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Dienstag, 27. November 2012 – Kita und Popper

Hello, Freunde der Kinder,

fast die Hälfte der Deutschen lehnt es ab, Kinder unter drei Jahren in eine Krippe zu schicken. Zurzeit haben Eltern die Wahl, das Kind a) den ganzen Tag auf dem Schoß sitzen zu haben oder b) in eine nicht vorhandene, personell unterbesetzte, religiös indoktrinierende oder sonstwie exzellente Kita abzuschieben. Diese Wahl zwischen Pest und Cholera wird von den Medien verbreitet.

Unter dem Druck der Industrie wissen Politeliten genau, was Eltern brauchen – vor allem keine oder abgeschobene Kinder. Vor kurzem zeugte man Kinder für den Führer, heute zeugt man für den Profit der wettbewerbsfähigen Industrie. Früher erhielten fruchtbare Mütter das Mutterkreuz, heute sollte die IHK Elternkreuze am Band vergeben.

Eltern brauchen übrigens auch die Betreuung durch ihre Kinder, damit sie beginnen, von ihrem hohen Erwachsenenross runter zu kommen und ihre verfestigten Neurosen und Vorurteile unter dem Blickwinkel eines unbefangenen Neubeginns kritisch zu beäugen. Wenn sie nicht in der Lage sind, die Welt mit den Augen ihrer Kinder erneut sehen zu lernen, sollte man ihnen die Berechtigung absprechen, sich Eltern zu nennen.

Kinder sind die intelligentesten Wesen des Menschengeschlechts, denn sie glauben, noch nicht alles zu wissen, aber alles lernen zu können. Das Lernen haben die Erwachsenen abgeschafft, sie machen nur noch Berufsfortbildungen.

Eltern ertragen keine unbefangene Intelligenz, das erinnert sie schmerzlich daran, dass sie selbst einmal Kinder waren und zu Erwachsenen gedrillt wurden. Diese Demütigung

ertragen sie nur, wenn es ihnen gelingt, sie an ihre Kinder weiterzugeben.

Was sind das für Misstrauenserklärungen an Mütter, dass sie sich mit ihren Kindern zu Hause eingraben würden? Leider ist die Wahrnehmung nicht ganz falsch, die allgemeine Atomisierung der Gesellschaft macht vor Müttern nicht Halt. Dass man sich als Eltern seine soziale Großfamilie zusammenstoppeln muss, sagt man den werdenden Eltern nicht. Da es keine biologischen Großfamilien mehr gibt, müssen wache Eltern sich um neue Wahlverwandtschaften kümmern.

Die Gesellschaft zwingt die Frau, asoziale Mutter zu sein oder eine sozial scheinende asoziale Lohnabhängige. Wirkliche Beziehungen oder Freundschaften entstehen am Arbeitsplatz nicht. Zu Hause ist man allein asozial, am Arbeitsplatz zu mehreren. Wenn einer vom Glück mit seinen Kindern schwärmt, werden wir misstrauisch. Waren NS-Schergen nicht gute Väter?

Hier der Bericht von Stefan Schmitt, einem glücklichen Vater und ZEIT-Redakteur, der von den meisten Mitmenschen scheel angeguckt wurde, weil er als Mann sich um seine Drillinge gekümmert hat.

In der Beschneidungsdebatte ist man – in gewissen Kreisen – immerhin so weit, schreiende und sich wehrende Knaben vom religiösen Brauch solange zu entbinden, bis sie sich selber entscheiden können.

In der Betreuungsdebatte bleiben die Kinder bloße Verfügungsmasse. Die Erwachsenen wissen genau, was ihrem Nachwuchs not tut. Schreien die Kinder beim Anblick der Tante, wissen alle, dass die Eltern ihre Kinder nicht loslassen wollen. Das ist besonders interessant, da die Gesellschaft unter Bindungslosigkeit leidet und in kleinste Bestandteile zerfällt.

Loslassen könnte von Kindern als Abstoßen empfunden werden, die später eminente Probleme mit Bindungsunfähigkeit kriegen. Die wollten mich damals nicht, heute will ich andere Menschen nicht. Wie heißt die Lieblingslosung der Deutschen? Dann bin ich mal weg! Ratzfatz, mit der Schere durchgeschnitten, aus den Augen, aus dem Sinn.

