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Dienstag, 17. Juli 2012 – Beschneidung und Vernunft

Hello, Freunde der Komiker-Nation,

es ist ein Unterschied, ob Deutschland als Komiker-Nation die Welt erheitert oder mit humanen Taten den Unwillen anderer Völker hervorruft. In Atomfragen war es Merkel gleichgültig, was die Welt denkt.

Wäre die ganze Welt despotisch und Deutschland die einzige Demokratie, müsste es den Deutschen einerlei sein, ob geknechtete Nationen sie für Komiker halten. Wäre Deutschland die einzige Nation, die das Recht des Kindes auf ein unbeschädigtes Leben hätte, die Prügelstrafe ablehnte, müsste es den Deutschen gleichgültig sein, ob der Rest der Welt sie für verrückt erklärt.

Als vor wenigen Jahren extreme Mullahs in deutschen Moscheen begannen, die Demokratie zur satanischen Erfindung zu erklären, erhob sich ein Sturm des Widerstands. Demokratie müsse sich gegen Feinde, die sie abschaffen wollten, zur Wehr setzen. Der Multikulti-Begriff wurde zum Synonym einer blauäugigen, wenig selbstbewussten Demokratie, die sich aufgegeben hatte.

Die wehrhafte Demokratie erkühnte sich, der Selbstbestimmung einer Religion, die alles abschaffen wollte, was keine Theokratie war, die Krallen zu beschneiden.

Die Welt hat sich gedreht. Nun erkühnen sich die Religionen, der wehrhaften Demokratie, die nichts dulden will, was nicht Demokratie ist, die gottlosen Krallen zu beschneiden.

Überflüssig zu erwähnen, dass hiesige Medien, die im Zweifel nicht links, sondern

abendländisch-transzendent sind, die Rolle ihres Lebens gefunden haben: sie predigen wie in der Wolle gefärbte Savonarolas. Das Vokabular hat sich geringfügig geändert, die Sache ist die gleiche: strammstehen vor dem Tremendum und Faszinosum, vor der heiligen Tradition, den alten, uralten Ritualen.

Noch älter als uralte Beschneidungen sind archaische Menschen- und Kinderopfer. Fühlt ihr eure Köpfe schon wackeln, Laizisten, Atheisten und Agnostiker?

Alle drei Erlösungsreligionen – bis gestern in wechselnden Koalitionen aufs engste befeindet – sitzen über Nacht im selben Boot und sind dabei, den demokratischen Rechtsstaat – vorläufig im Modus der Probehandlung – zur Beute zu machen. Ist das erste Exempel statuiert, steht die profane Tür weit offen.

Savonarola – hergehört, Freunde des rechten Glaubens – ließ 1497 jugendliche Horden durch Florenz ziehen, um im Namen Christi alle Verkommenheiten dieser Welt einzusammeln und sie auf einem anheimelnden Feuerchen auf dem Marktplatz gen Himmel zu jagen.

Martin Mosebach hat schon, unter verständnisvollem Beifall der meisten seiner Kollegen, in Frankfurt die ersten Holzscheite gegen die Blasphemiker zusammengetragen.

Eine harmlose ästhetische Satire auf den kinderlosen Vater der Christenheit wird von einem Gericht binnen weniger Tage vom Tisch gefegt.

Harald Schmidts Lieblingsspruch lautet, jeder müsse das gleiche Recht haben, durch den Kakao gezogen zu werden – außer der Religion. Das gilt für die Majorität seiner Spaßvogelkollegen.

Auf Einspruch des zukünftigen Großinquisitors, des Erzbischofs Müller, tilgt der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, FDP-Löning, umstandslos den harmlosen Satz: wer Wissenschaft nicht verstehe, versuche es mit Religion.

Wie sind die Kräfteverhältnisse? BILD muss phantasmagorieren, wenn sie die Religion weltweit ihre Kohorten gegen das Komikerland sammeln sieht. Es kann bestimmt nur eine optische Täuschung sein, dass fast alle Medien mit Glaubenseifer die Religionskritiker zur Brust nehmen.

Es ist sicherlich umgekehrt: zwei bis drei rasende Religionskritiker, ohne jeden Zugang zu staatstragenden Presseorganen, sind dabei, mit unschlagbaren Steinschleudern und mentalen Drohnen die schwachen Goliaths der abendländischen Gesinnung in ihren verpanzerten Sesseln der Meinungsmacht zu durchlöchern.

