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Dienstag, 24. Januar 2012 – Täter und Opfer

Hello, Freunde der Klischees,

sind Franzosen und Deutsche nicht seltsame Freunde? Sie wissen nichts voneinander, haben aber gute Meinungen übereinander. Vielleicht, weil sie nichts wissen? Da lässt sich’s trefflich projizieren.

Welcher Franzose macht schon in Deutschland Urlaub? Ja, Freiburg ist natürlich eine Ausnahme, weil die Stadt von französischen Truppen besetzt war und noch viele französische Elemente aufweist. Wir haben sogar ein – ziemlich elitäres – deutsch-französisches Gymnasium.

Franzosen sehen die Deutschen fleißig, ernst, diszipliniert bei der Arbeit und rechtschaffen. Da merkt man, dass sie schon lange nicht mehr persönlich vor Ort waren, nicht regelmäßig BILD lesen und noch nie von Henkel und SPD-Schröder gehört haben, die rechtsrheinisch immer mehr faule Hartz4-Säcke, verwahrloste Jugendliche und egoistische Rentnerbands erkennen wollen.

Vielleicht ist es nur ein Wunschbild der Franzosen, dass die Deutschen so arbeitsam sein mögen, weil sie solche Freunde und Verbündete zur eigenen Nervenberuhigung benötigen? Immer gut für den leichtlebigen älteren Bruder, wenn der biedere Kleine nicht so leichtsinnig durch die Boudoirs zieht und die Groschen für die europäische Familie zusammenhält, oddr? Vorsichtshalber

wurde die Umfrage auf die Arbeitswelt beschränkt. Hätte man nach Sex- und Gourmet-appeal (Pardon für dieses schreckliche französisch-englische Bastardwort, soll nie mehr vorkommen) gefragt, wären die Ergebnisse ernüchternd gewesen.

Keine Ahnung, wie Deutsche die Franzosen sehen. Vermutlich gar nicht, denn sie haben noch immer Minderwertigkeitsgefühle, für die der gichtige Alte Fritz verantwortlich ist. Der wollte weder was von Kant, noch von Goethe und Stürmern und Drängern wissen, Bach soll er bewundert haben, aber aus scheuer Distanz. 

In seinem Salon in Sanssouci wurde nur französisch parliert, gedacht und diniert und was war das End vom Lied? Dass Frederic le Grand mit Voltaire le Plus Grand unversöhnlichen Krach bekam. Danach das Debakel von 1871, Spiegelsaal von Versailles, zwei Weltkriege und dies alles nur aus enttäuschter Freundschaft: der inneren, noch nie angesprochenen Kehrseite der Erbfeindschaft. Tja, wir lieben uns, aber wir können zueinander nicht kommen, der Rheingraben ist viel zu tief.

Der ernste und disziplinierte Thierse würde hier sagen: da hilft nur Bildung. Doch, bitteschön, wer soll bilden, wenn Broder und unfehlbare deutsche Antisemitismus-Experten den größten französisch-deutschen Bildner und Brückenbauer, Alfred Grosser, wegen „Antisemitismus“ aus dem Verkehr zogen? Pardon, seit Theodor Lessing kann ein Jude nur Selbsthasser, kein Antisemit sein.

Eine Stellungnahme der feigen Bundesregierung zugunsten des fabelhaften Sohnes eines emigrierten Frankfurter Kinderarztes hab ich bis heute noch nicht gelesen. Wer das Protokoll des Bundestagsauschusses zur Untersuchung antisemitischer Umtriebe gelesen hat, wo Grosser von hiesigen Fundamentalisten zur Schnecke gemacht wurde – unter gnädiger Toleranz des milden SPD-Obmannes Weisskirchen – der weiß Bescheid, wie man Leute, die sich der Berliner Atmosphäre nicht fügen wollen, nachhaltig abservieren kann.

Man hat den eloquenten und verdienten Mann, der Israel aus verzweifelter Liebe schärfstens zur Rechenschaft zog, wie einen geprügelten Hund ziehen lassen. Bloß weil einige verkappte Israelhasser, die das Land ungescholten ins Elend ziehen lassen, sich das Monopol der historischen Erkenntnis unter den Nagel rissen. Versteht sich, dass darüber kein Ton in höchst kritischen Edelgazetten zu hören war. Was geht uns Franzose Grosser an? Wir lieben die Franzosen, zu tun haben aber wollen wir nichts mit ihnen.