Natürlich gibt es Klebrigkeiten, wenn die Eltern sich mehr an Kinder klammern als umgekehrt. Doch – hört, hört, praktische Dialektik – das abrupte Loslassen ist nicht das Gegenteil von Klebrigkeit. Es ist dasselbe. Äußerlich wird losgelassen, innerlich bleiben sie lebenslang an jene Stelle fixiert, wo sie abgeschnitten wurden.

Eine echte Bindung ist die Verbindung des Apfels zu seinem Baum. Wenn er reif geworden ist und rote Backen bekommen hat, fällt er problemlos durch eigene Entscheidung ab. Ob Kinder für etwas reif geworden sind, ob sie die Möglichkeit seelischen Reifens überhaupt erhielten, interessiert keinen Herrn Steinbrück, der lieber Schach mit Helmut Schmidt spielt, als mit Kindern auf dem Boden herumzukrabbeln.

In der Kitafrage sind elterliche Neurosen fluchwürdig und die Kinder müssen für die psychischen Schäden ihrer Alten bestraft werden, indem man sie den Eltern aus den Händen reißt. Gelobt sei, was hart macht.

Im salomonischen Urteil war jene Mutter die echte, die das Kind lieber losließ, als es durch Gewalt zu beschädigen. Aha, also doch Loslassen? Ja, weil die Gewalt der Gegenseite zu groß war. Es war ein erzwungenes Loslassen, kein freiwilliges. Das beste Urteil war das salomonische gleichwohl nicht. Das Kind hätte selbst entscheiden sollen, welche Mutter die beste ist.

Allerdings: je älter die Kinder werden, umso mehr müssen sie ihre defekten Eltern schützen. Lieber werden sie selbst unglücklich, als dass sie ihre Eltern unbehütet ihrem Elend überließen.

Echte Bindung kann loslassen, weil es nur zur äußerlichen Trennung kommt, aber nicht zur inneren. Menschen, an denen wir hängen, tragen wir stets in uns. Echte Bindung ist das, was man Freundschaft nennen könnte. Den Freund empfindet man als Bereicherung, nicht als Last, die man so schnell wie möglich abschütteln oder an die ich mich anketten muss.

Wer das Beste für seine Kinder will, sollte wahrnehmen, was ihnen gut tut, sollte mit ihnen sprechen und sie selbst befragen. Trivial? Nicht in unserer Zeit, wo die Wirtschaft nicht nur den „Staat“ ramponiert – den Willen des Volkes –, sondern die Welt der Kinder.

Es gibt nichts Kinderfeindlicheres als die Despotie der Maloche und des Mammons. Von Anfang an war den Frühkapitalisten das Wohl der Kinder schnuppe. Kinder waren unbeseelte Arbeitsgeräte. Heute haben wir es viel weiter gebracht. Heute sind sie unbeseelte Noch-nicht-aber-möglichst-bald-Arbeitsgeräte. Am liebsten auf unbezahlter Praktikantenbasis. Sollen froh sein, dass sie was lernen dürfen. Dafür wollen sie noch bezahlt werden?

Glaubt jemand im Ernst, dass dumpfe Kitas den Kindern das Tor in die Welt öffnen? Dazu müssten sie erst mal für sich die Welt entdeckt haben.

Eine andere Trivialität: Kinder brauchen nicht nur andere Kinder. Kinderklumpenbildungen sind alles andere als kinderfreundlich oder -fördernd. Im Gegenteil. Das weiß jeder, der das Glück hatte, in einer halbwegs funktionierenden Großfamilie aufzuwachsen. Da gibt es Große und Kleine quer durch alle Generationen.

Das Kind braucht ein ganzes multiples Dorf, keine Horden von Gleichartigen. Es will den großen Freund bewundern, die heranwachsende Schöne im Nachbarhaus von ferne anhimmeln, es braucht die Ruhe der Großmütter, die Brummligkeit der Großväter, die Quirlichkeit junger Tanten, es braucht die Schrulligen und Eigenartigen, die Gesunden, Kranken und – die Sterbenden, das ganze Panoptikum vieler verschiedener Menschenarten und Temperamente, den Abdruck der großen Welt im Kleinen.

In der Kita wird bereits die uniforme Hordenbildung einstudiert, das Propädeutikum des Frontalunterrichts, wo alle im selben Schritt und Tritt – dem Förderband des Fordismus abgeschaut – mit Märchen von Gott und den Engelein gebrandmarkt werden. In Kitas wird Talmi-Idylle geboten, das Gegenteil von Aufgehobensein.

