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Dienstag, 28. Februar 2012 – Polis und Familie

Hello, Freunde der Linken,

lächerlich sei die Kandidatenkür der Linken, meinte die ZEIT, mit aller Gewalt eine reputable Figur gegen den überragenden Gauck ins Feld zu führen, die niemals eine Chance hätte, gewählt zu werden.

Nicht lächerlicher als das Klumpenverhalten der anderen Parteien, sich im Vorfeldgeklüngel auf einen Ossi-Apostel zu einigen und die Wahl zur Farce zu machen.

Die euro-ermüdete Nation ficht ihre projektiven Kämpfe an ihrer Vaterfigur aus. Nach dem Verlust der Moral in der neoliberalen Sintflutphase wollen die Deutschen reumütig zur Anständigkeit zurückkehren, am besten auf urevangelischer Ebene.

Den Parteistrategen fielen nur zwei Pastoren und zwei Pastorinnen ein. Kein Intellektueller à la Schirrmacher, kein Linker à la Günter Grass, kein Rechter à la Martin Walser, kein Linkskatholik à la Geissler, kein Journalist à la Prantl, kein Psychoanalytiker wie einst Horst E. Richter, kein Sportler à la Beckenbauer, kein Künstler à la Wim Wenders, keine Vip à la Thomas Gottschalck, keine amtierenden Politiker à la Schäuble, Lammert oder Steinmeier, keine Feministin à la Schwarzer, keine Schauspielerin à la Iris Berben oder Maria Furtwängler, kein Industrieller à la Handkefreund Burda oder Öko-Milliardär Otto oder Kunstmäzen à la Wirth.

Die Teiche sind leergefischt, die Wiesn ist abgmaht, die Ich-Ideale und Vorbilder sind verschwunden. Die Nachfrage ist groß, das Angebot schmal und zweifelhaft.

Es war bereits im Jahre 1963, als

  Alexander Mitscherlich sein Buch mit dem einprägsamen Titel „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ veröffentlichte. Möglicherweise hat er damals schon gesehen und geahnt, was erst jetzt zur faktischen Realität wird. Die letzten alten Herren wie Rehhagel und Gauck müssen Fußball und Politik vor der Generation gesichtsloser laptoptragender Büro-Machiavellisten retten.

Wozu brauchen wir überdimensionierte Väter? Von symbiotischen Müttern, die ihre Sprösslinge nicht loslassen, wollen wir gar nicht reden.

Unumstrittene Vorbilder von früher waren Albert Schweitzer oder Gandhi, später Martin Luther King, Kennedy war mehr Glitzeridol als Vorbild, später Mandela, Südafrika aber weit weg, Gorbi wurde auf elitärer Ebene herumgereicht, ins kollektive Bewusstsein der Deutschen, die von ihm das geeinte Deutschland und ein friedliches Europa als Geschenk erhielten, konnte er nie eindringen. Willy Brandts und Rudi Dutschkes Strahlkraft bezogen sich nur auf eine Generation und eine bestimmte Studentenschicht.

Warum taugen Mütter nicht als Vorbilder? Weil sie a) auf die eigene Kleinfamilie reduziert und öffentlich von Vätern gemobbt werden – natürlich hat SPIEGEL-Mascolo die Frauenquote von 30% für sein Blatt als ungeeignet abgelehnt – und b) weil sie es noch nicht geschafft haben, das Freud’sche Über-Ich matriarchalisch zu besetzen und der Jugend moralische Instanz, materiellen Erfolg oder politische Bedeutsamkeit vorzuschreiben oder vorzu-gauck-eln.

Mütter haben zu wenig Gewissen und zu wenig Erfolgspflicht im Angebot, sie halten zu ihren Bälgern, selbst wenn die zu Obdachlosen oder Serienkillern mutieren. Mein Kind über alles, dann erst generelle Vorschriften und überpersönliche Kriterien.

Väter umgekehrt: die sind imstande, ihren Nachwuchs dem Spruch überdimensionierter Autoritäten und göttlicher Regeln zu opfern. Siehe Abraham und Isaac. (

Doch jetzt wird’s spannend. Wenn Jahwe trotz aller martialischen Sprüche dennoch durch die Finger schaut und ein stellvertretendes Opfer akzeptiert, dann hat er die eisenharte väterliche Konsequenz-Strategie schon verlassen und sich auf halb verweichlichte Gnade eingestellt. Denn durch Reue und gläubige Unterwerfung kann der sündige Regelverletzer und Vater-Opponent leise weinend davonkommen.

