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Tagesmail

Dienstag, 19. Juni 2012 – Lernen mit Lust

Hello, Freunde Luthers,

Frau Merkel gegen den Rest der Welt. Das muss nicht bedeuten, dass sie falsch liegt. Die aristotelische Mitte ist ein Klugheitshinweis, keine klare und unmissverständliche Regel. Es muss auch nicht bedeuten, dass sie lutherisch richtig liegt: hier steh ich, ich kann nicht anders. Und wenn die Welt voll Teufel wär, wäre ich der einzige Tugendheld.

Würde ich ständig nach einer Mitte suchen, müsste ich die Geschwister Scholl aus meiner Liste der Vorbilder streichen. Sie gehörten zu einer Nanominderheit der Unheilsgesellschaft.

Mitte von was? Welcher Gesellschaft? Aus welcher Epoche? Müsste ich heute nicht die ganze Menschheit im Auge zu haben, um eine sinnvolle Mitte auszupendeln? Dann landete ich in der Nähe chinesischer Verhaltensweisen, die mittlerweilen selbst zwischen Kollektivismus, Kapitalismus und Konfuzius zerrissen sind, sodass ich moderne Mathematik und Demografie studieren müsste, um eine Diagonale zu finden.

Nichts leichter als zwei Extreme zu finden, um jene Mitte anzupeilen, die ich schon vorher im Auge hatte. Ist eine vertretbare Form des Reichseins die Mitte zwischen Bill Gates und den Gebrüdern Aldi? Die Mitte zwischen westlichem Milliardär und Hungerleider aus Bangladesh? Wäre die richtige Form der Zivilcourage die Mitte zwischen meinem apolitischen Nachbarn zur Linken und meinem linksextremen Agitator zur Rechten?

Ist Kompromiss ein Synonym für Mitte? Kompromisse sind Verhandlungssache, oft das Ergebnis

eines mechanischen Kräftemessens, nicht unbedingt seminaristische Erkenntnisse.

Tapferkeit ist die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit, sagt Aristoteles. Stauffenberg hätte mehr Erfolg gehabt mit der Tötung des Tyrannen, wenn er nicht so zaghaft gewesen wäre, sondern den Sohn der Vorsehung tollkühn mit der Pistole durchsiebt hätte. Auch wenn er selbst zum Märtyrer des Unrechtsstaats hätte werden müssen.

Sokrates hätte den Schierlingsbecher nicht trinken müssen. War er lebensmüde, wollte er als vorbildlicher Zeuge der Wahrheit in die Geschichtsbücher?

Was ist die Mitte aus Wahrheit und Lüge, aus Demokratie und alltäglichem Faschismus, aus Protest gegen das ukrainische Regime und fußballerischer Leidenschaft? Ist rechte Freiheit die Mitte zwischen anarchischer Willkür und Untertänigkeit?

Alle Parteien drängen heute in die Mitte. Aus Kalkül ist das richtig, in der Mitte befinden sich die Mehrheiten, dort kann man Stimmen holen. Doch wenn alle verblendet sind, kann das Mittlere aus allen keine Erleuchtung sein.

Den deutschen Alleingang in Wirtschaftsfragen vergleicht Augstein mit Weimar.

Bei der Kanzlerin sind das lutherische Erbe ihrer Familie und das nationalistische Erbe ihrer Nation Hand in Hand an die Oberfläche gekommen. Nachdem sie lange Zeit ihr pragmatisch wendiges Volontariat im Westen so perfekt absolviert hat, dass man sie für eine halt- und überzeugungslose Opportunistin hielt, könnte sie momentan ihre „wahre“ Charakterstruktur zeigen: nach vielem Ausprobieren und Lernen scheint sie ihre Mitte gefunden zu haben, die sie nun gegen alle Welt verteidigt.

Eine typisch bürgerliche Biografie. Scheinbares Loslösen vom Elternhaus, sich in der Welt umschauen, Rebellieren, die Normen der Kindheit über Bord werfen. Die Sprösslinge der machthabenden Bourgeoisie toben herum wie Welpen, die man in zu engen Käfigen eingesperrt hatte, freigelassen wurden und plötzlich allen Unfug der Welt anstellen dürfen. Ist die Tobephase vorbei, verteidigen sie ihr Revier wieder als vorbildliche Wadlbeißer.