Welche Kita-Tanten haben den Kindern schon gesagt: was ihr glauben wollt, müsst ihr eines Tages selber entscheiden? Wer hat ihnen gesagt, es gibt viele Religionen und Meinungen? Schaut euch alle an und vergleicht sie miteinander, alles prüfet, das Beste behaltet? Wer sagt ihnen; benutzt euren eigenen Kopf, hört euch vieles an, lasst euch aber die Entscheidung nicht aus der Hand nehmen?

Komme mir ja niemand, Kinder seien dazu nicht fähig, man dürfe sie nicht überfordern. In Wirklichkeit werden fast alle Kinder geistig unterfordert, verlangsamt und verpuppt. Chinesisch sollen sie mit zwei können, zu einem scharfsinnigen Dialog aber nicht in der Lage sein?

Kindern braucht man keine dämliche Kinderphilosophie beibringen, sie sind selbst geborene Philosophen. Man darf sie nur nicht hemmen und ihre subjektive Entwicklungsgeschwindigkeit künstlich retardieren.

Wir Erwachsenen überlassen unseren Kindern die Welt in einem erbärmlichen Zustand. Das schlechte Gewissen über diesen größten Skandal der Weltgeschichte haben wir uns abtrainiert, indem wir unseren Kindern beibringen, nichts zu sehen, nichts zu hören und nicht die richtigen Fragen zu stellen.

Hoffentlich bemerken sie nicht den Kollektivbetrug der Erwachsenen, bevor diese ins Gras gebissen haben. Sonst kommen sie noch auf die Idee, uns Vorwürfe zu machen, wo wir uns doch ein Bein rausgerissen haben, um sie von Hartz4-Sprösslingen entfernt zu halten, in die richtigen Schulen zu schicken, wo sie mit Versagern nicht mehr konfrontiert sind.

Eltern wollen für ihre Kinder eine frühzeitige Bildung, damit sie elegant nach oben kommen. Ganz oben, in der Riege der Aldibrüder, sitzen bekanntlich die Gebildetsten. Den Aufsteigern in der Ex-Proletenpartei sieht man post hoc ihre Aufsteigerschäden auf 100 Meter gegen den Wind an. Schaut die Schröders, Müntes, Steinbrücks, wie sie sich jeden Tag bekreuzigen, dass sie den Aufstieg geschafft haben. Wer das nicht anerkennen will, der wird von ihnen verbellt und verbissen.

Eine humane Gesellschaft erkennt man daran, dass niemand aufsteigen muss, um sich wohl zu fühlen, wo er ist. Und niemand Angst haben muss, abzustürzen. Denn Unten ist abgeschafft und Oben ward nicht mehr gesehen. Welch eine Dreistigkeit der Oberen, zu sagen: wo wir sind, da ist das Glück.

Wem diese angstfreie Gesellschaft zu homogen ist, soll auf den Mars auswandern und Klein-Amerika kopieren. Packt euch in eure heiligen Raketen und verschwindet, die ihr diese Welt kaputt machen müsst, um einen Grund für euren Irrsinn zu finden. Zum Abschied singen wir euch den vierstimmigen Choral: Näher, mein Gott zu Dir.

Was ist der Sinn frühkindlicher Pädagogik? (Pädagogik ist keine Er-ziehung mit Akzent auf Ziehung, sondern Knabenbegleitung, heute Kinder-Begleitung. Wir begleiten die Kinder auf ihrem Weg, wir ziehen sie nicht an den Haaren in unsere Richtung, sondern schauen, wohin sie selber wollen.) Der Sinn ist Bildung. Kinder wollen sich ein Bild von der unbekannten Welt machen.

Bildung hat mit aufstiegsorientierten gleichen Startchancen und ähnlichem Lügenbrimborium nichts zu tun, denn Bildung ist kein Stimulans für Rattenrennen. Bildung ist Sache eines kooperativen fröhlichen Streits. Erkenntnisse des einen kommen dem anderen zugute, sie ergänzen sich und konkurrieren miteinander – um der Wahrheit willen.

Ja, der Wahrheit. Gibt es keine Wahrheit, sollten wir es lassen, unsere selbstgemachten Überlebensprobleme zu lösen. Denn die werden wir nur lösen, wenn wir die Wahrheit des Überlebens kennen. Im liebenden Streit um die Wahrheit werden die Vorteile des einen die Vorteile des anderen.

