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Tagesmail

Dienstag, 15. Mai 2012 – Augstein und BILD

Hello, Freunde der Erinnerung,

wer sich erinnert, wird bestraft. Wer sich der Nakba erinnert, wäre beinahe im Gefängnis gelandet, wenn das entsprechende Gesetz nicht noch abgemildert worden wäre.

Nakba ist die Vertreibung der Palästinenser durch den jungen israelischen Staat im Jahre 1948. Wie die meisten Staaten in der Geschichte ist Israel durch ein kollektives Verbrechen gegen ein anderes Volk entstanden. Das Verbrechen zu revidieren, würde zu einem noch größeren Verbrechen führen.

Durch ihr Menschheitsverbrechen an den Juden neigen die Deutschen dazu, die Umstände der israelischen Staatswerdung nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Niemand fordert heute, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, es würde zu einer Weltkatastrophe führen. Es ist auch nicht möglich, dass alle vertriebenen Palästinenser wieder in ihre frühere Heimat zurückkehren.

Zwar liegt diese Forderung auf dem Tisch, der Sinn der Forderung aber soll lediglich die symbolische Anerkennung sein, dass hier ein Unrecht verübt worden ist.

Doch in Israel ist es verboten, an den Jahrestag der Nakba zu erinnern. Wer es dennoch tut, muss mit unangenehmen Konsequenzen rechnen. Die Uni in Tel Aviv laviert herum, ob sie

eine Erinnerungsfeier unterstützen soll oder nicht. Sollte sie doch, droht die Regierung mit Streichung von Geldern.

Das Nakba-Gesetz gehört zu einer Reihe von rassistischen Gesetzen, die die arabische Minderheit in Israel zu Bürgern zweiter Klasse stempelt. Dazu gehört die Regelung, die Familienzusammenführung arabischer Ehepaare zu verhindern.

Das Nakba-Gesetz ist typisch für die gesamte Ideologie des Westens. Wer die Vergangenheit missachtet, muss seiner Sünden nicht gedenken. Mit blütenweißer Weste kann er nach vorne schauen.

In die Zukunft blicken, heißt, sich vergeben zu haben. Heißt, schuldlos und ohne Ballast an einem fiktiven Punkt Null von vorne zu beginnen.

Religionen lassen sich ihre Vergehen von einer jenseitigen Instanz vergeben, auf Erden müssen sie dann nichts mehr bereinigen. Habe ich bei Gott eine gute Bilanz, kümmert es mich nicht, ob meine Nachbarn mir vergeben haben. „Gedenket nicht mehr der früheren Dinge, und des Vergangenen achtet nicht. Siehe, nun schaffe ich Neues.“ ( Altes Testament > Jesaja 43,18 / http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/43/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/43/“>Jes. 43,18)

 

Die Medien sind sensationslüstern, doch vor den wahren Katastrophen kapitulieren sie. Dazu gehören die Ramponierung des Planeten und die wirklichen Folgen der herrschenden Wirtschaftsordnung.

In Mexiko wurden 49 Leichen mit abgehackten Köpfen und Händen gefunden. „Eigentlich ist das doch keine Nachricht“, kommentiert die TAZ. Bei 50 000 Toten in den letzten sechs Jahren hätten wir uns doch längst daran gewöhnt. Es ginge nicht um einen Drogenkrieg, sondern um einen Krieg um wirtschaftliche Macht.

Während der Geld- und Machtrausch in normalen Ländern nur Arme, Gedemütigte und Verhungernde produziert, zeigt er in failed states wie Somalia und Mexiko sein wahres Gesicht:

„Die Schwachen und Missratenen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen dazu noch helfen. Was ist schädlicher als irgendein Laster? – Das Mitleiden der Tat mit allen Missratenen und Schwachen.“ (Nietzsche: „Der Antichrist“)

Nietzsche gilt in deutschen Feuilletons noch immer als verkannt, wenn man ihn als Vorläufer des Nationalsozialismus und als Antisemiten bezeichnet.

Das Mitleiden mit Missratenen und Schwachen hielt Nietzsche für ein Zeichen des Christentums. Da hat er wohl die Kleinigkeit übersehen, dass alle Missratenen ewig in der Hölle schmoren und die wenigen Starken den finalen Sieg erringen werden.

