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Tagesmail

Dienstag, 26. Juni 2012 – Neoliberale Demokratur

Hello, Freunde der Brüche im Leben,

bisher sollten Erfolgsmenschen von der Wiege bis zur Bahre aus einem Guss sein. Elegant geschlüpft, just in time gezahnt und windelfrei, die Kita mit Auszeichnung bestanden, verträglich mit Forderung und Förderung, ein bis zwei Klassen übersprungen, synchron mit dem frühzeitigen Abitur europa- und weltkundig, sportlich wie meditativ, von charmantem wie knallhartem Wesen, bereits als Schüler Unternehmen gegründet, Patente angemeldet, nebenbei Familie gegründet und Kinder gezeugt, (Hallodris bringen zuviel Unruhe in den Betrieb), mit 30 das Jungunternehmen an die Börse gebracht, Unternehmer des Jahres – und dann? Bleiben nur noch die Stufen Bill Gates und Gott.

So stellt man sich Überflieger und Karrieristen vor. Doch Vorsicht, die Personalchefs beginnen sich mit den bruchlosen Turbogöttern zu langweilen. Es deutet sich ein Paradigmenwechsel an.

Biografien mit Brüchen sind gefragt. Das sind die mit den Umwegen, Blockaden, dem grandiosen Scheitern, der zweiten Chance, dem heroischen Irrtum. Wie ick den Laden hier kenne, auch der Bruch muss erste Sahne sein. Weniger Dädalus als Ikarus, ein bisschen Absturz sollte schon sein. Aber gekonnt bitte.

Es muss lange her sein, als Japaner noch der Meinung waren, Unternehmen könnten nur

von reifen Menschen geführt werden. Das bisschen Know-how würden sie ihnen binnen sechs Wochen beibringen.

 

Das Landgericht Köln stellt ab jetzt religiös motivierte Beschneidungen unter Strafe. Das Gericht habe sich nicht mehr von „der Sorge abschrecken lassen, als antisemitisch und religionsfeindlich kritisiert zu werden“, sagt ein Strafrechtler.

Muslimische und jüdische Organisationen wiesen bislang Forderungen nach Strafbarkeit der Beschneidung zurück. Das Verbot werteten sie „als schweren Eingriff in das Recht auf freie Religionsausübung“.

Ein Tabubruch? Eine Blasphemie? Mosebach und Broder haben sich noch nicht geäußert.

 

Wie weiter mit Europa? Mehr Kompetenzübertragungen nach Brüssel sind nicht mehr möglich ohne Grundgesetz-Änderung per Volksabstimmung, sagt Karlsruhe. Selbst Schäuble ist inzwischen dafür. Merkel bremst.

Prantl weist mit Vehemenz darauf hin, dass Abstimmungen im Grundgesetz schon immer möglich waren, wenn die Politiker diese Möglichkeit in einem Ausführungsgesetz konkretisiert hätten.

Ein Plebiszit bedürfe keiner Grundgesetz-Änderung. Unsere Demokratie sei beileibe nicht nur repräsentativ. Politiker, Wissenschaftler, alle hätten jahrzehntelang überlesen, dass in Artikel 20, Absatz 2 nicht nur von Wahlen die Rede sei:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Die Staatsgewalt werde „vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt“.

Das Wort Abstimmung sei während der gesamten Nachkriegszeit in Sicherungsverwahrung gehalten worden. Für ein Plebiszit auf Bundesebene brauche man keine Verfassungsänderung mit Zwei-Drittel-Mehrheit, sondern nur ein Ausführungsgesetz.

Es gebe noch mehr Mythen, die die verfassungsgemäße Möglichkeit einer Volksabstimmung bislang blockiert hätten. Der Berliner Staatsrechtler Hans Meyer habe sie soeben in einem brillanten Aufsatz weggefegt. Der Mythos beispielsweise, die Weimarer Republik sei an Volksabstimmungen gescheitert. Das sei ein verfassungspolitisches Märchen. Es habe überhaupt nur drei Volksbegehren gegeben, die alle drei bereits im Vorfeld gescheitert seien.

