Kategorien
Tagesmail

Dienstag, 25. September 2012 – Die Moderne

Hello, Freunde der Türkei,

Bundesinnenminister Friedrich lässt Plakate aushängen, die alle hier lebenden Muslime als potentielle Terroristen erscheinen lassen. Vorsicht, kleiner Türke, dein deutscher Nachbar hat dich im Blick. Wenn du einmal nicht mehr ängstlich schaust, wird er den Verfassungsschutz anrufen. Blockwartverhalten wie einst bei deutschen Erlösern.

In welchem Maß die muslimische Minderheit von Deutschen drangsaliert wird – im Fall der NSU noch ein bisschen mehr –, zeigt das TAZ-Interview mit dem türkischen Botschafter in Berlin. Viele Migranten fühlen sich bedroht. Sie erhalten Hetzpost, in ihrem Keller wird ein Brand gelegt oder im Treppenhaus ein Kinderwagen angezündet. Solche Delikte erscheinen nicht in der Presse.

Wie lange hat es gedauert, bis man hinter den „Döner-Morden“ rechtsextreme Deutsche vermutete? Den linken Terror hielt man für gefährlicher als den rechten, den man mit allen Mitteln ungeschehen machen wollte. Die Vierte Gewalt immer vorbildlich dabei.

 

Meinungsforscher Güllner hält die Grünen für überbewertet. Im Grunde entstammten sie einem antimodernen Segment der Gesellschaft, hätten sich mit Themen profiliert, gegen die kein vernünftiger Mensch Einwände haben konnte. Doch diese Taktik habe die unteren Schichten verprellt, die immer weniger zur Wahl gingen. Sie würde am Ende gar die Demokratie gefährden. (Karsten Polke-Majewski in der ZEIT über den Meinungsforscher Manfred Güllner)

Es grassiert etwas in der bundesrepublikanischen Gesellschaft: die Suche nach

dem präzise angebbaren Sündenbock, der alle Schuld stellvertretend auf sich nimmt, um zum Sterben in die Wüste zu gehen.

Natur muss für den Menschen büßen. Der Sündenbock war der tierische Vorläufer des Herrn und Erlösers, der alle Sünden der Welt schuldlos auf sich nahm, damit die Menschen nicht lernen sollten, mit ihren Fehlern selbständig umzugehen und unabhängig von Göttern, Richtern und Propheten zu werden.

Zumeist wird die Kanzlerin zur Generalhexe gemacht, um den Verfall der politischen Eliten zu beschreiben. Frau Höhler hat ein ganzes Buch über die charakter- und haltungslose Pastorentochter geschrieben. Viele Kommentare lassen an ihr kein gutes Haar, obgleich ihre Stellung in der Öffentlichkeit von keinem Konkurrenten gefährdet werden kann.

Wenn es nicht Merkel ist, sind es abwechselnd die Linken, die Immigranten, die Hartz4-Faulpelze. Nun sind es zur Abwechslung die Grünen, denen man es bis heute nicht verzeiht, dass sie das frühere Dreier-Schema der Parteien gründlich durcheinander gewirbelt haben. Weil sie die Technik kritisieren, sollen sie antimodern sein.

Der ZEIT-Artikel schreibt von einer „gewissen Fortschritts- und Technikskepsis.“ Das war keine Skepsis, das war eine scharfe Kritik aller Technik, die die Natur in Mitleidenschaft zieht. Nicht die Technik an sich, die naturschädigende Technik war das Objekt ihrer ablehnenden Begierde. Sind die Grünen deshalb antimodern? Wenn Moderne nichts als Technik wäre – ja!

Der Begriff Moderne wird wie ein Credo benutzt. Wer das Geringste an ihr auszusetzen hat, ist ein rückwärtsgewandter Dino, der den Fortschritt der Menschheit in die offene Zukunft blockiert.

Den Begriff kann man nach Belieben stauchen und dehnen. Wer den Kapitalismus kritisiert, ist auch ein Feind der Moderne. Ist er noch Kritiker von Amerika, sollte er am besten ein Bärenfell anlegen und in der hinteren Mongolei Kamele zum Heulen bringen.

(Vor einiger Zeit konnte man hören, dieses antimoderne Gesamtpaket sei sekundärer Antisemitismus, als sei das Judentum per se prokapitalistisch und bedenkenlos technikvernarrt. Offensichtlich sind die Namen Marx, Lassalle, Trotzki, Bernstein e tutti quanti im Orkus verschwunden.)