Mit seiner Verherrlichung der Sieger der Geschichte blieb Nietzsche der gute Sohn seines Pastorenvaters, trotz halbherziger Kritik am Credo im Antichrist. Selbst diese wird heute nicht ernst genommen. So Gadamer, der den Antichrist für ein lächerliches Buch hielt – das heute niemand mehr kennt und niemand liest.

Die Deutschen fliehen aus den Kirchen, aber nicht aus dem Heiligen, das sie irgendwo auf der Welt mit der Seele suchen. Weshalb sie Weltmeister in Tourismus geworden sind.

Im Kampf gegen Antisemitismus und antidemokratische Bestrebungen fällt die merkwürdige Tatsache auf, dass geringe Gefahren reflexartig hochgerechnet, die wirklichen Gefahren gar nicht beachtet werden.

Der totalitäre Platonverehrer und Stalinist Badiou wird in Berliner Salons als neueste Offenbarung gefeiert, Nietzsche wird nach derselben Methode entschärft wie die Bibel. Hat ein Werk Plus- und Minusinhalte, werden die lobenswerten Plusinhalte ausgebreitet, die schrecklichen ignoriert oder verharmlost.

Micha Brumliks Buch über antisemitische Gedanken bei unseren Denkern blieb ohne Echo. Man will die Spuren, die ins Massaker führten, nicht bei unseren Größten finden.

Als ein amerikanischer Germanist vor Jahren die Kritik Börnes an Goethe wiederholte, der große Minister sei ein Fürstenknecht und Befürworter der Todesstrafe gewesen, schlug ihm blanker Hass entgegen. Wer solch schöne Dinge sage: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, könne kein Unmensch sein.

Nach dieser hermeneutischen Methode der Theologen und Historiker wäre kein Verbrecher zu überführen. Auch die größten Bösewichter sind die meiste Zeit ihrer Biographie nette Babyküsser, denen man nicht zutraut, ihre eigenen Schäferhunde zu prügeln.

Seit Hume die Kausalitäten außer Kraft gesetzt hat, gibt es keine kausalen Zuschreibungen mehr. Es wäre ja auch von erschütternder Eindeutigkeit, jenen Verdächtigen, der das Rattengift in den Tee mischte, als Mörder zu bezeichnen. So schwarz und weiß kann die Welt unmöglich sein.

Hat man sich aber mal auf eine Bestie eingeschossen, bleibt umgekehrt von seinem Menschsein nichts mehr übrig. Breivik & Co müssen aus dem Spund der Hölle gekrochen sein.

Hat man die Bestie anatomisch zerlegt, wie der SPIEGEL den Norweger, ist das Interesse schlagartig am Ende. Wie der Prozess weitergeht, darüber liest man in deutschen Medien fast nichts.

 

Augstein will‘s endlich wissen und seinen Vater – den Rudolf, nicht den Martin – in den Schatten stellen. Sein Lebensziel hat er auf die Ladentheke geknallt: die BILD gehört in die gute Stube. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, das gelte nicht mehr.

Antje Vollmers Kritik an BILD sei von gestern. Wollten denn die rückwärts gerichteten Gutmenschen das gebeutelte Blatt immer noch nach seinem früheren Image beurteilen? Vorurteile, Vorurteile.

Soll es kritisierenswert sein, das Blatt aus der Gosse zu holen, wie Diekmann sich seit Jahren bemüht? Die Frage ist berechtigt. Wie lautet die Antwort? Radio Eriwan: im Prinzip nicht. Hängt aber davon ab, wie man das macht. Dazu schreibt Augstein kein Wort.

Seinen früheren Kollegen Leyendecker greift er an, ohne dessen Kritik an der BILD zu recherchieren. Nein, wozu? Augstein will bestimmt keinen Nannenpreis für Recherche.

Im deutschen Journalismus kommt niemand auf die Idee, strittige Fragen im öffentlichen Streitgespräch zu klären. Leyendecker hat als Begründung für seine Ablehnung immerhin von „Kulturbruch“ gesprochen. Garniert mit dem Jesuszitat: Eure Rede sei Jaja und Neinnein. Mit anderen Worten, er wirft dem Springerblatt Verlogenheit vor.

Alles übertrieben, Herr Augstein? Warum rufen Sie nicht mal bei ihren früheren Kollegen an und lassen sich die Gründe der Ablehnung en detail erklären?