Nicht der Geist des Grundgesetzes, eine volksallergische Zeitgeistphilosophie habe die falsche Norm aufgestellt, unsere Demokratie sei rein repräsentativ und nicht plebiszitär. Auch alle Länderverfassungen würden das Plebiszit kennen.

Der Wind habe sich gedreht, die Zeichen stünden auf Wiedereroberung des Rechts zu direkten Volksabstimmungen.

Ohnehin müsse demnächst nach Artikel 146 neu über eine europakompatible Verfassungsänderung abgestimmt werden. Beide Vorgänge seien unabhängig voneinander, hätten aber miteinander zu tun. „Der Souverän pocht auf sein Recht.“

Damit wäre auch die abstruse These des Althistorikers Christian Meier vom Tisch, moderne Demokratien könnten von der athenischen Urpolis nichts mehr lernen. Wir hätten nur eine repräsentative Demokratie, direkte Abstimmungen seinen schon aus technischen Gründen nicht möglich, geschweige aus politischen. Was für ein Unfug von einem Kenner der Materie.

Just in Zeiten, wo demokratischer Geist und Buchstaben von politischen und wirtschaftlichen Eliten ramponiert werden, müsste alles unternommen werden, um den Abriss mit der Birne zu stoppen und demokratischen Geist offensiv zu vertreten. Doch woran erkennt man denselben? Gibt’s in Demokratien einen Urkonsens über Demokratie? So gefragt, schon verneint.

Nehmen wir einmal an, wir lebten in den 30er Jahren des vorherigen Jahrhunderts. Die SA-Horden beginnen, die Straßen zu beherrschen, die Zeichen der Verdüsterung mehren sich von Tag zu Tag, das Ende der Weimarer Demokratie ist abzusehen. Da greift ein Politikwissenschaftler zur Feder und schreibt ein Artikel mit dem Titel: „Die Akzeptanz des Staates schwindet.“

Was könnte er damit meinen? Die Akzeptanz der Demokratie? Die Akzeptanz des obrigkeitlichen Staates, die in Weimar verschütt gegangen und durch die neuen Stechschritthorden wieder zur Geltung gebracht werden soll?

Selbst wenn er die Demokratie hätte retten wollen, hätte er sich dann mit distanzierter Beobachtung zufrieden geben dürfen, als ginge ihn das Verhängnis nichts an?

Franz Walter ist moderner und linker Politologe und hat tatsächlich einen solchen Artikel verfasst.

Kein ordentliches Gemeinwesen ohne klare Begriffe. Der Begriff Staat gehört heute nicht dazu. Er kann schreckenerregende Regimes genau so bedeuten wie vorbildliche Demokratien. Insofern kann die Akzeptanz des Staates gar nicht schwinden, denn Staat ist immer.

Geht der eine vor die Hunde, kommt automatisch ein anderer. Geht eine Demokratie bankrott, kommt eine Diktatur, ein faschistisches Regime – einerlei, Staat ist immer Staat. Staat ist ein allumfassender Multibegriff, der nach der alten Bauernregel funktioniert: Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie’s ist.

Solche Alleserklärer erklären nichts. Definitionen müssen so eng und präzis gefasst werden, dass das Bezeichnete mit keinem anderen Bezeichneten verwechselt werden kann. Solche Trivialitäten lernte man früher im Proseminar, offenbar haben Politwissenschaftler diese Seminare verpennt. Anders kann man sich den liederlichen Gebrauch des Begriffes nicht erklären.

Es gibt eine weit verbreitete professionelle Allergie gegen die Verwendung des Begriffes Demokratie, von der Übersetzung Volksherrschaft gar nicht zu reden. Sofort würde klar, dass wir in einer solchen gar nicht leben, wo Finanzen und Eliten sich alles unter den Nagel gerissen haben.

Walter konstatiert die schwindende Legitimation des Staates mit passivem, resigniertem Unterton. Mutlosigkeit und Orientierungsschwäche griffen um sich, die Gesellschaft scheine mehr und mehr gelähmt, da ihr alle Vorstellungen über Sinn und Zukunft abhanden gekommen wären.