Dabei ist das Wörtchen modern nur eine Zeitbezeichnung und hat die Bedeutung: neu – im Gegensatz zum Alten. Gegensatz nicht so verstanden, als sei das Neue immer das Gegenteil des Alten. Als das Wort im Mittelalter aufkam, war das Neue nur die logische Fortentwicklung des Alten. So bei Bernhard von Chartres im 12. Jahrhundert, von dem das berühmte Zitat überliefert ist:

„Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Wir können weiter sehen als unsere Ahnen und in dem Maß ist unser Wissen größer als das ihrige und doch wären wir nichts, würde die Summe unseres Wissens nicht den Weg weisen.“

Hier ist das Moderne noch Bewahrerin und Fortführerin des Alten und Antiquierten. Die Modernen sind klüger, obgleich sie zusehends schrumpfen. Heute am ehesten mit den Konservativen zu vergleichen, die bewahren wollen, ohne in Stillstand zu verfallen.

Erst ab der Epoche der Neuzeit gerät das Moderne in Widerspruch und Unverträglichkeit mit dem Überkommenen. Das Neue beginnt das Alte zu ignorieren, zu verdrängen, zu eliminieren.

Der christliche Kampf zwischen dem teuflisch-sündigen Alten und dem wiedergeborenen Neuen hat sich inzwischen den Abendländern so eingebrannt, dass Jesu Satz: „Das Alte ist vergangen, siehe, ich mache alles neu“, die Regie der modernen Entwicklung übernommen hat.

Das Neue ist nicht nur das zeitlich Jüngste, sondern das Bessere, das Beste, das Nonplusultra – bis es noch was Besseres gibt. Die Erneuerungssucht ist eine weltpolitisch, technisch und ökonomisch gewordene Sucht nach Erlösung, dem messianischen Neuen, das in Golgatha den Kampf gegen das Alte und Dämonische grundsätzlich gewonnen hat – doch die offizielle Siegesfeier wird erst am Ende aller Tage gefeiert werden.

Bis zum Tage der Wiederkunft des Herrn muss an den Sieg geglaubt werden, das Schauen wird erst im Jüngsten Gericht gestattet, wo alle Schleier von den Augen der Menschen weggenommen werden.

Der erste große Bruch ereignet sich am Beginn der Neuzeit. Die italienische Renaissance hatte noch versucht, die neu aufkommende griechische Aufklärung mit dem christlichen Glauben zusammenzubringen. Platon war nur ein ahnender Vorläufer des Christentums.

Luther verursachte den Bruch mit dem katholisch Überlieferten, indem er – in eine angeblich heile Zeit des Urchristentums zurückwich. Nach dem Motto, das später fast die ganze deutsche Entwicklung charakterisierte: Reculer, pour mieux sauter, zurückweichen oder einen größeren Anlauf nehmen, um weiter zu springen als alle anderen Nationen. Aus der Not der Zurückgebliebenheit machten die Deutschen die Tugend der alles überspringenden Zukunftsgewinner.

In Frankreich und England gab‘s nicht so viele Hemmungen, mit dem Alten aufzuräumen. Francis Bacon nannte sein Hauptwerk Novum organon, Neues Organ der Wissenschaften, in klarer Abhebung von Aristoteles und der gesamten Tradition, in der er nur Trugbilder entdecken konnte.

Tabula rasa und alles von vorne, das war seine Devise. Leute, die seinem neuen Weg der Erfahrung folgen wollten, mussten „die eingewurzelten verkehrten Vorstellungsweisen ohne Umstände zeitgemäß ändern“.

Auch Bacons Zeitgenosse Descartes sah in der Tradition nur sinnlose Streitereien, auf die man nicht bauen könne. Also suchte er ein fundamentum inconcussum, ein unerschütterliches, absolut sicheres Fundament:

„Niemals ging meine Absicht weiter als auf den Versuch, meine eigenen Gedanken zu reformieren und auf einen Boden zu bauen, der ganz mir gehört. Ich war der festen Überzeugung, dass es mir dadurch gelingen würde, mein Leben weit besser zu führen, als wenn ich nur auf alten Fundamenten baute und mich nur auf Grundsätze stützte, die mir in meiner Jugend eingeredet wurden, ohne dass ich je geprüft hätte, ob sie wahr sind.“

Welches Fundament meinte er und wie glaubte er, es zu gewinnen? (Wahrheit und der eigene unerschütterliche Besitz gehen eine Liaison ein). Indem er sich der Abhängigkeit von seinen Lehrern entzog und sich entschloss, „kein anderes Wissen zu suchen, als was ich in mir selbst oder im großen Buche der Welt würde finden können.“

Das große Buch der Welt war die Natur, das Galilei das zweite Buch der Offenbarung nannte, mindestens gleichwertig mit der Heiligen Schrift, in Naturdingen sogar überlegen.