BILD, so Augstein, mache Boulevard „mit allen Mitteln“. Mit welchen? Auch unkoscheren?

Doch handwerklich sauberer Journalismus gehöre immer häufiger auch dazu. Intrinsische Kopfnote: der Saubär von der letzten Bank bessert sich, er sagt immer häufiger Guten Tag.

Intrinsische Bewertungen sind in der Tat lobenswert. Aber nur dann, wenn auch ins Zeugnis kommt, was der Rehabilitant noch immer nicht kann und wo er sich verbessern muss. Wenn jemand in Französisch von null auf 100 Vokabeln kommt, ist das für ihn eine große Leistung. Aber gewiss kein Grund, ihm den Prix Goncourt zu verleihen.

Auch die seriösen Gazetten, so der FREITAG-Herausgeber – würden immer boulevardesker. Es gebe eine allgemeine Annäherung und das sei gut so.

Auch die TAZ solle sich nicht so aufblasen, sie lebe davon, in täglicher Abhebung von dem „Schmuddel- und Hetzblatt“ ihr Profil zu stärken. Wo habe die Schlagzeile in Gossensprache gestanden: Berlin kriege keinen mehr hoch? In der sauberen TAZ, die nun in der Person ihrer Chefin Gift und Galle spucke.

Der ewige Kampf gegen BILD sei der Kampf gegen die eigenen Dämonen, so der leidenschaftliche Bewährungshelfer für BILD, der es für richtig hält, seinen wöchentlichen Plapperwettbewerb mit Blome von BILD erst gar nicht zu erwähnen. Wandel durch Annäherung gelte für beide Seiten.

Nehmen wir mal an, die Tatsachen wären damit zutreffend beschrieben, wo bleibt die Wertung? Hält Augstein die Konvergenz in der Mitte des Sumpfs für richtig? Eben noch kritisierte er das Eindringen der Gassensprache – oder war das auch nur eine neutrale Beschreibung? –, nun segnet er alles ab.

Augstein will wohl in ferner Zukunft ein Imperium aus BILD, SPIEGEL und FREITAG schmieden. Schluss mit links und rechts.

Links war ja auch nur im Zweifel angesagt. Die Zweifel scheinen langsam zu schwinden. Ab Mitte des Lebens wird bei aufrechten Deutschen die aufmüpfige Pubertätsphase beendet. Es beginnt das Driften in Freiheit und Verantwortung.

Boulevard scheint für Augstein ein harmlos-oberflächliches Flanieren durch die Fußgängerzone zu sein. Man trinkt einen Espresso bei Giovanni, schaut, guckt und schreibt auf, wer mit wem händchenhaltend des Weges kommt: harmloses Schwatzen in Form eines sozial verträglichen, den Gemeinschaftskörper stabilisierenden Gerüchtebildens. Und das soll BILD sein oder gewesen sein?

Es gehe letztlich nur um Glaubwürdigkeit, so Augstein, dafür müsse jedes Blatt selber sorgen. Wer sonst? Tut das denn das Massenblatt? Augstein gibt keine Wertung ab. Hat er selbst keine Kritik? Keine Kritik mehr an BILD?

Alles macht er am Stil fest. Le style, c’est l’homme. Le style, c’est la gazette? Kommt es nicht auch ein bisschen auf den Inhalt an, auf Argumente und Atmosphäre? Womit wir erneut bei Kracht wären und immer besser verstehen, warum der Anbeter der Form eine solch fabelhafte Presse bei der Presse hat.

Es muss sich was tun bei unseren Edelschreibern. Offensichtlich gibt’s einen Rutsch sprachlicher Verelendung und einer unaufhaltsamen Gossenassimilation. Man schreibt nicht mehr in Schönschrift und geziertem Sütterlin, selbst Kanaksprache ist kein Tabu mehr.

Die Krawatten haben sie schon lange ausgezogen, jetzt ziehen sie beim Verfassen ihrer unsterblichen Tageskommentare die weich fließende Cashmere-Jacke aus und beginnen – wie ihre teutonischen Landsleute auf Ballermann in Mallorca – ihre verdrängte Koprophilie zu entdecken.