Fehlt da nicht was? Spräche hier ein Mediziner über einen todkranken Patienten, würde man ihn wegen Behandlungsfehler anzeigen, wenn er es nur bei der Diagnose beließe und keine therapeutischen Versuche unternähme.

Bei Walter gibt es keine Therapie, er ist Wissenschaftler und kein praktischer Politiker. Er gibt nicht mal eine richtige Diagnose. Die kranken Phänomene werden nur konstatiert, aber nicht erklärt.

Eine effiziente Diagnose wäre schon die halbe Therapie. Woher rühren Mutlosigkeit und Orientierungsschwäche? Vom Himmel gefallen? Walter will offensichtlich keine ordinären Schuldzuweisungen vornehmen, sonst würde man ihn Populist schimpfen oder schrecklichen Vereinfacher. Sein Ruf als Akademiker wäre dahin.

Wenn das alles im Vorfeld des NS-Regimes geschehen wäre, würden wir den Wissenschaftler heute als Mitläufer des aufkommenden Faschismus einstufen. Die Nachkriegsgeneration schwor sich einmal, alles zu unternehmen, um eine Wiederholung des Grauens zu verhindern. Heute gibt’s wieder mehrheitlich Mitläufer, die sich hinter neutralen Beobachtungsmasken verstecken.

Sie sitzen in Elfenbeintürmen, jammern und klagen. Weder liefern sie erhellende Wahrnehmungen und Zeitdiagnosen, noch haben sie therapeutische Gegenmaßnahmen anzubieten.

Für Götz Aly gibt’s ohnehin nichts zu jammern und zu ändern. Denn alles ist bestens, selbst wenn’s unangenehme Nebenwirkungen des Besten geben sollte, die unvermeidbar wären. Wir leben in Gottes oder der Wirtschaft prästabilierter Harmonie, in der besten aller möglichen Welten. Die beste aller möglichen Welten ist nicht die denkbar beste, aber die von allen Varianten praktisch beste.

Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie den Experten für neoliberale Freiheit: die Schere zwischen arm und reich ist nicht die Folge des Kapitalismus, sondern unvermeidbare Kollateralwirkung einer übergroßen Freiheit.

Nicht böse anonyme kapitalistische Mächte seien die Verursacher gesellschaftlicher Spaltungen, sondern in erster Linie Umstände, die „als gut, ja als glücklich bezeichnet werden müssen: lang anhaltender Frieden, massenhafter Zugang zu hoch qualifizierten Berufen und Frauenemanzipation.“

Wer sich nach gleicheren Nachkriegsverhältnissen zurücksehne, vergässe, dass die großen Gleichmacher der Geschichte die Katastrophen gewesen seien: Weltkriege, Inflation, Flucht, Vertreibung. Diese leidvollen Erfahrungen hätten die Vorkriegshierarchien zertrümmert und alle zu einem Neuanfang auf egalisierter Ebene gezwungen.

Der lange Frieden habe die Ungleichheiten und Differenzen wieder hergestellt und festbetoniert, denn Freiheit sei Stimulans für Fähigkeiten und Tüchtigkeiten, sich ungehindert und ungleich zu entfalten. Deshalb seien die gesellschaftlichen Verhältnisse zwar wieder erstarrt, doch man müsse sich klar machen, dass „gute Politik, Frieden und sozialer Fortschritt von unerwünschten Nebenwirkungen nicht frei“ seien.

Der Kapitalismus ist für Aly keine Ursache der auseinanderklaffenden Schere. Linken Kapitalismuskritikern scheint der Historiker vorzuwerfen, noch immer an anonyme böse Mächte zu glauben. Womit er sich als Neoliberaler à la carte erweist. Alles ist gut, wenn in Freiheit ungleiche Begabungen und Fähigkeiten sich ungleich entfalteten. Böse Mächte gibt es nicht in einer liberalen Demokratie.

Ist damit das Böse abgeschafft? Nein, es nistet in den Gehirnen plündernder Jugendhorden, neidischer Nichtshaber und linker Möchtegernrevolutionäre.