Die ursprünglichen Charaktereigenschaften – eine Zeit lang in Reaktionsbildungen überdehnt und nicht erkenntnismäßig durchgearbeitet – melden sich zurück aus ihrer verdrängten Seelenschicht und übernehmen erneut das Kommando. Gelegentlich rigider als im Elternhaus, da man seine reuige Erkenntnis als Welterfahrung deklarieren darf, um mit ihr seine Rückkehr zu den väterlichen Über-Ich-Normen zu legitimieren.

Solange im christlichen Abendland die Väter Macht & Moral besitzen, werden die einheimischen Bubis nicht allzu weit vom elterlichen Futternapf wegkriechen. Jedem Anfang liegt ein Zauber, jeder Emanzipation ein Rückfahrschein zu Papas Fleischtöpfen inne. Es kann auch die Mutter sein.

 

Als der Sohn in der preisgekrönten Schule eingeschult wurde, war er noch „charmant und liebenswert“. Doch schnell änderte sich die Beurteilung und es war die Rede von feinmotorischen Störungen, von ausgeprägten Minderwertigkeitskomplexen. Sozial und emotional sei er zurückgeblieben. Da war der Knabe gerade mal sieben und fast der Jüngste in der Klasse. Die anfängliche Freude des Knaben am Lernen war verflogen, lustlos trödelte er morgens herum und wollte nur noch widerstrebend in die Schule.

Der Rektor sprach schon lange nicht mehr von einer „süßen“ Klasse. Ein beträchtlicher Teil der Klasse galt inzwischen als Problemfall. Natürlich gab es Lieblinge der casting-erfahrenen Autoritäten, die viel von Dieter Bohlen und Heidi Klum gelernt hatten.

Hier muss endlich eine Lanze für die TV-Kanäle gebrochen werden. Unermüdlich und unbedankt erfüllen sie ihren Bildungsauftrag, meistens werden sie gar gescholten. Viele Jugendliche haben die erwünschten Formen der Selbstdarstellung schon dermaßen verinnerlicht, dass sie ihren Klassenraum als billigen Abklatsch des RTL-Studios betrachten.

Das Casting hat endlich unser Bildungssystem erreicht, durchsäuert und unsere Kinder zu fernsehtauglichen Äffchen herangezogen. Die Lehrer geizen nicht mit gewieften psychologisch fundierten Rückmeldungen, dass Freud selbst bleich geworden wäre. (In Freiburger Intellektuellen-Kreisen gibt’s kaum TV-Geräte – und wenn, sind sie im Schlafzimmer gut abgeschirmt).

Gespräche zwischen Eltern und Lehrern gab‘s fast nicht in der Vorzeigeschule, nur schriftliche Mitteilungen mittels elektronischer Maschinen. Und wenn doch, gingen die Lehrer sofort in den Angriff und forderten die Eltern auf, sich für ihre Problembälger zu rechtfertigen. Im Ethik-Unterricht erklärte eine Lehrerin, Muslime seien Analphabeten und würden sich nicht waschen.

Die BZ hat einer Mutter Gelegenheit gegeben, ihre gesammelten Schulerfahrungen in Berlin zu Papier zu bringen. Seltsamerweise gibt die Mutter vor allem sich selbst die Schuld an der Misere, sie hätte sich zu viel von der idealistisch überhöhten Schule erwartet. Dann könne man nur enttäuscht werden.

Ein merkwürdiger Artikel. Man erfährt, was die Lehrer sagten, aber nicht, was die Eltern den Lehrern sagten. Eine Analyse der verfahrenen Situation sucht man vergeblich. Welche Fehler machten die Autoritäten? Welche pädagogischen Konzepte wurden mit welcher Methode durchgeführt?

Ist es verkehrt, „idealistische Erwartungen“ zu hegen? Versteht man darunter fehlerlose Lehrer – oder die Möglichkeit, eine kritisch-wohlwollende Beziehung zu offenen Pädagogen herzustellen, damit aufkommende Probleme angesprochen, vielleicht sogar gelöst werden können?

Hält man eine förderliche Atmosphäre an der Schule für überzogenen Idealismus, hat man Kinder und Schule schon aufgegeben. Niemand kann perfekte Situationen in Schule und Gesellschaft als Geschenk von anderen erwarten. Jeder aber müsste von sich selbst erwarten, dass er an der kontinuierlichen Verbesserung der schulischen Situation mitarbeitet.

Das Ideal demokratischer Eltern und Lehrer muss eine demokratische Schule sein. Wer dieses Ideal als gemeinsame Zielvorstellung aller Beteiligten aufgibt, der betrügt das Kind um seine Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft.

