitem Geld, das als Ersatz für menschliche Beziehungen eingeführt wurde. Das ist keine Erfindung der Neuzeit, sondern ein notwendiges Ingrediens jeder Kultur, die sich Hoch-Kultur nennt, damit jeder Trottel sofort ihre Überlegenheit über niedere Gefühlskulturen erkennt.

In Hochkulturen hat sich männlicher Geist weibliche Natur in missionarischer Stellung untertan gemacht. Was vorher in überschaubaren Gruppen und Clans die Währung der Zuneigung und Sympathie war, wurde in unüberschaubaren Staatsmonstergesellschaften zur Währung der Währung: zu Kohle, Diridari, Bimbes und Mammon.

Von Anbeginn in asymmetrischer Weise, sodass die priesterlich-politischen Doppelköpfe der neuen Staatsmoloche am besten mit dem ganz besonderen Saft versorgt wurden. Weniger wichtige Organe konnten schon mal wegen mangelnder Durchblutung fahl werden und sozial verträglich abfallen.

Kapitalismus ist nicht zu verstehen ohne männliche Hochkultur mit allen Untersektoren Religion, Staat, Philosophie, Ästhetik, Technik und Wirtschaft. Eine Wirtschaft an sich gibt es nicht. Wer den Neoliberalismus bei den Hörnern packen will, muss sowohl über seinen eigenen Wahrheitsbegriff, seine Religion, Gottlosigkeit, sein Sex- und Ernährungsleben, seine Kindererziehung nachdenken wie über sein inniges Verhältnis zu Handys und zu Totalverkabelungen beim blinden und tauben Durchhasten der lieblichen Natur.

Wer den Kapitalismus abschaffen will, muss die Hochkultur abschaffen: jenen Geist, der minderwertige Natur peu à peu abschaffen muss, um sich lebendig zu fühlen. Weil er sonst nichts fühlen darf und zu fühlen braucht, da er genügend Gefühlsmittel in Cash auf dem Konto hat.

Als die Männer Gesellschaften und Staaten als überdimensionale, anonyme Maschinen erfanden, mussten sie für geeignete Schmier- und Treibstoffe sorgen, damit die Räder und Rädchen ohne größeren Energieverlust ineinander greifen. Der Ausstoß dieser mechanischen Energieverbrennung ist mittlerweilen in den Äther aufgestiegen und hat bereits das Klima nachhaltig verändert.

Nun scheint es ein interessantes Buch zu geben über unsere ökonomischen Wurzeln, die weit bis Homer, dem Gilgamesch-Epos und der Bibel zurückreichen. Von keinem Deutschen, sondern dem ehemaligen Wirtschaftsberater des Vaclav Havel. Das lässt hoffen:Tomáš Sedláček: „Die Ökonomie von Gut und Böse“.

Da wir gerade bei Hochkultur und Hochmoral sind, sind wir auch schon beim Sex der moralischen Kulturalisten, der kein natürlicher sein kann, weil er keiner sein darf. Nicht der Mensch bestimmt seine Sexmoral, sondern die hochgeistige männliche Schuld- und Sündenmoral bestimmt den Sex. Was nicht verboten ist, kann keinen Spaß machen.

Verbotsfreier, unkomplizierter, von Schuld, Sühne und Rückenmarksschwund befreiter Sex ist langweiliges Fummeln auf Kindergartenniveau, sagt die strenge Oberlady der Literatur von der ZEIT, Iris Radisch in ihrer Kritik des Sex-Romans mit dem bezeichnenden Titel: „Haus der Löcher“ von Nicholson Baker. Ein Porno-Pop, „in dem keine Gebote übertreten, keine Tabus mehr gebrochen, keine Sünden mehr begangen werden und alle nur noch glücklich schnaufen, ist am Ende nur noch langweilig“. „Eigentlich schade“, dass „die Verkindergarterung der Sexualität gescheitert ist.“

Jawoll, Iris, Sex ist was für reife und erwachsene Menschen – die am besten von keinen sündigen und triebhaften Bedürfnisse mehr belästigt werden. Blöde Frage aber: gibt’s in hochkulturierten Kindergärten inzwischen Sex? Jedes ethische Publikum muss hier beginnen, unglücklich zu schnaufen. Frau Radisch verfügt über ein intaktes Notengebungssystem aus dem Geist des Paulus: es muss Sünde und Gebote geben – und Lustmolche, die scheitern müssen, wenn sie sündige Gedanken haben.

Harald Welzer, der bekannte Sozialpsychologe, ist aus seinem Unijob ausgestiegen. Ob mit Rückkehrgarantie, wissen wir nicht. Alles ist gesagt, lasst uns endlich Taten sehen, so seine Begründung.

Taten? Selbstverständlich. Doch vor der Tat das Denken, das auch eine Tat ist – wenn es zu sinnvollen Taten animiert und Denken neu beflügelt. Sollte Denken und Tun keine Einheit sein? Ist aufklärendes, zur Tat befreiendes Denken nicht selbst ein „wesentliches Tun“?