Es gibt eine sinnvolle Art der Konkurrenz. Concurrere heißt zusammenlaufen, nicht gegeneinanderlaufen. Bei Hesiod gibt es Eris, die Göttin der Zwietracht – und des gegenseitigen Anspornens. Zwietracht haben wir im System unserer genialen Wirtschaft zuhauf, das wird allmählich öde und stumpfsinnig. Wie wär‘s mit der kooperierenden Eris, die nach Eros klingt?

Bildung ist keine vorweggenommene Berufsausbildung. Bevor ich mich für einen separierten Beruf entscheiden kann, muss ich erst die Welt im Ganzen gesehen haben. Erst dann kann ich jene arbeitsteilige Nische aussuchen, die am besten zu mir passt – ohne den Überblick über die Welt zu verlieren.

Als wacher Citoyen muss ich wissen, was in der Welt vorgeht, um meine demokratischen Wahlmöglichkeiten zu nutzen. Verlier ich in meinem Job den Panoramablick, werde ich bornierter Fachidiot, der von jedem politischen Süßholzraspler seines Weges geführt werden kann.

Hört man diese Weltmelodien in spielerischem Format in den Kitas? Dort herrscht das Prinzip pastoraler Eiapopeiastimmung. Des Eiapopeia vom Himmel, womit man einlullt, wenn es greint, den kleinen Nachwuchslümmel. Ein neues Lied, ein besseres Lied, oh Eltern und Kinderbegleiter, will Heine euch dichten. Wir wollen hier auf Erden schon das Reich der Humanität und der Kinder errichten.

Ist das nur eine saft- und kraftlose Idee? Sagte nicht ausgerechnet Heine-Freund Marx: Ideen werden von Interessen blamiert? Das kann nur sein, wenn Ideen interesselose Phantasmagorien sind. Eines der verhängnisvollsten Vergehen des verkappten Idealisten Marx, seine Ideen gegen die Materie auszuspielen. Bei Mutter Natur sind Ideen materiell und Materie ist ideell. Alles andere könnt ihr vergessen.

Kinder sollen sich ein Bild von der Welt machen dürfen, indem sie frei um sich schauen. Hat es jemals Eltern gegeben, die abends ihre Kinder eben nicht fragen: Was habt ihr gemacht? Sondern: worüber habt ihr nachgedacht? Worüber gesprochen? Welche Meinungen hatten die anderen Kinder? Habt ihr sinnvoll gestritten, konntet ihr euch einigen oder ist jeder bei seiner Meinung geblieben?

Beides ist gleichgut. Es besteht weder Harmoniezwang, noch Zwang zur Zwietracht. „Diejenige Erziehung aber, die auf Helderwerb oder auf Körperkraft oder wer weiß was sonst für angebliche Weisheit gerichtet ist ohne vernünftige Einsicht und Gerechtigkeit, bezeichnet unsere Untersuchung als nicht wert, überhaupt Bildung genannt zu werden.“ Wenn Platon mit seiner Definition Recht hätte: wie viel von dem, was heute in einer Kita getrieben wird, würde er als Bildung durchgehen lassen?

Was hat Philosophie mit Bildung zu tun? Inzwischen gibt es, bei allem Zeitungssterben, tatsächlich ein Magazin für Philosophie mit dem Namen „Hohe Luft“. In der TAZ wird es vorgestellt mit den Zeilen, es stelle seit einem Jahr die großen Fragen – ohne die Antworten vorzugeben. Das Magazin versuche, Klarheit ins Denken und in die Begriffe zu bringen, ohne endgültige Antworten zu liefern.

Das passe in eine Zeit, in der auch junge Parteien damit kokettierten, keine Antworten zu haben, sondern ergebnisoffen zu debattieren. Während es aber bei den Piraten hieße: „Damit haben wir uns noch nicht befasst,“ wühle die Philosophie sich bis auf den Grund der Dinge und suche beharrlich nach Erkenntnis.

Demnach wäre die richtige Philosophie diejenige, die nach Erkenntnis sucht, aber sie nicht findet, oder wenn doch, das Ergebnis ihrer Suche nicht verraten darf, damit sich niemand in seiner Denkfaulheit belästigt fühlt. Antworten darf man heute nicht vorgeben, sonst ist der Erkenntnisprozess der Sensiblen gestört und nicht offen. Wer eine Antwort hat, zwingt sie dem andern automatisch auf?