Warum nur sieht Götz Aly die Deutschen ganz anders als die weit entfernten Gallier?  Der Historiker kann nur eigensüchtige, egozentrische und unfreundliche Neugermanen erkennen, wenn er in Berlin U-Bahn fährt. Das muss wohl daran liegen, dass Aly ein mäkeliger, beleidigter, schlecht gelaunter Rechthaber ist – würde Sibylle Berg in strahlender Laune dazu bemerken.

Was Antisemitismus betrifft, liegt Deutschland in der europäischen Mitte. Grund zur Entwarnung? Im Gegenteil. Wenn in Fußballstadien schon wieder bösartige Gesänge ertönen, Juden gehörten in die Gaskammer, Synagogen müssten brennen, dann ist Polen offen.

Routinierte Berichterstattung, politisch korrekte Empörung auf der letzten Seite unten links: das war’s in unseren Gazetten. Kein Kommentar von blaublütigen Edelfedern. Mühsam aus den Fingern gezogene Routineformeln vom Redaktionspraktikanten. Neben Polen, Ungarn gehört auch Portugal zur Gruppe der judenhassendsten Europäer? Portugal? Weit weg vom einstigen Naziterror? Was wissen wir über Portugal? Kein Thema für einen bestbezahlten Auslandskorrespondenten – oder für seine dumpf brütende Heimatredaktion.

Das jährliche Antisemitismus-Ritual einer „unabhängigen Expertenkommission“ ist jedoch derart bejammernswert, dass man sich allmählich fragen muss, ob solche erkenntnislosen Geißelungen nicht das Gegenteil von dem bewirken, was sie bewirken sollen: wiederholungsvermeidende Aufklärung.

Gibt es unabhängige Experten? Steht hier nicht jeder Experte unter verschärfter Beobachtung und ist abhängig von dominanten Zeitgeistströmungen?

Warum wird diese lächerliche Selbstbeschreibung in den Vordergrund gestellt? Soll Unabhängigkeit bedeuten, die Thesen der Kommission seien aller Überprüfung enthoben und unfehlbar wie der Papst ex cathedra? Dann befinden wir uns im Mittelalter.

Von Aufklärung kann keine Rede sein. Was die Kommission den latenten Antisemiten vorwirft – tief verankerte Klischees – betreibt sie selbst. Fast kein Begriff, der die Intelligenz eines Durchschnittslesers nicht beleidigte. Keine nur halbwegs brauchbare Definition des Antisemitismus, stattdessen rituell hergeplapperte Plattitüden: Antisemitismus basiere „auf weit verbreiteten Vorurteilen und tief verwurzelten Klischees, auf schlichtem Unwissen über Juden und Judentum.“

Über das neue Medium Internet sei solches Gedankengut nicht zu unterbinden. „Dadurch gerate die weitgehende Tabuisierung des Antisemitismus in Gefahr, wie sie bisher Konsens in Deutschland gewesen sei.“

Ist das Borniertheit professionell deformierter Historiker oder reine Frechheit? Eben wird noch das Unwissen über Juden und Judentum – zu Recht – angeprangert, dann aber eine Politik der Tabuisierung angemahnt?

Wie können in ein einer tabuisierten Gesellschaft Kenntnisse über Tabus verbreitet werden? War es nicht Broder, der sich lustig machte über die deutsche Gesellschaft, die in ihrer Geschichte noch nie so tabufrei gewesen sei? Heißt Aufklären inzwischen, das sapere aude einer über alle Zweifel erhabenen Weisheitskommission überlassen?

Wir befinden uns, was dieses brisante Thema betrifft, schon im Stadium einer allseits gelenkten Demokratie, wo Andersdenkende sofort mit dem Stigma der Judenfeindschaft bedroht werden. Dabei wäre zu fragen, ob diese kollektiven Zensur-Rituale auch nur den geringsten Beitrag zur notwendigen Bekämpfung des wahren Antisemitismus leisten oder das Tohuwabohu nicht eher verschlimmern.