Nur wer weiß, woher er kommt, weiß, wohin er will. Denken ist der Freiheits- und Erholungsraum des Handelns. Wer schon alles zu wissen glaubt, gerät in Gefahr, ausgebrannter Aktivist zu werden.

Wir wissen schon alles in der Physik, hörte der junge Student Max Planck von seinen Professoren. Kurz danach entdeckte er die Quantensprünge im atomaren Bereich und revolutionierte die gesamte Grundlagenphysik.

Meine These lautet diametral entgegengesetzt: wir wissen so gut wie nichts über die Wurzeln unserer Hochkultur, so gut wie nichts über die anonymen Kräfte in unserem Innern, die unser Tun und Handeln aus dem Untergrund bestimmen.

Wir wollen und dürfen es nicht wissen, weil alle relevanten Faktoren in heiligen Maskierungen auftreten und uns mit jenseitigen und diesseitigen Strafen abschrecken und bedrohen. Nicht mehr mit Feuerchen und Hexenverbrennungen, sondern mit Hinausdrängen und Bedeutungslosigkeit. Hier ein politisches Beispiel mit der grünen Präsidentschaftskandidatin in Amerika in einem TAZ-Interview.

Was uns fehlt, ist keine Neu-gierde, wie Peter-André Alt in seinem FAZ-Artikel meint, sondern Alt-gierde. Ohne Gier formuliert: uns fehlt das Wissenwollen dessen, was uns seit jeher bestimmt.

Die Mär geht übers Land, das Alte sei Vergangenheit und Vergangenheit vorbei: lasst uns nach vorne blicken. Eingedenk des Satzes des Jesaja: „Gedenket nicht mehr der früheren Dinge, und des Vergangenen achtet nicht. Siehe, nun schaffe ich Neues.“ (Jesaja und das Neue Testament prägen die Moderne. Ist die Meinung der Vergangenheitsverächter nicht die, dass wir Tabula rasa seien und am Punkte Null stünden? Wir sind eine jungfräuliche weiße Leinwand, die wir ganz neu beschriften können. Siehe, das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.

Nach Popper ist die Figur der „weißen Leinwand“ ein Charakteristikum aller faschistischen Theorien im Fahrwasser Platons. Locke war Christ und seine tabula rasa die Übertragung seiner religiösen Überzeugung auf die „weltliche“ Philosophie.

Nur heidnische Sünder haben Vergangenes als drückendes Gepäck auf den Schultern. Wiedergeborene beginnen von vorne, das Alte ist für sie vergangen, unbelastet können sie sich dem Neuen zuwenden. Wer sich selbst – wie die Amerikaner, von denen es die westliche Welt übernahm – als neugeboren betrachtet, für den gibt es kein Altes mehr, das ihn prägen könnte. Hinweg mit Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Wir sind unbelastete, unbändige Titanen der Zukunft.

Gleichwohl hat der Verfasser Recht, wenn er unter Neugierde das elementare Wissenwollen und Einsichterwerben versteht.

Neugierde war von Anbeginn des Christentums die Sünde der Curiositas. Sei nicht so neugierig, sagen alle Autoritäten. Lern deine Lektion. Lernen ohne Neugierde ist Pauken, Pauken ohne Erkenntnisinteresse ist Drill. Drill und Pauken sind die hervorstechendsten Eigenschaften unserer Schulen und Universitäten.

Autonomes Erkennen war den Urchristen eine heidnische Sünde. Die Weisheit der Welt ist vor Gott eine Torheit. Was hat Jerusalem mit Athen zu tun, verwerfen Tertullian und Augustin die Begierde, etwas wissen zu wollen, was von Gott wegführt (siehe H.I. Marrou: „Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum). Nur Gott darf erkannt werden, aber nicht durch eigene Kraft, sondern durch das Wort der Offenbarung.

Die widersprüchliche und sich heftig befehdende Symbiose zwischen griechischem Wissen und christlichem Nichtwissendürfen determiniert uns bis heute. Wir sollen lernen, aber über nichts eigenständig nachdenken. Wir sollen sogar lebenslang lernen, doch gleichzeitig der Meinung sein, Menschen könnten grundsätzlich nichts aus der Geschichte lernen.

Einsicht macht selbständig und autonom: das ist Hybris vor Gott, der alle Erkenntnis für sich reklamiert. „Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen.“ (Der abendländische Kompromiss aus griechischen und christlichen Direktiven ist – die Bildung. Die Gebildeten, Gelehrten und Feuilletonisten sind sehr gebildet. Mit anderen Worten: alles ist für sie so komplex geworden, dass sie wie Faust in augustinischem Geist bekennen: da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor. Nein, das bekennen sie nicht, das fühlen und verbergen sie hinter Wortkaskaden. Drum haben sie sich dem Glauben ergeben. Sie glauben, weil es komplex und absurd ist.

Die Moderne will nicht erkennen, sondern mit Scheinerkenntnissen herrschen. Je mehr sie zu kennen glaubt, je mehr steht sie unter dem Erkenntnisverbot der Kirchenväter. Sie suchen nur noch Gott: in den Sternen, in den Genen – und im Geldtresor.