Die deutsche Balance aus herrischem Glauben und der Vernunft als Magd der Theologie ist gefährdet. Wehret den Anfängen, verängstigte Kirchenväterchen und eingeschüchterte Apologeten des Himmels.

 

Wie immer bei deutschen Streitigkeiten hilft ein Blick nach Amerika, der Wiege der Toleranz (seit 9/11 auch der Bahre). Dort seien Rufe nach Blasphemiegesetzen und Beschneidungsverboten undenkbar und verboten, schreibt Hannes Stein in der WELT.

Der Artikel zitiert den ersten Zusatz zur Verfassung: „Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet …“.

Wenn man (wie neulich Micha Brumlik) die hiesige Religionsdemokratie als vorbildlich darstellt, wendet man sich mit Abscheu von den zwei laizistischen Staatsmodellen in Frankreich und Amerika. Eine offizielle Staatsnähe wie die der Christenkirchen in Deutschland wäre in Amerika undenkbar.

Wenn man gesetzesunverträgliche Handlungen der Religionen hierzulande abwehrt, verweist man auf die angeblich unbegrenzte Selbstbestimmung der Religionen in Amerika. Wie man’s gerade braucht, wird das Vorbild benutzt. Amerika, du hast es besser, du hast keine Beschneidungen und keine Schlösser.

Von wegen, Beschneidungen en masse. Nur sind sie dort faktisch erlaubt. Ob sie mit bestehenden Gesetzen kollidieren, scheint niemanden zu interessieren. Woraus nicht zu schließen wäre, der Staat stünde den Religionen neutral gegenüber.

Schaut man näher hin, bedeutet Religionsfreiheit nicht das Recht, beliebig zu handeln, sondern beliebig zu glauben. Genau das wäre der hier vertretene Standpunkt. Die Handlungsfreiheit der Religionen wurde nicht selten vom Supreme Court eingeschränkt, was mehrere Male die Zeugen Jehovas traf.

Keine Rede – wie Prantl schreibt – dass ein Beschneidungsverbot der heimtückische Versuch wäre, Religionen zu verbieten. Glauben in seinem Kämmerlein kann jeder nach Belieben, Rituale allerdings, die mit dem Gesetz nicht übereinstimmen, müssen auf Granit beißen.

In Amerika kann jeder nach Belieben eine Religion gründen. Hierzulande dauerte es Jahrzehnte, bis die Zeugen Jehovas mühsam den Status einer Kirche erhielten.

Wer sich dennoch als Religionsstifter versucht, wird von kirchlichen Sektenbeauftragten und gleichfühlenden Medien gnadenlos zur Strecke gebracht. Das waren just dieselben Mächte, die jetzt standhaft die gesetzeswidrigen Neigungen der abrahamitischen Hauptreligionen verteidigen.

Die bevorzugte Nähe der christlichen Kirchen zum deutschen Staat widerspricht fundamental der amerikanischen Doktrin: „Die Religion sollte weder eine Religion einer andern vorziehen, noch Religion dem Fehlen von Religion“. Seltsamerweise sind sich Deutsche und Amerikaner an diesem Punkt einig, sie kennen keine benennbaren Alternativen zur Religion.

Wo keine Religion ist, existiert das Fehlen von Religion. Das wäre, als ob in einer Mitgliederversammlung der leitende Macho die Anzahl der Männer abzählte und die Anzahl der Frauen unter „fehlende Männer“ notierte. Das Fehlen der Begriffe – laut Konfuzius die Ursache eines verfallenden Staates – ist kein Zufall.

Was ist Demokratie? Eine Religion? Die Amerikaner wollten Demokratie selbst erfunden haben und negierten das athenische Urbild, das kraft autonomer Vernunft des Volkes gegründet wurde. Kraft einer Philosophie, die bekanntlich im Neuen Testament von Paulus als sündige Hybris verflucht wurde.

Waren amerikanische Gründungsväter vornehmlich aufgeklärte Anhänger der Vernunft, wurde ihr Einfluss von vielen christlichen Einwanderungswellen zurückgedrängt und verfälscht, die keine Vernunft bei der Gründung ihres Neuen Jerusalem sehen wollten – sondern nur das Fehlen von Religion.