Luther wollte reformieren, Descartes wollte reformieren. Eine Re-form ist aber kein totaler Bruch mit dem Gewesenen, sondern Wiederherstellung des Ursprünglichen, das durch Korruption oder Sündenfall verwüstet war und in den ursprünglich heilen Zustand zurückgeführt werden musste.

Dieses Neue ist das Gegenteil des Alten, aber identisch mit einem Uralten, das vom Alten verfälscht worden war. Vorwärts, wir müssen zurück zum Uralten, um modern zu werden. Die beste Zukunft ist Rückkehr zum unversehrten Original, theologisch die Rückkehr in den Garten Eden.

Auch Bacons Neubeginn ist der ausdrückliche Wunsch, den Sündenfall zu korrigieren und durch die neue Methode des technischen Fortschritts das Paradies wieder zu gewinnen – durch die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen. Technik und Naturwissenschaft stehen im Dienst einer religiösen Aufgabe.

Hier sehen wir Ähnlichkeiten und Unterschiede der drei Nationen exemplarisch vor uns:

Der deutsche Luther will eine Reformation, die Rückkehr der beschädigten Seele allein durch den Glauben, allein durch die Gnade, allein durch die Schrift.

Der englische Bacon will das Paradies zurückgewinnen durch Naturwissenschaft und Technik, durch erfahrungsgesättigten Verstand. Durch Ratio. (Luther hatte die Ratio als Hure beschimpft.)

Der französische Descartes will auch eine grundsätzliche Reformation: durch Naturwissenschaft und Selbsterkenntnis. Das sichere Fundament für das Neue suchte er in sich. Nicht mehr in einer Offenbarung außer ihm, nicht mehr durch Sprüche bloßer Autoritäten – was ihn nicht davon abhielt, nach dem anfänglichen totalen Zweifel sofort den Gott in sich zu finden. Das Fundament in ihm war nicht er, sondern Gott. Oder er als Gott, Gott als er.

Der totale Bruch mit der Vergangenheit war die totale Rückkehr in die Vorvergangenheit, in den Schoß der Gottebenbildlichkeit. Das war eine Wiederholung der augustinischen Wendung nach innen. Nicht auf der Suche nach dem natürlichen Ich, sondern auf der Suche nach Gott, der im Innern des Menschen Platz genommen hat. Diese Innenwendung war eine Attacke gegen die Griechen, die Gott im Kosmos erblickten. Sie schauten, was sie nicht glauben mussten. Das Wort Theorie kommt von Schauen.

Das ist die Grundkonstruktion fast der ganzen modernen Philosophie. Das unaufbrechbare Fundament alles sicheren Wissens liegt nicht in der Natur, sondern im Ich. Aber nicht im natürlichen Ich des Menschen, sondern im gottebenbildlichen, zum Gott aufgeblähten Ich.

Das Ich ist nicht Bestandteil der Natur, sondern eine Exklave Gottes mitten in der Natur. Mitten in der sündigen Natur besitzt Gott ein sicheres Depot, von dem aus er alle menschlichen Tätigkeiten überwacht und reguliert. Dieses sündenlose Depot ist die unsterbliche Seele des Menschen.

Das Ich hat sich nicht nach der Natur zu richten, die Natur hat sich in allen Dingen nach dem Ich zu richten. Naturerkenntnis ist eigentlich Selbsterkenntnis, aber nicht, weil der Mensch mit der Natur eins wäre. Vielmehr schreibt das Ich der Natur die Gesetze vor. So bei Kant.

Fichte geht einen Schritt weiter. Sein ICH setzt das Nicht-Ich, was nichts anderes ist als die creatio ex nihilo durch das göttliche ICH. Das Ich erkennt, was es der Natur als Erkennbares vorschreibt. Natur ist eine mehr oder weniger unfertige Masse, die erst durch den erkennenden Blick des Menschen zu dem wird, was der Mensch erkannt haben will. Ich erkenne, was ich selber herstelle.

Das Erkennen ist keine passive Wahrnehmung eines perfekt Vorhandenen, sondern ein Erschaffen durch Erkennen.