Mit anderen Worten: der strenge Gesetzesvater hat sich selbst erweicht und gnädig gestimmt, hat also seine weibliche Seite entdeckt. Aber nicht mit Hilfe einer Frau oder Mutter, sondern eines bis zum Tode gehorsamen androgynen Sohnes, der nicht nur stellvertretend die Sündenlast der Welt schultern, sondern auch die inkonsequente sentimentale Mutter ersetzen muss.

Jesus ist zwiegeschlechtlich. Der Mutter gegenüber spielt er den Macho – Weib, was hab ich mit dir zu schaffen –, dem Vater unterwirft er sich in femininer Willenlosigkeit: doch dein Wille geschehe.

Schon Jahwe hatte seine weiblichen Seiten, schwankte ständig zwischen irrationalem Erbarmen und gnadenlos-konsequentem Exekutor, der seine treulosen Kinder gluckenartig unter seinen Flügeln versammelt.

Ein Mann, ein Wort, das ist lakonischer Patriarch und Autorität; eine Frau, ein Wörterbuch, das ist wankelmütiges und schwatzhaftes Mütterchen. Wer A sagt, muss auch B sagen, das ist Mann, Vater und Deutscher. Wer A sagt, kann auch B bis Z sagen, das ist Mutter, Weib und – Deutsche?

Da scheiden sich die Geister. Margarete Mitscherlich wollte die Frauen der Nazis von aller Schuld befreien, ohne zu realisieren, dass viele deutsche Frauen den Führer mindestens so bejubelten wie ihre Männer. Es gab ein geheimes erotisches Band zwischen dem asketisch-jungfräulichen Führer – der Eva Braun mit Absicht versteckte, um seinen charismatischen Sex-Appeal nicht zu gefährden – und seinen Anhängerinnen, die ihn bejubelten wie George Clooney und als geheimen Bräutigam betrachteten wie Nonnen ihren gekreuzigten Heiland.

Allmählich sehen wir klarer im Psychoprozess des Märtyrers am Kreuze. Er hatte nie die geringste Chance, dem Vater zu Willen zu sein und dennoch ein glücklich-normales Leben zu führen. Für den Vater musste er sterben, denn er verkörperte dessen eigenen Widerspruch zwischen Gesetz und Gnade, aus dem ER keinen Ausweg gefunden hatte und stellvertretend seinen Sohn über die Klinge springen ließ, damit ER sich als He-Man und Übervater auf allerhöchster omnipotenter Ebene etablieren konnte: seine weichliche, mütterliche Seite hatte er an seinen Sohn ausgelagert.

Auch für seine sündigen Geschwister, die er heilen und erlösen wollte, musste Jesus sterben, denn das Gesetz des strengen Vaters musste er erfüllen. Da biss keine Maus den Faden ab: das formale Verfahren musste eingehalten, dem Buchstaben des Gesetzes Genüge getan werden.

Das Über-Ich blieb unfehlbar-intakt, doch mit der Fußnote versehen, wer den rigiden Anforderungen des gestrengen Patriarchen nicht gerecht wird, muss um Gnade winseln und sein selbständiges Ich aufgeben. Dann könnte er eventuell vielleicht möglicherweise in die nächste Runde der Ausscheidungsspiele kommen.

Für diesen unmöglichen Kompromiss zwischen kategorischem Gesetz und gnädiger Inkonsequenz musste Jesus seinen Kopf hinhalten. Jahwe hätte seine unmenschliche Brutalität mit Hilfe eines Weibes aufweichen und mildern können. Doch nein, Maria wurde zur biologischen Leihmutter degradiert, der Vater griff sich den weichmütigen Sohn, der seine eigene, ungeliebte Mütterlichkeit darstellen sollte.

Die Frau spielt bis heute nur gnädig-geduldete Ersatzrollen im maskulinen Golgatha-Drama. Ihre eigene Rolle hat sie noch nicht gefunden, wird sie auch nie finden, denn in diesem monomanischen Männerstück ist keine für sie vorgesehen.