 

Liberalismus – wie übrigens auch der Sozialismus – beruht auf dem Glauben an mechanische Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft. Dieser Glaube begann mit den ersten Triumphen der Naturwissenschaften, Newton und Galilei waren überzeugt von der Idee einer mechanischen Natur, beherrscht von lückenlosen Gesetzen.

Es konnte nicht ausbleiben, dass nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft nach dem Modell mechanischer Gesetze betrachtet wurde. Die Wirklichkeit ist einer universellen Uhr vergleichbar, die von einem Schöpfer oder der Natur installiert worden war. Nachdem Gott als reparierender Uhrmacher ausschied, blieb nur das Paradigma einer zeitlos gesetzmäßigen Riesenmaschine übrig, die keiner Moral untertan war.

Böse oder gute Mächte gab es nicht in der Realität: weder bei den frühen Ökonomen, noch bei Marx. Weshalb es unsinnig sei, mit moralischen Entscheidungen moralfreie Gesetze zu beeinflussen.

Die Moral wurde zurückgedrängt auf das belanglose Gebiet des Privaten. In der Familie, im Klub, in der Partei, da sei eine bestimmte Anständigkeit unerlässlich, doch auf dem Gebiet der geschichtsmäßig verlaufenden Ökonomie ein Haschen nach dem Wind. An solchen Gesetzen sei nichts zu ändern, man könne nur eines: sie erkennen, um sie für sich zu nutzen.

Die Mechanik verhindert also nicht alle Freiheit. Die Natur und Gesellschaft stellen uns Gesetze zur Verfügung, es liegt in unserer Hand, die Gesetze zu unserem Vorteil zu benutzen. Dies gelinge den Menschen in ungleichem Maße, denn von Natur aus seien sie ungleich. Einer Maschine könne man auch nicht mit Moral kommen. Sie müsse sachgemäß bedient werden, um sie zum Laufen zu bringen.

Auch die Demokratie könne an diesen determinierten Ursachen nichts ändern. Deshalb seien Sozialprogramme in minimalem Maße möglich, doch die Korrektur oder revolutionäre Veränderung der ökonomischen Gesetze sei undenkbar. Wer es dennoch versuchen würde, zerstöre die Gesellschaft, aber nicht die ehernen Gesetze der Gesellschaft.

Hier liegt einer der wunden Punkte des Liberalismus. Einerseits will er die Ideologie der Freiheit sein, andererseits verwirft er freie Moral in Wirtschaftsabläufen. Wer Naturgesetze beherrschen will, muss wissen, wohin er steuert. Naturgesetze schreiben uns nicht vor, wie wir sie behandeln müssen.

Wirtschaftsgesetze sind zudem keine Naturgesetze, sondern von Menschen erfunden und eingerichtet. Was der Mensch erfunden hat, kann er auch verändern.

Demokratische Mehrheitsentscheidungen haben in Fragen naturgesetzlicher Abläufe nichts verloren. Von daher sei es auch illegitim, Demokratie immer weiter auszudehnen. Eine „größtmögliche Ausdehnung der Demokratie“ sei nicht wünschenswert, sagt Hayek unmissverständlich. Es würde zur Anarchie und zur Pöbelherrschaft führen, wenn zufällige Mehrheiten die Gesetze der Freiheit einschränken wollten.

Demokratie ist „kein letzter oder absoluter Wert und muss danach beurteilt werden, was sie leistet. Sie ist wahrscheinlich die beste Methode, gewisse Ziele zu erreichen, aber nicht ein Ziel in sich.“

Was sind die legitimen Ziele? Die grenzenlose Entfaltung materieller Produkte und persönlichen Wohlstands. Diesen Zielen habe sich Demokratie unterzuordnen.