Erschaffen durch Erkennen ist die Wiederholung des Benennens der Tiere durch den Menschen im Garten Eden. Das war der erste gottebenbildliche Hoheitsakt in der Geschichte des biblischen Menschen:

„Da bildete Gott der Herr aus Erde alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde; und ganz wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heißen.“

Das war mehr als ein bloßes Namensschild an die Tiere kleben nach dem Motto: Namen sind Schall und Rauch, sondern dem Tier ein Omen, ein Vorzeichen verleihen: nomen est omen. Weiß ich, was mit dem Tier geschehen wird, kenne ich, verleihe ich ihm sein Wesen.

Namengeben ist ein divinatorischer Akt. Dein Name, das bist Du. Wem Gott einen neuen Namen verleiht, dem gibt er das Wesen des Namens. Wenn Jakob zu Israel wird, heißt er nicht nur so, er wird zum „Gottesstreiter“. Die meisten modernen Menschen geben es nicht zu, aber auch sie nehmen ihren Namen als geheimes Omen ihrer Persönlichkeit.

Das Diktieren dessen, was ich zu erkennen glaube, ist nicht nur das Grundprinzip von Naturwissenschaft und Technik, sondern das der hermeneutischen Textauslegung bei der Heiligen Schrift. Ein moderner Theologe ist nicht vom ordinären Buchstaben abhängig, oder von dem, was er an Buchstaben vor Augen hat. In divinatorischer Allmacht bestimmt er, was geschrieben steht, was der Text in seiner imperialen Auslegung zu bedeuten hat.

Buchstabengläubige sind unterwürfige Geister, die sich vom Buchstaben vorsagen lassen, was der Autor gemeint haben könnte. Geistbegabte sind allmächtige Ichs, die dem Text diktieren, was er gefälligst zu sagen hat.

Gewitzt wie immer, werfen moderne Theologen der Moderne Gottähnlichkeit vor, wenn sie die Natur nach eigenem Gutdünken vernichtet. Dass diese Gottähnlichkeit ein theologischer Akt ist, der der gesamten Moderne ins Herz gekrochen ist, wollen sie nicht wahrhaben.

Was gut ist an der Moderne, ist religiöser Herkunft, was nicht, entstammt dem Reservoir gottloser Empörer.

Die Moderne ist eine Zeitangabe. Keine Qualitätsbezeichnung. Oder genauer: eine Qualitätsbezeichnung als Zeitangabe. Das wäre, wie wenn ein Tischler seine Produkte mit einer Jahreszahl auszeichnen wollte, um ihre Qualität anzugeben. Hier habe ich einen ganz tollen Tisch 1950. Ist der besser als der Tisch 1900? Der ist schon deshalb besser, weil er 50 Jahre nach dem alten hergestellt worden und damit ein moderner Tisch ist.

Was daran ist besser? Dass er neuer ist, das Neue ist immer besser als das alte. Sonst gibt’s keine angebbaren Qualitätskriterien? Nein, das Alte ist vergangen, ich mache alles neu. Das Neue ist besser, nicht weil es besser, sondern weil es neu ist.

Die Heilsgeschichte hat an die Stelle „zeitloser“ Qualitätskriterien die jeweilige Zeitangabe gesetzt. Zeit an sich ist kein Gütezeichen. Erst in der Heilsgeschichte wird sie zum Zeichen des Guten und Schlechten. Je näher die Entstehung eines Dings sich einer heiligen Zeit nähert, umso besser ist es.

Die heiligsten Zeiten sind Anfang und Ende der Geschichte. Im Paradies war alles gut, weil das Paradies sündenlos war. Am Ende der Geschichte wird wieder alles gut sein, weil der Herr den Teufel endgültig überwunden hat.

Das Moderne ist nichts anders als das Modische, das umso wertvoller wird, je mehr es sich der Endzeit nähert. Nicht, weil es an sich besser wäre, sondern weil es zeit-gemäßer ist. Der Zeit gemäß, heißt, der Heilszeit gemäß.

In der natürlichen Zeit hängt die Qualität der Dinge von den Dingen ab. Die Sache entscheidet über sich, nicht die Zeit. Sachkriterien sind „zeitlose“ Kriterien. Eins und Eins sind immer Zwei, unabhängig von Nähe und Ferne zu einer Heilszeit. Ein guter, stabiler Tisch ist immer gut und stabil, unabhängig von einer Jahreszahl des Heils oder Unheils. Ein Mensch ist immer ein liebesbedürftiges Wesen, unabhängig von allen Epochen und Jahreszahlen.