Deutsche waren schon immer anale Charaktere. Sie schrieben vor allem mit der Über-Ich-Feder, nie mit Leib- und Körperregungen. In der Nachkriegszeit bildete sich ein zugeknöpfter Nadelstreifenstil, der sich ab 68 bei den Linken adornisierte und sich später in Sloterdijk‘schen Wolkenbildungen ins postmodern-Ungefähre verflüchtigte.

In welchem Dandystil auch immer, die durchgängige Devise blieb bis zum heutigen Tag: nur nicht verständlich werden.

Erst in Distanz zum Pöbel zeigt sich die vornehme Bügelfalte. Kein Wunder, dass die Pöbelnische nicht lange unbesetzt bleiben konnte.

Je gebildeter die einen, je lutherischer die anderen, die dem Volk aufs Maul schauten, wenngleich die Hetze nicht mehr gegen die Papisten, sondern gegen jene ging, die BILD für vaterlose Gesellen hielt.

Die deutsche Presse ist in einer Grundlagenkrise. Doch Augstein hält es schon für eine Heldentat, die wilden Gesellen in den Salon der Eltern zu führen – wenn sie zuvor ihre Klumpschuhe ausgezogen haben.

Seit mehr als einer Dekade unterstützen die Tagesbeobachter den Neoliberalismus, indem sie alles Linke zu Retrokitsch und Klassenkampfgetue abmeierten. Selbst linke Gazetten waren vom Geist der Spekulation mehr als angekränkelt.

Erst nach welterschütternden Finanzkrisen bequemte man sich in den Mahagoni-Redaktionen, die neu aufkommende Attac-Mode zu übernehmen. Heute ist man genauso uniformiert bankenkritisch wie vor Jahren uniform-allergisch gegen Gerechtigkeit und Neid von unten.

Wer von Parteienverdrossenheit spricht, sollte von Presseverdrossenheit nicht schweigen. Gegen den Rest der Gesellschaft – der ja nur aus ihren Lesern besteht – sind die Vermittler verpanzerter und abgeschlossener als Fort Knox gegen Goldräuber.

Die zwei Dutzend Großschreiber, die das öffentliche Forum der BRD beherrschen, sind sich völlig einig im Abwehrkampf gegen alle, die sie um ihre Posten beneiden: nicht bewegen, nicht rühren, nichts sagen.

Wenn das keine Steilvorlage für ihren momentanen Guru ist, der auf allen Hochzeiten tanzt, in geschwätziger Suada, nie mehr etwas Sinnvolles zu sagen.

Untereinander belauern sie sich, doch offene Kritik bleibt die Ausnahme und wird sofort zum Sautreiben durchs Dorf hochgeschrieen. Eine selbstverständliche Auseinandersetzung zwischen oben und unten gibt es nicht.

Leserbriefe werden vielleicht zur Kenntnis genommen, doch keine Edelfeder von Rang hält es mit ihrer grundgesetzlichen Würde vereinbar, persönlich Stellung zu beziehen. Das nennt man einen angstfreien Diskurs unter Taubstummen.

In der Mitte der Demokratie, auf dem virtuellen Marktplatz, herrscht Shitstorm von unten und eisernes Schweigen von oben. Die medialen Platzhirsche halten sich für das Zentrum der Demokratie. Dabei kann man sich nur wundern, dass trotz der stummen Vierten Gewalt, die geschwätziger nicht sein könnte, noch Reste der Demokratie vorhanden sind.

Augstein Rudolf soll seinen Leuten gesagt haben: lernt, lernt, lernt. Vor Herzeleid muss er sich ins Messer gestürzt haben, als er merkte, dass er in den Wind gepredigt hatte.

Elke Heidenreich mäkelt ein wenig an der Nannen-Farce herum.

 

Der intellektuelle Held der Presse der letzten Dekade war ein gewisser Peter Sloterdijk. Es ist kein Zufall, dass der Scharlatan synchron mit seiner Fan-Meute ins Trudeln kommt. Wer sich je durch die ersten drei Seiten eines Scharlatanbuches hat zwingen müssen und mit schlohweißen Haaren davon gekommen ist, dankt seinem Schöpfer auf den Knien, dass er ihn wie Jona aus dem Walfischbauch gerettet hat – auch wenn er seinen Retter noch nie in seinem Leben zu Gesicht bekam.