Hier merkt man die Abkunft der Debatte aus dem geschlossenen Raum der Kanzelprediger. Roma locuta, causa finita, hat der Heilige Geist sich zur Sache geäußert, ist Sense.

(Ariane Lemme in der TAZ: Ab wann bin ich wahnsinnig?)

Hier erkennen wir das bekannte postmoderne Schema, Wahrheiten gibt es nicht. Und wenn doch, sind sie nicht ergebnisoffen und passen nicht in die heutige Zeit.

Wie kann man Klarheit ins Denken bringen, ohne auf Antworten zu stoßen? Ist Klarheit nicht dasselbe wie Antwort? Wenn mir etwas klar geworden ist, habe ich eine Antwort gefunden. Ob diese Antwort trägt und von Dauer ist, werde ich bemerken, wenn ich mit ihr in den Agon gehe, in die Auseinandersetzung. Gibt es Argumente, die meine Antwort widerlegen, muss ich sie korrigieren. Gibt es keine, kann ich sie fürs erste festhalten.

Solange eine Antwort nicht widerlegt ist, darf sie als vorläufig wahr gelten, meinte Popper, der felsenfest von der Antwort des Sokrates überzeugt war: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Was nicht bedeutet, dass der Mensch zur Unwissenheit oder zur Erkenntnisunfähigkeit verdammt wäre. Im Gegenteil, erst wenn er seine Ignoranz bemerkt, kann er lernen.

Lernen und Philosophieren sind identisch. Zwischen eingebildetem Wissen und wahrem Wissen muss der Lernende unterscheiden. Zumeist glaube ich etwas zu wissen, ohne es tatsächlich zu wissen. Wie erkenne ich den Unterschied zwischen traditionellem Fürwahrhalten und wahrem, durchdachten Wissen?

Durch Raufen und Streiten. Ich muss mit meiner Wahrheit gegen die Wahrheiten anderer antreten, mich durch Argumente und einleuchtende Schlussfolgerungen behaupten – oder nicht. Oft gibt es keine klaren Sieger, oft müssen beide Seiten erklären, dass sie sich geirrt haben.

Wer entscheidet über Sieg und Niederlage der Meinungen? In Demokratien entscheidet die Mehrheit. In Despotien der Despot. In Theokratien die Priester. Despoten und Theokraten allerdings lassen es zum Streit gar nicht erst kommen.

Darf Philosophie nur fragen, ohne zu antworten? Das wäre wie permanent hungern, ohne essen zu dürfen. Warum sind Antworten verboten? Womit sollten wir streiten, wenn nicht mit Antworten, auch Meinungen und Positionen genannt. Besitzen Antworten die schlechte Eigenschaft, eine Debatte unoffen zu machen, weil sie das Fragen beenden und schließen?

Das Gegenteil ist der Fall. Erst klare und scharfe Antworten können einen fruchtbaren Streit vom Zaun brechen. Was wäre das für ein sinnvoller Streit, wenn im Bundestag jede Partei sagte, sie habe keine Antworten, damit die Debatte offen bleibe?

Antworten sind keine endgültigen, niemand hat die Wahrheit mit Löffeln gefressen – außer Despoten, Priestern und Medienredakteuren, die in ihrer stets offenen Meinungslosigkeit unwiderlegbar sind.

Interessant, dass ausgerechnet die Vertreter unfehlbarer Wahrheiten ihren Gegnern, die sich auf Ratio berufen, Unfehlbarkeit durch Vernunft vorwerfen.

Der Wahrheitsprozess der Vernunft ist nie abgeschlossen und muss jederzeit revidierbar sein, wenn neue Antworten die herrschenden herausfordern. In einer Demokratie gibt es keine Instanz, die den Erkenntnisprozess abwürgen dürfte, um eine Antwort für immer alleinseligmachend zu sprechen. Entscheidungen der Mehrheit sind keine endgültigen Antworten, sondern zu pragmatischen Zwecken die vorläufig besten und wahrscheinlichsten.

Die moderne Offenheit durch Meinungslosigkeit ist keine: indem sie nicht klar Stellung bezieht, lässt sie alles, wie es ist. Das Etablierte kann nach Belieben weiterdominieren, weil es keinen energischen und klaren Herausforderer gibt, der die herrschende Meinung kess vom Thron stürzen könnte. Gäbe es keine Antworten, gäbe es auch keine falschen Antworten, die man mit konkurrierenden Antworten vom Thron fegen könnte.