Der historische Antisemitismus entstammt der Giftmenge der hasserfüllten Ablösung des Christentums vom Judentum. Seine Urparolen sind Teil des Neuen Testaments, das von Christen geglaubt werden muss und im Religionsunterricht noch heute – meist in versteckter Form – den Kindern vermittelt wird, um ins kollektive Unbewusste der Nation einzugehen.

Die neueren Formen des Antisemitismus geben sich rassistisch, links- oder rechtsfeindlich, antikapitalistisch oder sonst wie ideologisch nachgerüstet. Dennoch verdanken sie ihre Zähigkeit und innerste Substanz den noch immer vorhandenen, uralt-sakralen Wurzeln, die sich lediglich zeitgeistmäßig drapieren.

Die Urquelle des Verhängnisses bleibt das Buch der Bücher. Genau dieses darf nicht erwähnt oder akribisch unter die Lupe genommen werden, weil das hohe, ja, das höchste Gut der Seligkeitsverheißungen der Schäfchen beschädigt werden würde. Also Tabu!

Die Kirchen dulden keine Aufklärung. Wenn Thierse Bildung fordert, um das Übel zu bekämpfen, darf er als bekennender Katholik die Schrift nicht zur schonungslosen Analyse freigeben. Tabu! Das Ritual bleibt folgen- und erkenntnislos. Die Vertreter der Kirchen, überzeugt von der Wirksamkeit ihres Glaubens, geben sich erstaunt, wenn die Wirksamkeit desselben als Ursache heutiger Untaten in Erwägung gezogen wird.

Das Abendland ist zwar stolz auf seine christliche Tradition, doch christliche Faktoren in ihrer Geschichte kann es auf Teufel komm raus nicht erkennen. Und wenn denn Wirkungen, dann nur solche in Sanftmut und weltumspannender Liebe. Religionskriege, Inquisition, Hexenprozesse, Gewaltmissionierungen in aller Welt – das war gestern.

Heute sind die Stellen der Schrift, die das Unheil anrichteten, durch modernistische Interpretation zur Unkenntlichkeit verfälscht. Seltsam nur, dass sie noch immer in einem Buch stehen, das als verbalinspirierte Offenbarung eines Gottes gilt und von vielen Gläubigen wortwörtlich genommen wird, die offenbar den entscheidenden Fehler begehen, bei der Lektüre ihrer morgendlichen Losungen nicht den allerneusten Vertuschungs- und Verfälschungskommentar als Korrekturinstanz zu benutzen.

So wirkt das religiöse Gift subkutan – in fundamentalistischen Gruppen in unverhülltem Bewusstsein – bis zum heutigen Tag. 

Wie kann man der Wiederholung einer Übeltat vorbeugen? Nach Freud durch Bewusstwerden, Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Nach den Monopolhistorikern und immer brahmanischer werdenden Eliten durch Tabu, verschärftes Tabu, absolutes Tabu.

Man könne die Öffentlichkeit nicht auf die Couch legen, anamnestisch das ganze Elend ans Licht holen und national durcharbeiten, dazu fehle uns der anerkannte Megatherapeut, der alles souverän auffangen und in richtige Bahnen lenken könnte, sagte einst der schlaue Sloterdijk. Wenn Demokratie nicht in der Lage ist, ihre Probleme in aller Öffentlichkeit anzusprechen, um die subkutane Gewalt ihres kollektiven Unbewussten politisch zu therapieren, dann hat sie alle Tabus verdient, die sie sich freiwillig auferlegt.

Wundern aber sollte sie sich nicht, dass Tabuisierungen wie Dampfkessel wirken, die eines Tages explodieren, weil sie dem wachsenden Innendruck des Kessels nicht mehr standhalten konnten. Eine Gesellschaft, die mit sich im Reinen sein will, aber Angst hat vor der schonungslosen Debatte aller Aspekte ihrer waidwunden Vergangenheit, kann keine sozial günstige Prognose erwarten.