Ausgerechnet der durch Vernunft begründete demokratische Staat sollte die Leistung aufbringen, intolerante Religionen zu schützen. Zum Dank wurde er aus der Liste der Schutzmandatare gestrichen. Die Vernunft wurde zum Nichts, das Nichts zur toleranten Mutter der religionsfreundlichen Verfassung.

Die Amerikaner erlebten einen ähnlichen Aufklärungsverfall wie die arabischen Staaten, die in den Anfängen des Islam eine hochgradige Aufklärungsphilosophie kannten (die Mutaziliten), die aber von der anwachsenden Macht der Mullahs in den folgenden Jahrhunderten restlos untergepflügt wurde. (Zuvor aber konnte die arabische Philosophie die erste Aufklärungswelle in der italienischen Frührenaissance anstoßen.)

Was Hannes Stein in seinem Amerika-Artikel vollmundig beweisen wollte – dass es in den USA keinerlei Handlungsbeschränkungen der Religionen geben würde – ist falsch. Dass der amerikanische Staat einen gleichmäßig gerechten Abstand zu allen Konfessionen einhalten würde, ist ein Ammenmärchen.

Natürlich werden jüdische und christliche Kirchen bevorzugt – was man beispielsweise am mangelnden Widerstand gegen das Beschneidungsverbot sehen kann. Schließlich fühlen sich die Amerikaner als die moderne Ausgabe der Kinder Israels, die in Gottes eigenem Land das zweite Kanaan oder das Gelobte Heilige Land zum Geschenk erhielten. Vermutlich der wahre Grund für die Tatsache, dass die meisten amerikanischen Jesuaner beschnitten sind. Die geistliche Beschneidung am Herzen im Neuen Testaments scheint ihnen nicht zu genügen.

 

Die beiden wichtigsten juristischen Kommentatoren der deutschen Gazetten sind gegen das Kölner Urteil.

Für Christian Bommarius ist die Beschneidung nur ein geringfügiger körperlicher Eingriff. Ihr strafrechtliches Verbot aber würde den „Lebensnerv sowohl der jüdischen als auch der muslimischen Gemeinschaft treffen“. In keinem Land der Welt sei Beschneidung verboten.

Haut weg also das kleine Zipfelchen, es geht doch um höhere Güter, nämlich religiöse.

Der Jurist ignoriert vollständig die Problematik körperlicher und psychischer Langzeitschäden. Den Punkt der Kinderrechte deutet er nicht mal an. Die Kölner Richter hätten in kurzsichtiger und bornierter Weise nur den § der Körperverletzung zur Anwendung gebracht – ohne „einen Gedanken an die Folgen des Urteils zu verschwenden“.

Dabei hätten sie nach dem Motto gehandelt: fiat justitia pereat mundus, Recht muss gesprochen werden und wenn die Welt dabei unterginge. Damit hat er die angedrohten Folgen der Religionen als logisch-unvermeidliche Folgen des Urteils akzeptiert.

In Wirklichkeit müssten weder Muslime noch Juden das Land verlassen, sondern lediglich warten, bis ihre Kinder sich selbst entscheiden. Biblisch-autoritäre Begründungen – das Kind müsse am achten Tag beschnitten werden – kann ein Vernunftgesetz nicht akzeptieren. In der Bibel steht viel Skurriles, Schreckliches und Abstoßendes, was heute keinen Bestand hat oder haben dürfte.

Es wird keinen Völkerrechtler geben, der das israelische Anrecht auf palästinensischen Boden auf Grund biblischer Belegstellen akzeptieren würde. Die Humanisierung bluttriefender Rituale auf dem Boden der Demokratie ist Religionen zumutbar.

Michael Kohlhaas als Beleg für den Satz anzuführen, dass radikale Rechtsdurchführung totalitäre Folgen nach sich zögen, ist daneben. Kohlhaas hat Selbstjustiz wie im Wilden Westen betrieben. Damit hat er gegen alle Grundsätze des Rechts verstoßen.