Die Neoliberalen verteidigen ihre Unfehlbarkeit, indem sie jene Philosophen unterstützen, die widersprechende Antworten als Unoffenheit anprangern. Auf der einen Seite sind die Verhältnisse betoniert, auf der anderen soll jedes Nachdenken über Alternativen ergebnisoffen und vergeblich sein. Das nennt man Teile und Herrsche, eine wirksame Methode der jeweiligen Machthaber, potentielle Angreifer und Konkurrenten bereits im Vorfeld zu beseitigen.

Man beklagt sich inzwischen über den Satz der Herrschenden: there is no alternative, ist aber nicht fähig, etwas Durchdachtes, Klares und Bestimmtes dagegen zu stellen. Woher sollen Alternativen kommen, wenn nicht aus kritischem Denken?

Das Verbot zur klaren Meinung ist keine Liebe zur Wahrheit, sondern zur Wahrheit in absentia. Oder zur Lüge, zur Selbstverblendung, zum Sarkasmus, zur Ideologie, zum Zynismus, zur Lern- und Erkenntnisunfähigkeit, zur Misanthropie, zur Menschenfeindlichkeit.

Ist der Mensch erkenntnisfähig? Dann muss er es durch Erkenntnisse beweisen. Vorläufigkeit des Denkens ist nicht identisch mit Anämie des Denkens. Wäre Sokrates für seine Erkenntnisse in den Tod gegangen, wenn er sie nicht für belastbar gehalten hätte? Die Frage, ob es Götter gibt, ist belanglos, verglichen mit der Frage, ob es gemeinsame Grundlagen der Polis gibt, die uns ein humanes Leben ermöglichen?

Ist demokratische Polis keine Antwort auf die Frage, wie Menschen zusammenleben sollen? Nichtantworten sind nicht offen, sie verschließen den Horizont jeder Wahrheitssuche. Eine klare Antwort ist auch, wenn ich sage, momentan habe ich keine klare Antwort, ich bin noch auf der Suche.

Die Nötigung zur Antwortlosigkeit wird oft mit dem Satz identifiziert, unsere Probleme seien nicht lösbar. Woher wissen das die Problemlösungsverweigerer und Komplexitätsanbeter? Das Leben fließt ununterbrochen und löst automatisch alle Probleme – im Sinne derer, die alle alternativen Problemlösungen vernichten wollen.

Heute wird Philosophie zum ergebnislosen Bildungsgeplänkel erniedrigt. Wir können über alles klügeln und schwatzen, Ergebnisse darf es keine geben. Da jauchzen diejenigen, deren „Ergebnisse“ als natur- oder gottgewollte Ereignisse daherkommen. Vor Zeiten waren sie selbst Alternativen, die gegen uralte Traditionen kämpften und sich durchgesetzt haben. Heute wollen sie den Eindruck erwecken, als seien sie die unfehlbaren und unersetzbaren Traditionen.

Die Menschheit kann vor ungelösten Problemen nicht aus den Augen schauen, doch die zeitgenössische Philosophie zeigt sich gänzlich abgeneigt, sich am Problemlösen zu beteiligen. Diese zur Ergebnislosigkeit verdammte Philosophie steht noch immer unter dem Diktat des Philosophiebeerdigers Marx, Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es käme darauf an, sie zu verändern. Die Ideen würden sich vor den Interessen blamieren. Das Sein bestimme das Bewusstsein.

Es wird Zeit, diese Kastration des Denkens zu beenden und die Interessen durch selbstbewusste Ideen zu blamieren. Das Sein, welches sich durch denkendes Bewusstsein nicht verändern ließe, muss erst noch erfunden werden.

Alle Probleme der Menschheit sollen hingegen lösbar sein durch technischen Firlefanz? Überlassen wird diesen gottähnlichen Wahnsinn potentiellen Marsbewohnern.

Halten wir uns an Popper, den nüchternen Bewunderer von Kant und Sokrates, der in seinem Buch „Auf der Suche nach einer besseren Welt“ schrieb: „Ich kann nur dazu sagen, dass es für mich keine Entschuldigung gäbe, Philosoph zu sein, wenn ich keine ernsthaften philosophischen Probleme hätte und keine Hoffnung, sie zu lösen: Es gäbe dann meiner Meinung nach auch keine Entschuldigung für die Existenz der Philosophie.“