Die Gesellschaft weiß nicht nur nichts über Jüdisches, sie weiß genau so wenig über Christliches. Wie kann sie Antisemitismus verstehen, wenn er im Spannungsfeld beider Religionen entstanden ist? So wenig der Papismus einst daran interessiert war, dass seine Gläubigen bibelfest seien, (damit sie nicht zu schlau würden, um die Legitimation der Priesterhierarchie in Frage zu stellen), sowenig sind die Kirchen heute daran interessiert, ihre Gemeinden über grundlegende theologische Fragen, historisch-kritische Arbeit und interkonfessionelle Streitfragen aufzuklären. Dummheit regiert sich besser.

Auch moderne Theologen denken nicht dran, neutestamentliche Urtexte über Antisemitismus mit heutigen Wirkungen in Verbindung zu bringen. Beispiel: der Artikel von Gerd Lüdemann über den ersten Brief an die Thessalonicher in der Frankfurter Rundschau. Dort charakterisiert Paulus seine eigenen Landleute als Menschen, die „den Herrn getötet haben, Jesus, und die Propheten und uns verfolgt haben und Gott nicht zu Gefallen suchen und gegen alle Menschen feindselig sind, indem sie, um das Maß ihrer Sünden jederzeit voll zu machen, uns wehren, zu den Heiden zu reden, damit sie gerettet werden. Doch das Zorngericht ist endgültig über sie gekommen.“ (Sieht der Neutestamentler keinerlei Verbindungen zu den Nazis, die eben dieses Zorngericht mit irdischen Mitteln und in vorauseilendem Gehorsam vollstreckt haben? Wobei es nicht die geringste Rolle spielt, ob ihnen das bewusst war. Hitler verstand sich ausdrücklich als Instrument der Vorsehung, um die Juden ihrem göttlich unvermeidbaren Schicksal zuzuführen.

In einer Kultur, die seit 2000 Jahren ununterbrochen dieselbe Hassmelodie gegen jesusmordende Juden spielt, sind die psychischen Effekte dieser Rachepädagogik schon längst ins kollektive Unbewusste gesickert. In der Heilskonkurrenz zu den Juden geht’s um Sein oder Nichtsein. Entweder gewinnen die einen die Seligkeit und die andern stürzen ins ewige Verderben oder umgekehrt.

Eine schrecklichere Rivalität ist nicht denkbar. Man übersetze das theologische Vokabular des Paulus in die Sprache der Weimarer Zeit, füge einige biografische Details hinzu – und erhalte Hitlers „Mein Kampf“, ebenfalls ein absolutes Tabu.

Wer ist schuld am Antisemitismus? Haben die Juden ihn selbst durch ihre Amixia-Haltung hervorgerufen? (=Ungeselligkeit) Ein christliches Lexikon schreibt, der eigentliche Grund des Antisemitismus sei der „heimliche Protest der nichtjüdischen Menschheit gegen den Ausschließlichkeitsanspruch des im A.T. bezeugten Gottes.“

Heimlich war der Protest mitnichten, die Antike redete unverblümt vom jüdischen Hass auf die Menschheit. Dann wäre Antisemitismus nichts als eine Reaktion der Heiden auf jüdisches Verhalten? Ergo wären sie selber schuld, wenn man sie verfolgte und drangsalierte?

Historische Untersuchungen sind keine Gerichtsurteile über Schuld und Unschuld, sondern sollten zum Verständnis der anderen beitragen. Ohne Verstehen der Opfer werden die Täter immer Täter bleiben, ohne Verstehen der Täter Opfer immer Opfer. Daran hapert es in der heutigen Nichtdebatte vollständig.

Wer Ursachenforschung als richterliche Schulderforschung versteht, darf sich nicht wundern, wenn in den Schulen niemand die einfachsten Fakten zur Kenntnis nehmen will. Jede Information wird dann einer kryptischen Schuld- oder Unschuldszuschreibung verdächtigt.

Es stimmt, Deutsche verstehen nichts von Juden und Opfern, genau so stimmt, Juden verstehen nichts von Christen und Tätern. Sonst wären scheinbar naive Fragen der folgenden Art nicht möglich: wie konnte nur ein solch gebildetes Volk wie die Deutschen zu einem solch barbarischen Volk werden?