Schreiendes Unrecht folgt nur aus radikalen Deutungen einseitiger Gesetze, die dem Umstand nicht Rechnung tragen, dass es – gerade bei mangelhaft formulierten oder veralteten Gesetzen – zu Rechtskollisionen kommen kann, bei denen man in der Tat abwägen muss.

In Köln handelte es sich aber nicht um Kollisionen gleichwertiger Rechte. Die Gesetzeslage war eindeutig, das Urteil – bestätigt Prantl – akkurat. Es ging um die Kollision weltlichen Rechts mit einem religiösen, das sich anmaßt, über dem weltlichen Gesetz zu stehen.

Würde der Gesetzgeber alle Gesetze der Religionen als weltliche akzeptieren, wären Scharia, Tora und die Verfluchungen des Neuen Testaments Fundamente unseres bürgerlichen Gesetzbuches.

(Christian Bommarius im Kölner Stadt-Anzeiger: „Beschnittenes Recht“)

Heribert Prantl hält das Urteil für formal unanfechtbar, aber gefühllos. Das ist ein Widerspruch in sich. Sinnvolle Gesetze – auch er bestreitet nicht, dass der § gegen Körperverletzung sinnvoll ist – bei sinnvoller Auslegung sind nie gefühllos. Sie befriedigen das Gerechtigkeitsgefühl der Rechtsuchenden. Selbst der Verlierer eines fairen Prozesses – sofern er bei Verstand ist – müsste ein richtiges Urteil als Reparatur eines zugefügten Unrechts akzeptieren.

Das Urteil war kein Akt kultureller Bekehrung, wie Prantl behauptet. Es ging lediglich um jenen Bestandteil eines religiösen Rechts, der mit dem weltlichen inkompatibel ist. Keine Religion an sich wurde gewogen und zu leicht befunden.

Die Debatte werde zunehmend aggressiver, die Emotionsverschärfung schiebt der Verfasser christlicher Kommentare bösen Religionskritikern in die Schuhe. Streit ohne Emotionen gibt’s nicht mal im Lehrbuch der Mediatoren. Die künstliche Emotionslosigkeit der gegenwärtigen Nichtdebatten ist selbst die größte Aggression, die sich als hinterhältige Coolness elitärer Meinungsführer gibt, die nichts mehr fürchten als die Hitze des Großen Lümmels. Das könnte ja zu unabsehbaren Folgen führen.

Prantl nennt es Sorgerecht der Eltern, wenn sie im Interesse des Kindes einer Operation zustimmen. Das tun sie aus medizinischen Gründen, um die Gesundheit des Kindes zu retten oder herzustellen.

Die Sorge des weltlichen Rechts bezieht sich nicht auf das Seelenheil des Kindes. Wär‘s anders, dürften die Kinder von Sektierern, die ihre Kinder nicht in die staatliche Schule schicken, damit sie ihnen zu Hause die alleinseligmachende Lehre verpassen können, nicht von der Polizei in die staatlichen Schulen abgeführt werden.

Das Recht müsse Minderheiten schützen? Spezialrechte für Minderheiten verstießen elementar gegen den Grundsatz: vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Das Recht muss alle schützen. Vor allem die demokratische Gesetzgebung selbst, die sich keinem religiösen Recht zu beugen hat. Sonst gibt sich jede Demokratie à la longue auf. Beispiele gibt’s in Israel genug, wo Ultras mit dieser Salamimethode kontinuierlich den Rechtsstaat in eine siegreiche Theokratie verwandeln.

Recht habe die Aufgabe, das Zusammenleben der Menschen so verträglich wie möglich zu machen? Unbedingt. Aber nicht durch schwächliches Nachgeben gegenüber rechtsfremden und demokratiefeindlichen Forderungen.

Rechtsfrieden kann nicht durch Rechtsbrechung herbeigeführt werden. Das Recht ist auch dazu da, Unrechtsforderungen kategorisch die rote Karte zu zeigen. In der Rechtsgeschichte der Neuzeit konnten Demokratie und Menschenrechte nur durchgesetzt werden, indem sie sich apodiktisch totalitären Religionsgesetzen widersetzten.

Zwischen Vernunft und Glaube gibt’s keine Verträglichkeit. Das ist die große Illusion des Abendlandes von Thomas von Aquin über Hegel bis zu Prantl, der – nicht anders als Bommarius – gar nicht daran denkt, die Begriffe Vernunft und Demokratie in den Mund zu nehmen. Dem bekennenden Katholiken Prantl geht es offensichtlich um die Rettung der Privilegien seiner Kirche, die gefährdet wären, wenn alle Religionen in gleichem Maße in ihre Schranken gewiesen würden.