Griechen hatten Begriffe für die zeitlose Sachqualität, Platon nannte sie Ideen. Als die christliche Heilsgeschichte sich durchsetzte, wurde zeitlose Qualität als minderwertig und veraltet erklärt. Zeitlose Qualitäten gebe es nicht, denn der Schöpfer offenbare seine Wahrheiten peu a peu in der Zeit. Es gebe nur Heilsqualitäten, die sich nach der Zeit der Heilsgeschichte richteten. Zur zeitlosen Sache gehören auch Moral und Wahrheit.

Die kritische Gegenwart erkennt allmählich die Crux einer Moderne, deren Wahrheit und Moral sich alle 10 Jahre ändert. Warum sollte der Kapitalismus falsch sein, wenn es keine zeitlose Wahrheit gibt, an der ich das Maß seiner Falschheit ablesen kann?

Die Post-Moderne, die sich in diesen Grundfragen keineswegs von der Moderne losgelöst hat, ändert ihr modisches Mäntelchen alle Dekaden. Wahrheit und Moral sind Mode geworden; Moderne und Mode sind identisch. Postmoderne Wahrheiten werden schon mit Verfallsdatum und Halbswertzeit produziert.

Die Zeitlichkeit des Seins hat die Sachlichkeit des Seins aufgehoben. Wir haben keine Begriffe mehr, um Sachen adäquat zu benennen, die uns das Leben schwer machen oder die wir zur zeitlosen Heiterkeit dringend benötigten.

Statt Zeiterscheinungen an nachhaltigen, dauerhaften oder zeitlosen Kriterien zu messen, pfeffern wir epochale Prä- und Postbezeichnungen in die Unübersichtlichkeit der Zeit. Vor-geschichte, Vor-März, Post-Revolution, Post-Moderne, Vorklassik, Neukantianer, Früh-Moderne, Nachkriegszeit, die 68er- und die 89er-Generation. Jeweils das Neueste ist das Wahre und wenn es der letzte Schrott wäre.

Wer Schrott sagt oder die Unverschämtheit hat zu behaupten, der Kaiser sei nackt, ist ein Fundamentalist der Wahrheit. Einer, der sich in zeitloser Anmaßung über die anderen erhebt.

Das gottgleiche Ich der Moderne ist keine Erfindung Gottloser, die sich anmaßen, Gott ähnlich zu sein. Der Kern der modernen, technischen Zweckrationalität ist die religiöse Gottebenbildlichkeit.

Mit der modernen Technik wollte Bacon die restitutio in integrum, die Wiederherstellung der ursprünglichen Unversehrtheit. Es war das Pendant zur lutherischen Rechtfertigungslehre, dass der Mensch selig werde allein durch den Glauben.

Bei Luther wurde die Suche nach der Seligkeit zur betenden, passiven, unterwürfigen Meditation; bei Bacon zur anpackenden, produktiven und weltbeherrschenden Methode: Wissen ist Macht.

Die Griechen verachtete Bacon, weil sie nichts dazu beigetragen hätten, die Natur zu „zerstückeln“, um sie zu beherrschen. Ihr bloßes Verstehen sei reiner Tand gewesen. Nicht Verstehen der Natur, sondern ihre Beherrschung war das Ziel der christlichen Zurückgewinnung des Paradieses.

Das moderne Ich bestimmt in Allmacht, wie der Fluss der Zeit nach Lust und Laune mit neuen Wahrheiten und Moralen geteilt, imprägniert und etikettiert wird.

Welche Moral haben wir heute? Die Moral September 2012. Im Oktober gibt’s wieder ne neue. Bitte warten Sie die neuesten Durchsagen des Zeitgeistes ab.

Wer bestimmt den Zeitgeist? Wer wohl? Diejenigen, die die Zeit im Griff haben: die Mächtigen, die Priester, die Eliten und die Künstler als kreative Possenreißer der Mächtigen. Sie wissen stets, was die Zeit geschlagen hat. Denn sie schlagen sie selbst. Nicht Verstehen und Erkennen war für Bacon entscheidend, sondern der bloße Erfolg, der Machtzuwachs, die Überlegenheit über andere Völker.

„Die technische Überlegenheit der Europäer über die Wilden Neu-Indiens begründete für Bacon das Wort vom homo homini Deus: die Gottgleichheit des homo faber.“ (Friedrich Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt)

Der Satz: „Der Mensch ist dem Menschen ein Gott“ wurde identisch mit dem Satz: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“.