Da wundert sie sich, dass sie in der modernen Welt nicht die Bedeutung erhält, die ihr schon seit Evas Zeiten zustünde, ohne zu bemerken, dass die säkulare Moderne auch nur das Stück „heilige Familie“ auf dem Programm stehen hat, wenn auch in ganz tollen zweckrationalen Hollywood-Kostümen.

Sollten die Frauen sich weiterhin weigern, das Drama des begabten, harmoniesüchtigen, friedensstiftenden und utopieversessenen Sohnes zu verstehen und verstehend aufzulösen, werden sie weiter durchs Schlüsselloch in den Männersalon linsen, um gelegentlich brave Petitionen durchzuschieben, damit die schreckhaften Übermänner keinen Schaden an ihrer Seele erlitten und das BIP nicht nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen werde.

Jesus wollte die völlig zerstrittene Urfamilie miteinander versöhnen. Den Kampf von jedem gegen jeden ertrug er nicht. Er bot sich als Moderator und Vermittler an, um den Vater mit der Mutter, die Eltern mit den Kindern zu versöhnen.

Dass sein Versöhnungswille im Opfer seiner eigenen Person bestehen sollte, ahnte er vielleicht, doch wissen konnte er’s nicht. Je mehr er bemerkte, was er aufs Spiel setzen musste, um seine Mission durchzuführen, je mehr erschrak er über sein Geschick: Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.

Doch die Weichheit des Vaters hatte ihre Grenze erreicht. Er fürchtete totalen Gesichtsverlust, wenn er seine ursprünglichen Forderungen noch mehr reduziert hätte. Nach außen weiterhin knallhart; nur für die Seinen, die sich ihm ergaben, konnte er das Opfer des Sohnes als Ersatztribut akzeptieren.

Damit war dem Gesetz und der Gnade Genüge getan. Auf Kosten des Sohnes, der als Ersatzopfer dienen musste, auf Kosten der Mutter, die zur bloßen Schwangerschaftsträgerin degradiert wurde, auf Kosten der Geschwister, die zwischen unerbittlichem Vater, zur Magd erniedrigten Mutter und geschändetem Großen Bruder hin und her irrten.

Die Famillje – wie Kohl zu sagen pflegt – ist tatsächlich das Fundament des Abendlandes, aber nicht als befriedete Familie, die ein freudiges Leben miteinander führen kann. Sondern als eine bis aufs Messer zerstrittene Heilige Familie, in der jeder gegen jeden wüten muss, um zu seiner selbstsüchtigen Seligkeit zu gelangen. (Hier sehen wir eine Seite des Kapitalismus, die zumeist im Dunklen bleibt: der Wettbewerb geht nicht nur um Gut und Geld, sondern auch um die beste, harmonischste, stabilste Familie.

Schauen wir auf die familiäre Präsentation amerikanischer Politiker – die sich inzwischen auch bei uns einzunisten beginnt: Gesine, könntest du mal aufstehen, führt der Pastor seine Tochter der Öffentlichkeit vor.

Im amerikanischen Wahlkampf sehen wir das bewundernd zu Ihm aufsehende, bedingungslos treue Weib, die strammen Söhne, die lieblichen Töchter, wahrhaft, eine komplette Noahfamilie, bestens geeignet zum Überstehen der nächsten Sintflut oder Weltkatastrophe.

Ohne vorzeigbare Familie brauchst du gar nicht erst anzutreten. Deine Familie, das bist du. Zeig erst, was du zuhause zustande gebracht hast, dann schauen wir mal, ob wir dir unser Land anvertrauen können. Wer nicht im Kleinsten treu ist, ist es auch nicht im Weißen Haus.

Die Göttin Schere trennt die Gesellschaften nicht nur an der Nahtlinie Mammon, sondern am Projekt Familie. Die unteren Schichten werden durch Abhängigkeit vom industriellen Moloch immer mehr atomisiert. Selbst in der Mittelschicht wächst rapide der Anteil der Fernbeziehungen und der Flickwerkfamilien.