Interessant, dass ihm nur der aggressive Ton seiner gottlosen Gegner auffällt. Dass seine eigene Religion die Gottlosen in allergrößter Agape in die Hölle schickt, ist ihm noch nicht aufgefallen.

(Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: „Vom richtigen Umgang mit Recht“)

 

Den Vogel der Debatte schießt Deniz Yüzel von der TAZ ab. Er formuliert, was Bommarius & Prantl nicht klar auszusprechen wagen.

Sein Plädoyer besteht nur aus Basta-Sprüchen. Die Religionen sollten sagen: unsere Rituale sind uns von Gott auferlegte Pflichten, Basta. Man muss nicht immer wissen, was besser ist. Basta. „Die deutsche Justiz, die sich von aller Verantwortung für den Nationalsozialismus frei gesprochen hat, hält in diesen Dingen besser die Klappe.“ Basta.

Wie nennt man Forderungen, sich nicht ans demokratische Gesetz zu halten? Terroristisch, faschistisch, faschistoid, totalitär? Die Deutschen neigen dazu, im Ernstfall keine klaren Begriffe zu haben. Wenn‘s keine Begriffe gibt, gibt’s auch keine Möglichkeiten, jemanden dingfest zu machen.

Als vor Dezennien das Recht in Deutschland beiseite geschoben wurde, kam‘s zur totalitären Katastrophe. Dass ein solcher Kommentar in einer linken Zeitung erscheinen kann, ist eine Katastrophe.

Für Prantl hat die Debatte den Charakter der Unversöhnlichkeit. Dabei misst er die Unverträglichkeit kontradiktorischer Widersprüche mit der christlichen Tugend der Versöhnlichkeit, die man an der Unversöhnlichkeit seines ewig strafenden Gottes erkennen kann.

Unversöhnlichkeit könne nur am wachsenden antireligiösen Fundamentalismus liegen. Bekanntlich waren die Erlösungsreligionen die Quellen des Friedens, der Freude und der Versöhnlichkeit gegenüber allen Heiden und Ungläubigen.

Sollte Prantl Vernunft gemeint haben, so ist in der Tat zu sagen: Vernunft ist völlig unversöhnlich gegenüber aller Unvernunft. Wäre die unvernünftig, wenn sie nicht unmenschlich wäre?

Vernunft ist die Stimme der Menschlichkeit, der Humanität. Besteht nicht die Gefahr, dass Vernunft selbst unmenschlich und totalitär wird? Natürlich. Bei Robespierre, Stalin, beim homo öconomicus rationalis, bei allen technologischen, fortschrittsbornierten und naturzerstörenden Ideologien, die sich auf Vernunft berufen.

Der Begriff Vernunft ist nicht geschützt. Jeder Wirrkopf und Machtmensch kann sich auf Vernunft berufen, um die Welt in den Abgrund zu stürzen. Zumal im Kontext einer religiös-totalitären Geschichte. Selbst bei sogenannten Aufklärern, die ihre Stimme mit der Stimme des omnipotenten Gottes ihrer Kindheit verwechseln.

Viele Aufklärer hatten noch antisemitische Charakteranteile. Was nicht bedeuten kann, dass ihre Religionskritik an sich antisemitisch wäre. Sonst wäre jede Religionskritik schon per se unmöglich.

Vernunft kann man niemanden mit Macht aufzwingen. Jeder Mensch hat das Recht auf Dummheit, sagt Feuerbach. Dumme Menschen sind keine Gegner der Vernunft. Da jeder Mensch lernfähig ist, ist jeder Dummkopf ein potentiell vernünftiges Wesen, das seine Vernunft erst entfalten muss.

Das Recht auf Dummheit ist nicht das Recht der Dummheit, die Macht zu übernehmen. Sonst wird aus Dummheit über Nacht Brutalität.

Platon verwandelte die menschenfreundliche Vernunft seines Lehrers in die menschenverachtende seines eigenen philosophischen Urfaschismus, projiziert in einen vollendeten Staat.

