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Dienstag, 14. August 2012 – Export- und Tugendüberschuss

Hello, Freunde Ägyptens,

bislang galt das Militär in Ägypten als unangreifbarer Block. Nun wurde es in einem geschickten Schachzug von Präsident Mursi entmachtet. Ein großer Schritt in eine demokratischere Zukunft – wenn Mursi nicht zum neuen starken Mann wird, der es mit der Gewaltenteilung nicht so genau nimmt. Jetzt hängt alles von der neuen Verfassung ab, die zurzeit erarbeitet wird.

Die Türkei habe dreißig Jahre gebraucht, um die Generäle aus der Politik zu entfernen, schreibt Karim El-Gawhary in der TAZ. Ägypten schaffte es in 18 Monaten. Ein Hoffnungszeichen.

 

Deutschland führt mehr Waren aus als es ausländische Waren einführt. Der Exportüberschuss führt zu Schulden in anderen Ländern, somit zum Ungleichgewicht zwischen den Nationen. Da die Deutschen nicht genügend verdienen, oft sogar weniger als in früheren Jahren, können sie sich ausländische Waren nicht leisten.

Schröder hat Hartz4 eingeführt und die Löhne einfrieren lassen, um die „Wettbewerbsbedingungen“ des inländischen Standorts zu verbessern, womit er einen erheblichen Beitrag zur Störung des internationalen Gleichgewichts geleistet hat. (Nicola Liebert in der TAZ: Deutschland verliert das Gleichgewicht)

Wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Völkern folgen dem Prinzip des Tauschs, dessen grundlegende Formel Adam Smith formulierte: Gib mir, was ich brauche und du erhältst von mir, was du benötigst.

Die deutsche Exportwalze hat den Satz verändert: Ich gebe dir, was

du brauchst, benötige von dir aber nichts. Denn du hast nichts zu bieten, und wenn doch, kann ich mir deine Angebote nicht leisten.

Je effizienter eine Nation produziert, je weniger es die Waren anderer Länder konsumiert, je stärker wird das Gefälle zwischen den beiden Tauschpartnern, die immer weniger tauschen und immer mehr in einen einseitigen Geber und einen einseitigen Nehmer auseinanderdriften.

In der herrschenden Religion der westlichen Wirtschaft ist das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen grundlegend gestört: Geben ist seliger denn nehmen. Paulus predigte den Gemeinden das Wort Gottes, wollte aber von ihnen nicht bezahlt werden. Lieber arbeitete er als Zeltmacher mit eigenen Händen, als von den Gemeinden abhängig zu sein.

Über diese Stellen predigen moderne Seelenhirten weniger gern. Ihre Kirchensteuern lassen sie sogar vom Staat eintreiben. „Silber oder Gold oder Kleider habe ich von niemandem begehrt; ihr wisst selbst, dass für meine Bedürfnisse und für meine Begleiter diese Hände gesorgt haben. In allen Stücken habe ich euch gezeigt, dass man so arbeiten und sich dann der Schwachen annehmen kann.“ ( Neues Testament > Apostelgeschichte 20,33 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/apostelgeschichte/20/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/apostelgeschichte/20/“>Apg. 20,33 ff)

Heute wäre Paulus ein kapitalistischer Ignorant, Gegner des Tauschs. Für die kostbare Himmelsware, die er anzubieten hatte, gab es keine irdische Äquivalenz.

An anderer Stelle wird das Prinzip tauschloser Autarkie vertieft: „Wir ermahnen euch aber, ihr Brüder, ein stilles Leben zu führen und eure eignen Angelegenheiten zu besorgen und mit euren Händen zu arbeiten, wie wir euch geboten haben, damit ihr wohlanständig wandelt gegenüber denen, die draußen sind, und nichts bedürft.“ ( Neues Testament > 1. Thessalonicher 4,10 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/1_thessalonicher/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_thessalonicher/4/“>1.Thess. 4,10 ff)

Das nennt man außengeleitete Moral. Was denken die andern über uns? Just diejenigen, die man sonst als Ungläubige verachtet, attackiert und in die Hölle verfrachtet. Natürlich die wesentliche Frage: was denkt Gott über uns? Was man selbst über sich denkt, ist einerlei.

Die Fremdeinschätzung durch Gott und andere Autoritäten nennt Freud „Über-Ich“. Ein reifer Mensch hat sein Ich zu entwickeln. Wo Es war, soll Ich werden. Das Es ist das Kollektiv wüster Triebe und emotionaler Begehrungen.

Dummerweise schrieb Freud nicht: Wo Über-Ich war, soll Ich werden. Das wäre viel notwendiger gewesen als ein paar maßlos dämonisierte Triebe an die Leine zu legen.

Die Stimme des Himmels ist weitaus schwerer zu bekämpfen als die Stimmen aus dem natürlichen Untergrund. Was sagt das göttliche Über-Ich zum Exportüberschuss? Es bejaht es, fordert es unbedingt und macht es zur Bedingung der Seligkeit. Natürlich der Exportüberschuss in moralischen Dingen.

Hier im Geistigen gründet alles andere. Wer dem Heiligen den höchsten Stellenwert zumisst, der hat sich gegen Marx entschieden: das heilige Bewusstsein bestimmt das unheilige Sein. Wenn das Sein alles bestimmen würde, gäb‘s keine Autonomie. (Die Ex-Linken sollten sich mal klar äußern, ob sie noch immer den Menschen entmündigen wollen, um ihn mündig zu machen).