Je mehr Versagensangst und Erfolgsdruck auf der kleinsten und untersten Zelle aufliegt, je mehr wird die Zelle perforiert. Ist die innerste Zelle zerrüttet, haben die Sprösslinge der Zelle immer weniger Chancen, ein stolzes Selbstbewusstsein zu entwickeln, um die Gesellschaft von ihrem gehandicapten Startpunkt aus aufzurollen.

Die Zahl der Singlemütter, die keinen psychischen Vater mehr für das Kind ihrer Liebe oder des Leichtsinns finden, steigt unerbittlich.

Ganz anders die in gesicherten Verhältnissen lebende Familie der oberen Schichten. Nicht nur bei von der Leyen: die Zahl der Kinder in den besten Bürger- und Besitzfamilien steigt ständig. Neulich lasen wir von einer mächtigen Fondverwalterin mit nicht weniger als neun Kids.

Wer etwas werden will, braucht eine Familiendynastie. Kein Wunder, dass die Bushs, Kennedys & Co seit langem die mächtigste Nation der Welt dominieren.

Wenn der Superpatriarch, nach langer Führungsarbeit und fröhlichem Bordellbesuch im Kreise seiner Männerhorde, nach Hause kommt, will er in leuchtende, dankbare Kinderaugen blicken, die ihn als Träger und Erhalter der Dynastie bewundern und lieben.

Dank ihrer besseren Ausstattung mit Geld, Bildung und Durchsetzungsvermögen haben es die Oberschichtsfamilien geschafft, die wahre befriedete heilige Familie herzustellen. Genau das, woran ihr Heiland und Erlöser scheiterte. Insofern haben sie den Christus überwunden.

Doch nur zum Schein. Schaut man genauer hin, merkt man, dass vor allem Geld und Macht die Sippe zusammenhalten. Denn im Innern der gotterwählten Familie lauert noch immer der verhängnisvolle Bazillus des individuellen Heilsegoismus, das Gesetz Jesu und Darwins, dass jeder nur für sich selber sorgen kann.

Doch solche Kleinigkeiten werden zugedeckt und kompensiert durch die gemeinsame Ablehnung und den bedingungslosen Kampf gegen alle Neidhammel und Versager aus den Gesindelschichten.

Während Unterschichten schwer an ihrem moralischen und wirtschaftlichen Versagen leiden, sind Eliteschichten zu Herren der Moral geworden, derer sie sich nach Belieben bedienen. Was moralisch ist oder nicht, bestimmen sie noch immer selbst. Den Unteren wird Spießer- und Malochermoral gepredigt, sie selbst befinden sich bereits in seligen, antinomischen Gefilden.

Das Gegenmodell zur Familie als Urzelle des Daseins ist die griechische Polis. Ab der babylonischen Gefangenschaft waren die Juden fast durchweg von anderen Nationen besetzt und hatten keinen selbständigen Staat. Schon aus Notwehrgründen mussten sie sich in ihre Familien als Trutzburgen der Solidarität und des Glaubens zurückziehen. Zentrum des Lebens konnte nur eine nach außen abgeschlossene, intakte Familie sein. Diese familiäre Verbundenheit wahrten sie auch in den langen Zeiten ihrer Diaspora unter den Völkern der Welt.

Zentrum des griechischen Lebens hingegen war die Polis, nicht die Familie, die völlig im Schatten des öffentlichen Lebens stand.

Sokrates war ein miserabler Familienmensch und Vater – auf den ersten Blick. Denn er „vernachlässigte“ seine Xanthippe, die zu Unrecht den Ruf eines zänkischen Weibs erhielt, denn in der Tat: ein selbstbewusster Bürger, der dem Verfall der Demokratie Einhalt gebieten wollte, der über Sein und Nichtsein im Rausch des philosophischen Eros nachdachte, konnte kein Familienmensch in unserem heutigen Sinne sein. Als er den Giftbecher trank, wollte er nur seine Schüler um sich haben.

Bekanntlich begann die Emanzipation der Frau erst bei zeitgenössischen Sophisten. Die Praxis war noch völlig rückständig, die Frau hatte die Öffentlichkeit zu meiden und blieb ans Haus gebunden. Der Mann, der sich als höherwertiges Wesen betrachtete, suchte sein Alter Ego unter Männern und Jünglingen.