Wer so fragt, hat jüdischerseits das neutestamentliche Erbe des deutschen Antisemitismus auch nicht zur Kenntnis genommen. Vielleicht, weil auch das Neue Testament auf jüdischem Boden gewachsen ist und der Vorwurf lauten könnte: Selber schuld, Juden, wenn man euch hasst, warum habt ihr solch monströse Religionen hervorgebracht?

Nur nebenbei, Juden unisono mit Ultraorthodoxen zu identifizieren, ist absurd. Trotz ihres wachsenden politischen Gewichts sind sie noch immer eine kleine Minderheit. Wünschenswert wäre, dass die überwiegend säkulare Mehrheit sich klar von ihrer eigenen latenten Restfrömmigkeit und der unerträglichen Dominanz der Eiferer lösen würde.

Auf die Frage: „Warum liebt man uns nicht?“ antwortete seit alters die jüdische Lehre: „Weil wir schuldig sind.“ In diesem Schuldbekenntnis liege der Schlüssel „zur Pathologik unserer Volksseele“, schreibt Theodor Lessing in seinem Buch „Der Jüdische Selbsthass“ im Jahre 1930, kurz bevor er von Nazikillern getötet wurde. Dieses Leiden an seiner Schuld finde nur einen Notausgang: „Der Mensch muss glauben, dass das Schicksal mit ihm eine besondere Absicht habe. «Wen Gott liebt, den züchtigt er.»“ Leiden in Verbindung mit verdienter Strafe führe zum Phänomen „Selbsthass“.

Wer Leiden als göttlichen Liebesbeweis benötigt, ist in der Gefahr, das Leiden aufzusuchen, passiv zuzulassen und zu instrumentalisieren. Was wiederum keine Legitimation für Täter sein darf, anderen Menschen Leiden zuzufügen, weil man eifersüchtig ist auf deren extraordinäre Stellung bei einem Gott, den man nun für sich reklamiert. 

Für rabbinische Ultras ist Hitler ein unwichtiges Würstchen, ein bloßes Instrument in der Hand Gottes, um den Kindern Israels durch fürchterliche Strafen seine Liebe zu bezeugen. Aus orthodoxer Perspektive erwiesen die Deutschen den Juden nur eine verborgene Liebestat im unbewussten Auftrag Gottes. Jahwe verwandelte ihren Hass wunderbarerweise ins Gegenteil, dem Motto gemäß: die Menschen gedachten es böse zu tun, doch Gott hat es zum Guten gewendet.

Wer als deutscher Täter sich auf diese Logik beriefe, um sich reinzuwaschen, bewiese nur seine vollendete Niedertracht. Für seine Taten hat jeder Mensch, der autonom sein will, mit seiner gesamten Person einzustehen. Wer sich als Marionette eines Gottes versteht, hat es zum mündigen Menschen nicht gebracht und versteckt sich hinter monströsen Imaginationen.

All diese Fragen müssten in der deutschen Öffentlichkeit aufgearbeitet werden. Alle werden sie restlos unterdrückt. Antisemitismus ist ein religiöses Problem, das mitnichten durch Säkularisation wesenlos geworden wäre. Es hat lediglich sein theologisch-altmodisches Kostüm abgelegt und eine zeitgemäßes übergezogen.

Es wird Zeit, dass die uralten Vernichtungsgesänge zwischen den Religionen ein Ende finden, in welcher Form auch immer sie sich präsentieren. Die emotionalen Knoten und Verschlingungen zwischen Auserwählten und Verworfenen in jedweder wissenschaftlich und politisch dekorierten Form tragen wesentlich zur Unlösbarkeit der Gegenwartsprobleme bei.

Nicht der Clash der Kulturen, der Clash der Religionen ist der geheime Unruheherd der meisten Verwerfungen der Zeit. Religionen sind wie der massenhafte Gebrauch von Unkrautvertilgungsmitteln. Sie wollen Gutes bringen, indem sie das Böse radikal ausrotten. Warum nur rotten sie allzu oft diejenigen aus, die sie retten wollten?

Wenn die Menschheit überleben will, wäre eine radikale Kritik und Selbstkritik der Religionen unerlässlich.