Folgerichtig unterscheidet Hayek zwischen dogmatischen Demokraten – und Liberalen. „Der dogmatische Demokrat erachtet es als wünschenswert, dass möglichst viele Fragen durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden, während der Liberale meint, dass es für den Bereich der Fragen, die so entschieden werden sollen, bestimmte Grenzen gibt.“

Die Dogmatiker machten alles von Mehrheitsbeschlüssen abhängig, die Liberalen fänden es absolut wichtig, „die Gewalt jeder zeitweiligen Mehrheit durch langfristige Grundsätze zu beschränken.“ Für sie haben Mehrheitsentscheidungen ihre Gültigkeit „nicht kraft eines Willensaktes von seiten der augenblicklichen Majorität, sondern kraft einer weiterreichenden Übereinstimmung über allgemeine Grundsätze.“ (Alle Zitate aus Hayek, Die Verfassung der Freiheit)

Doch wer bestimmt die allgemeinen Grundsätze? Hayek sagt es nicht ausdrücklich, doch was er meint, ist klar: jene weisen Ökonomen, die die Gesetze der Gesellschaft erkannt hätten. Damit hat er die platonische Katze aus dem Sack gelassen.

Demokratie ist kein Ziel an sich, sondern nur nützliches Mittel, eine effektive Methode. Doch nur, wenn die Grenzen der Demokratie gewahrt und nicht den Fängen beliebiger Pöbelmehrheiten übergeben werden. Darüber haben unwählbare Instanzen zu entscheiden, die die Macht der Meute beschränken.

Ludwig Erhard sprach von einer formierten Gesellschaft, man könnte von einer gelenkten Demokratie sprechen. Demokratie ist eine gleichmäßig schnurrende Maschine, die von sachkundigen Maschinisten gelenkt wird.

Wenn wir alle Machtvorgänge, die von Ungewählten, selbsternannten Weisen, philosophischen Königen oder Experten gelenkt werden, als faschistische definieren, haben wir es bei Hayeks Demokratie mit einem demokratischen Motor zu tun, der von faschistischen Kräften regiert wird. Es ist eine neue Form der platonisch-urfaschistischen Politeia.

Nun kommen wir zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass Hayek, der große Förderer Karl Poppers – beide aus Wien stammend – eben die Form einer platonischen Zwangsbeglückung als liberale Demokratie propagiert, die Popper in schärfster Form in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ kritisiert hat.

Hat Popper das nicht gesehen? Warum begrüßte er jedes Buch seines großen Gönners mit Enthusiasmus? Er, der große Freund des Sokrates und der athenischen Demokratie? Er, der Befürworter sozialreformerischer Aktivitäten, die er Stückwerktechnologie nannte?

Heute würden wir Popper einen Sozialdemokraten nennen. Nicht umsonst war Helmut Schmidt ein ausgewiesener Popperfan.

War Popper seinem großen Gönner Hayek lebenslang so zu Dank verpflichtet, dass er seinen eigenen Standpunkt nicht zur Geltung brachte? In den Debatten der Mont Pèlerin Society war Popper ein verlässlicher Parteigänger Hayeks und damit des später so genannten neoliberalen Flügels. Nach dem Tode Hayeks soll Popper in vertrautem Kreise geäußert haben, es sei ein Fehler gewesen, dass er seinen Freund nicht schärfer kritisiert habe. Heute würde er es anders machen.

Ob die Story stimmt, wissen wir nicht. Es bleibt ein großes Verhängnis, dass einer der schärfsten Kritiker des europäischen Faschismus durch falsch verstandene Dankbarkeit einem Neoliberalismus die Steigbügel hielt, der unter Demokratie nur ein minderwertiges Instrument verstand, das von mächtigen Weisen nach Belieben gehandhabt werden konnte.

Hayeks Demokratie hat mit dem athenischen Urmodell nur den Namen gemeinsam und dies zu Unrecht.

Demokratie ist, was das Volk entscheidet. Grenzen seiner Entscheidung kann es nicht geben – außer seiner freiwillig erworbenen Vernunft. Ist es unvernünftig, was das Volk entscheidet, werden die Früchte der Unvernunft über sein Haupt kommen.

Nur so kann es Freiheit lernen. Denn Freiheit ist nicht Tun des Willkürlichen, Grenzenlosen und Beliebigen, sondern Tun der Vernunft, die nicht unter dem Diktat von Weisen, Priestern und elitären Experten steht.

Mehrheitliche Entscheidungen sind nicht der Wahrheit letzter Schluss, sondern Etappen des Lernprozesses einer menschheitsverbindenden Vernunft.