Auch hier zeigt sich die versteckte Kinderfeindschaft der Deutschen, dass sie sich nicht genügend für die Fortentwicklung der Kitas und Schulen einsetzen. Wer sich mit dem zufällig Vorhandenen begnügt, gibt dem Kind subkutan zu verstehen: Solche Holzhackermethoden à la Bohlen sind gut genug für dich. Hab dich nicht so, uns ging’s noch viel schlechter.

Sie reden immer von Zukunft, doch die Zukunft der Kinder, die in den Schulen längst begonnen hat, setzen sie aufs Spiel. Wollten sie das vermeiden, müssten sie sich mit anderen Eltern zusammenschließen. Das wäre eine echte Alltagspolitik für Eltern, die nicht nur über Vereinbarkeit von Beruf und Familie faselten, sondern die Vereinbarkeit des Kindeswohls mit unseren pädagogischen Einrichtungen forderten und selbst daran mitarbeiteten.

Eltern sind hochmotiviert, die ersten Wochen und Jahre ihres Kindes zu beobachten, zu behüten und zu beschützen. Hier der neueste Schnickschnack, die Fötus-Partys im 3-D-Ultraschall.

Je mehr das Kind sich der Schulzeit nähert, je mehr lassen sie es allein. Zufällig sind es jene Institutionen, in denen sie selbst ihre schlimmsten Demütigungen erfuhren, die sie bis heute unter den Teppich kehren, damit sie sich nicht erneut mit ihren schulischen Traumata auseinandersetzen müssen. Noch heute haben sie Angst, wenn sie allein die Luft der Pauker- und Drillschulen atmen müssen.

Ab der Kita wird der Nachwuchs kritiklos den Experten überlassen. Spätestens im Gymnasium sind Eltern wie vom Erdboden verschwunden. Einzige Ausnahme: wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Bälger nicht genug gefördert werden, um im späteren Wettbewerb gegen alle Freunde die Traumkarriere zu starten.

Ihnen geht es nur um industriefreundliche Kompetenzen, nicht um solidarische, politische und humane Fähigkeiten, die es dem Nachwuchs ermöglichen, seine eigenen Ideale zu entwickeln und zu verfolgen. Man kann sich nur wundern, schreibt Popper, dass die meisten Menschen sich zu halbwegs vernünftigen Wesen entwickeln: trotz ihrer katastrophalen Erfahrungen in der Schule. Wie viele Erwachsene erzählen in freudigem Ton von ihren früheren Schulerlebnissen?

Humane Schulen erkennt man daran, dass Kinder den nächsten Schultag kaum erwarten können und jede Abwesenheit als Strafe empfinden. Hier fehlt niemand freiwillig.

Die abendländische Schule war eine Erfindung des Klerus und der Wirtschaft, um beseelte Werkzeuge zu erhalten, die bis drei zählen konnten, denen man gleichzeitig die heidnische Denkfreiheit amputierte.

Wie war‘s bei den Heiden? Lernen müsse man schon den Knaben ermöglichen, „indem man der Belehrung eine Form gibt, die das Lernen nicht als Zwang erscheinen lässt“. „Der wahrhaft Lernbegierige fühlt sich von Natur getrieben, seine ganze Kraft für die Erkenntnis des Seienden einzusetzen und kann nicht verweilen bei den vielen Einzeldingen …, sondern er verfolgt seinen Weg, ohne zu ermatten und von seiner Liebesbegeisterung zu lassen, bis er das eigentliche Wesen eines jeden Dinges erfasst hat …“ (Platon)

 

In Deutschland gibt’s zu viele Lehrer, die nicht mit Kindern und Jugendlichen umgehen können. Jeder vierte Lehramtsstudent wollte ursprünglich einen anderen Beruf ergreifen. Viele von ihnen glaubten, für höhere Anforderungen nicht befähigt zu sein. Notgedrungen entschlossen sie sich, die Paukerlaufbahn zu ergreifen, um möglichst in der Nähe von Hotel Mama eine abgesicherte Beamtenlaufbahn einzuschlagen.

Um die Spreu vom Weizen zu trennen, bietet nun die Uni Passau ein bestimmtes Casting als Eignungstest für werdende Pädagogen an. Nach Art der Assessment-Center (Gremien zur Beurteilung von Bewerbern) sitzen mehrere Experten an einem Tisch, um die Kandidaten auf „Selbstrepräsentation, Gruppendiskussion, Rollenspiel, Empathie, Körperhaltung, Sprachkompetenz und Einfühlungsvermögen“ zu testen.