Vernunft per Macht ist Faschismus, wie jede Ideologie, die nicht auf demokratische Entscheidungsprozeduren und Argumente setzt.

Dem Schicksal der platonischen Vernunft kann nur entgehen, wer sie in demokratische Verhältnisse einbindet. Dort gibt es keine Vernunft, die sich selbstherrlich als die Vernunft auf den Thron setzen kann.

In der Polis, auf dem Marktplatz gibt’s so viele Ausprägungen der Vernunft, wie es Bürger und Bürgerinnen gibt, die dennoch auf der einen menschenverbindenden Vernunft beruhen. Vernunft ist fähig, die perspektivischen Verschiedenheiten der menschlichen Erfahrungen zu durchschauen, um einen gemeinsamen Konsens zu finden.

Jede Vernunft muss hier mit jeder nach fairen logischen Regeln streiten. Findet man keinen Konsens, entscheidet die Mehrheit, doch der Prozess der Auseinandersetzung geht weiter. Eine Mehrheitsentscheidung ist nicht per se die Wahrheit.

Woher vernünftige Thesen rühren, aus der Intuition, dem Traum, dem Unbewussten: einerlei. Es geht nur um die Überprüfung hypothetischer Thesen im Licht der Logik. Das ist bei Popper nachzulesen. Woher der Wissenschaftler seine genialen Ideen bezieht, ist sein süßes heuristisches Geheimnis.

Vernunft ist nicht das Gegenteil von Gefühlen, sondern die Reinigung derselben durch Verstehen und dialogische Überprüfung. Vernunft setzt auf die Macht der Argumente, nicht auf das Argument der Macht. Wie im Falle des Streites um Beschneidung die Religiösen, die nichts tun als drohen und die Deutschen mit ihrem notorischen schlechten Gewissen erpressen.

Über diese Punkte redet niemand. Für ihre schrecklichen Taten der Vergangenheit müssen die Deutschen noch immer bezahlen. Sogar mit der Beschädigung ihres Rechtsstaats. Brutaler können die Erpressungsinstrumente nicht sein, die man den Deutschen vor Augen hält. Entweder ihr macht, was wir wollen oder ihr seid noch immer unbelehrbare antisemitische Schurken.

Hier muss man unversöhnlich dagegenhalten: die einzige wahre Konsequenz aus dem Holocaust sind radikale Einhaltungen der Menschenrechte.

Dass die neueste Sprache des Antisemitismus die Sprache der Menschenrechte sein soll, ist ein unüberbietbar menschenfeindlicher Satz. Typisch, dass kein einziger deutscher Kommentator diese Sätze zitiert und vehement zurückweist.

Wer Menschenrechte mit Antisemitismus identifiziert, verhöhnt die Opfer des Holocaust. Auch wenn er sich anmaßt, im Namen der Opfer zu sprechen.

Nun droht bei einem schnellen Gesetzespfusch, was Micha Brumlik für das größte Verhängnis hielt: dass das deutsche Parlament das Gesetz nicht verändert, aber für Straffreiheit eintritt. Das wäre ein Sonder- und Gnadenrecht für die Religionen.

Was niemandem aufgefallen ist: damit wiederholte sich das sado-masochistische Verhältnis zwischen Juden und Deutschen, das im frühen Mittelalter begann. In der Summa Angelica des Angelus von Chamisso findet sich der entlarvende Satz: „Jude sein ist ein Verbrechen, das jedoch von den Christen nicht bestraft werden darf.“ (Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd.V)

Damals nannte man Juden „bevorrechtigte Parias“, das sind sie bis heute geblieben. Die Christen übertrugen die Sünde des Wuchers an die nützlichen, aber verworfenen Juden. Die Juden hatten die Christen an der Leine, weil sie sich mit ihren überlegenen wirtschaftlichen Fähigkeiten unentbehrlich gemacht hatten.

Im Bilde: jeder der eineiigen Zwillinge hatte den andern mit komplementären Methoden an der Gurgel. Beide waren durch Hass voneinander abhängig und untrennbar miteinander verbunden. Die psychotische deutsch-jüdische Symbiose brachte Europa viele Vorteile – bis die Vorteile umkippten und in die absolute Katastrophe mündeten. Soll sich das erneut wiederholen?