Erst in höheren Kreisen, bei Perikles – der mit der ionischen Philosophin Aspasia zusammenlebte – und in philosophischen Zirkeln begann die Aufholjagd der Frau. Im Gastmahl wird Diotima als Liebeslehrerein des Sokrates genannt, in Epikurs Garten konnte eine Prostituierte zur Vorsteherin der Denkerclubs werden.

Wenn man sich klar macht, dass Wohl und Wehe aller Einzelnen und Familien vom Wohl der Polis abhing, lag die Reihenfolge der Pflichten fest: erst musste für die Polis gesorgt werden als Voraussetzung für das Wohl aller Menschen, die von der athenischen Demokratie abhingen.

Das war auch die Rechtfertigung des Sokrates: wenn ich mich um die Polis sorge, sorge ich gleichzeitig für das Wohlergehen meiner Familie.

Die Minderwertigkeit der Frau und der Familie blieben gleichwohl ein Geburtsfehler der griechischen Demokratie, die aber in ihrem Schoße alle Elemente entwickelt hatte, um die Fehler langfristig zu korrigieren.

Heute leben wir noch immer im unausgesprochenen Zwiespalt zwischen der isolierten Familie, die allem Öffentlichen misstraut und sich von ihm abriegelt – und dem wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz-Revier, das intakte Familien zunehmend pulverisiert.

Keine intakte Demokratie kann die Animosität zwischen privater und öffentlicher Sphäre als naturwüchsiges Schicksal anerkennen.

Dass die hegende, solidarische Privatmoral der Familie in völligem Widerspruch steht zum bissigen Rivalitätsklima in den Machtbezirken der Ökonomie und der Politik, wird heute als objektives Naturgesetz betrachtet und legitimiert.

Selbst bei weltoffenen jungen Familien wird das Betreuen der Kinder als unpolitische, minderwertige Angelegenheit bewertet, verglichen mit einem obligaten, fremdbestimmten Abrackern in Lohnabhängigkeit.  

Dass uns kollektive Vorbilder abhanden kommen, muss kein Verfallssymptom sein. Im Gegenteil, auf dem Weg zur gleichberechtigten Gesellschaft brauchen wir jeden Einzelnen, der seine Meinung angstfrei sagen kann – ohne dass er an der Hand einer Vater- oder Mutterfigur laufen muss.

Die Kämpfe um die Nummer Eins unserer Republik könnten dazu beitragen, uns von überhöhten Leitfiguren unabhängig zu machen, indem jedes Individuum sich an sich selbst orientiert und an seinen mündigen Mitbürgern, mit denen er übereinstimmen und leidenschaftlich streiten kann.

Während die vier größten Parteien sich auf eine überhöhte Vaterfigur geeinigt haben, schlagen die Linken eine in Frankreich lebende streitbare Mutterfigur vor, die von Götz Aly mit hanebüchenen Argumenten deklassiert wird.

Wer öffentlich gegen Nazi-Phänomene ankämpft, muss noch lange nicht vor seiner privaten Verstricktheit die Flucht ergreifen. Und selbst wenn: jeder Beitrag zur Bekämpfung des Verbrechens ist willkommen und notwendig, ganz gleich, welcher Motivation sein Engagement entspringt.

Wer auch immer der nächste Bundespräsident sein wird, er wird nicht das Über-Ich einer erwachsenen Gesellschaft sein, weder ihr Gewissen, noch ihre moralische Richtschnur. Sondern nur auf Zeit gewählter Repräsentant des Souveräns oder von Volkes Gnaden. Das Volk wird ihn zu prüfen und zu bewerten haben, wie es sich selbst zu überprüfen und zu bewerten hat.

Fazit: Mythen sind nicht sinnlos, schon gar nicht kollektive Mythen, die mit Lohn und Strafe, Zuckerbrot und Peitsche jahrtausendelang die Völker bis ins Mark ihrer Seele prägten.

Wir müssen lernen, sie zu entschlüsseln, damit wir erfahren, wer wir sind. Religionskritik muss das Objekt ihrer Analyse besser verstehen als es sich selbst. Anders werden wir uns von den Fesseln des Mythos nicht befreien können.