Donner, viel Holz vor der Hütte. Alles abgekupfert aus der Welt des empathischen Kapitalismus. (Was ist übrigens der Unterschied zwischen Empathie- und Einfühlungsvermögen?)

Kern des Tests ist eine Empathieübung anhand eines Videos, auf dem eine Lehrerin zu sehen ist, die einen aufmüpfigen Schüler aus dem Unterricht werfen will. Der Kandidat soll zeigen, wieweit er sich in die Lage der beteiligten Akteure hineinversetzen kann.

Fängt ja verheißungsvoll an: eine Ausnahmesituation (die nur durch den pädagogischen Bankrott der Schule zustande gekommen sein kann), soll nachvollzogen werden.

Ausnahmesituationen lieben die Tester, um ihre Probanden schnell und wesenhaft nach der Devise zu erkennen: in der Not zeigt sich erst der Mann. Im normalen Leben kann man sich verstellen, in der Not zeigt sich der wahre Charakter.

Was kompletter Schwachsinn ist. Nicht die Ausnahme bestimmt die Regel, sondern die Regel die Ausnahme. (Hier schwingt noch die alte Vorliebe für Wunder mit, den Ausnahmen Gottes, mit denen er die normale Natur durchlöchert.)

Wer in der Not versagt, kann ein souveräner Meister der Wirklichkeit sein. Wer die Normalität besteht, hat größere Chancen, auch die Ausnahme zu bestehen. Mit einer hektischen Fiktion soll die Realität überprüft werden.

Dieser Noterkennungsunfug stammt aus holy america, wo man altruistische und egoistische Fähigkeiten anhand eines fiktiven Schiffsuntergangs überprüfte. Mit der Frage: das Rettungsboot hat nur x Plätze, aber x plus y Kandidaten. Wen nimmst du mit? Die hässliche Alte, das Baby, die schwangere Mami, den Kotzbrocken etc.?

Wenn Constantin, der offensichtlich authentisch sein will, erklärt, das Video mache ihm Angst, so hat er nicht mit der höheren Weisheit des Obertesters gerechnet, der ihn auffordert, Emotionen zu zeigen. Natürlich nur die, die er selbst als echte Emotionen anerkennt. Zurecht weigert sich der Kandidat, das Kind mit einem Gewaltakt zu entfernen.

(Zwischenfrage: hat der Tester Empathie mit dem Prüfling? Davon kann keine Rede sein. Die Probanden sollen etwas zeigen, wozu die Autoritäten nicht in der Lage sind.)

Zur asymmetrischen Gewalt gegenüber Kindern gehören affektive Äußerungen der Erwachsenen, die die Kinder nicht verstehen können. Der Examinand soll echt sein, indem er seine echte Reaktion unterdrücken soll. Wenn er sich wehrt: „Ich schreie kein Kind an“, wirkt er für die autoritären Zensoren „zu kontrolliert“.

Eine humane Reaktion ist für die Beobachter zu rational. Da wäre doch jene Lehrerin authentischer, wenn sie unkontrolliert einen muslimischen Schüler anblaffte, dass er heute schon wieder ungewaschen in die Schule gekommen sei. Das Ehepaar Sarrazin würde sich über solche Echtheitsakte deutscher Lehrer mit Sicherheit von Herzen freuen.

Ein zukünftiger Lehrer sei der Schule nur gewachsen, so das Gremium, wenn er sich bewusst mache, „jeden Tag Grenzerfahrungen“ zu machen.

Es gibt keine verlässliche Regel mehr, die Summe der Ausnahmen wird zur Regel. Die Schule wird zum unberechenbaren Dschungel. Der wahre Pädagoge ist ein Reinhold-Messner- oder Manager-Verschnitt, wenn er täglich seine Grenze überschreiten muss.

Kita- und Schulalltag sind vollständig determiniert von Vokabeln des brisanten und risikoreichen Neoliberalismus. Ein überschaubarer und vertrauter Schulalltag existiert nicht mehr. Es sei, man buchstabierte Normalität wie Abenteuer und Event.

O Menschlein bedenk, nicht die Berge sind dein Schicksal, sondern die grenzüberschreitende, garantiert gefühlsechte, frei und freudig erlebte Penne um die Ecke.