Das heilige Bewusstsein sagt unmissverständlich: Tugenden, moralische Wohltaten exportieren und keine importieren. Sonst wird man von jenen abhängig, von denen man importieren muss. Und das sind zumeist gottlose Heiden.

Das beginnt mit dem heuchelnden Verbot der Rache – weil Gott selbst rächen will. Man kann also den ungleichgewichtig-frömmelnden Eindruck erwecken, dem andern moralisch überlegen zu sein, indem man auf das primitive Vergeltungsmotto (Talionsprinzip) „Auge um Auge“ verzichtet und auf ein höheres Prinzip der liebenden Vergebung umsteigt.

(Übrigens ist das der Grund, warum Christen glauben, sich Juden überlegen fühlen zu dürfen. Eine erschlichene Überlegenheit. Auf Vergeltung kann man leicht verzichten, wenn man eine stellvertretende himmlische Vergeltungs- und Rachebehörde zur Verfügung hat.)

Christen müssen immer besser sein als alle anderen. Sie müssen die Ungläubigen tugendgemäß in den Schatten stellen. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge und Zahn um Zahn“. Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen nicht widerstehen sollt; sondern wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den andern dar.“ ( Neues Testament > Matthäus 5,38 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/5/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/5/“>Matth. 5,38 ff)

Womit geklärt sein müsste, was das ominöse Sätzchen „Widerstehet nicht dem Bösen“ bedeuten soll. Man soll sich moralische Meriten verdienen, indem man sich mit dem Bösen nicht auf dieselbe Stufe stellt. Einerseits. Weil man andererseits weiß, dass der Herr persönlich dem Bösen an die Gurgel geht.

Als sündiger Mensch kann man das Böse eh nicht besiegen. Das muss der Sohn des Himmels erledigen, damit man ihn in Oberammergau regelmäßig ans Marterholz nageln kann.

Wichtiger ist der Wettbewerb mit den Heiden. Den muss man unbedingt gewinnen, um nicht die ganze fromme Innung vor der Welt zu blamieren. Olympiade der Tugendhaftigkeit auf der Basis bigotter Regeln.

Man könnte auch mit dem germanischen Mythos kommen. Siegfried mit der Tarnkappe besiegt die jungfräuliche Brunhilde, der schwächliche Gunter aber darf sie offiziell beglücken. So im Christentum. Gott räumt den Bösen zur Seite und die Christen blasen die Backen auf, als hätten sie das Wunderwerk vollbracht.

Wichtig ist der Schein vor der Welt. Die soll denken: wau, was sind Christen moralische Giganten. Eine geniale PR-Werbung, um die teuflische Welt zu beeindrucken und für den rechten Glauben zu werben. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, welche euch verfolgen. … Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

Das ist eine geschickte Antwort auf die unterdrückte Frage: warum gibt’s überhaupt noch Bösewichter, wenn Gott alles in der Hand hat und sie längst aus dem Verkehr hätte ziehen können? Antwort: weil er es so will. Bevor er das Ende der Zeiten einläutet, will er mit seinem teuflischen Alter Ego noch Katz und Maus spielen.

Erst im Jüngsten Gericht wird der hässliche Gnom für immer höllenwärts entsorgt. Solange müssen die Schäfchen sich vom Bösen plagen lassen – und ihn aggressiv mit ihrer Tugendhaftigkeit beschämen.

Gäb‘s kein Böses mehr in der Welt, könnten sie ihre weltbesiegende Agape an keinem Objekt beweisen und Verdienste für den Himmel sammeln. „Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was habt ihr für einen Lohn? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe? Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Durch Werke des Glaubens verdiene ich himmlischen Lohn, so glaubten die Katholiken vor Luther. Insgeheim glauben alle Christen noch immer dran. Als gläubige Menschen sind sie vollkommen (nicht empirisch, aber vor Gott) und produzieren mehr gute Werke als sie benötigen, um selig zu werden.

Dieser Idee entstammt das Ablasswesen. Der Sünder bezahlt sein Scherflein und kauft sich einen Anteil am Schatz der im Himmel aufbewahrten disponiblen guten Werke. Geldwährung gegen Tugendwährung. Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.

Nur Exportvorgänge im Allerheiligsten. Der Gläubige produziert mehr gute Werke, als er selber benötigt, um selig zu werden (opera supererogationis). Mit dem doppelten Effekt: der Nichtgläubige wird unsterblich blamiert, der sündige Möchtegernchrist kann dennoch gerettet werden – wenn er den Geldbeutel öffnet.

Der Tugendexport dient Gläubigen und Glaubenswilligen, ramponiert aber und beschädigt die Ungläubigen, die im Kontrast zu den Vollkommenen wesentlich sündiger und böser aussehen als sie eigentlich sind.

Paulus hat den Vorgang des Beschämens durch gute Werke präzis auf den Punkt gebracht: „Rächet euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben, „Mir gehört die Rache, ich will vergelten“, spricht der Herr. Vielmehr, „wenn dein Feind hungert, so speise ihn; wenn er dürstet, so tränke ihn, denn wenn du dies tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ ( Neues Testament > Römer 12,19 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/12/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/12/“>Röm. 12,19 ff)

Wer hier nicht das Debakel des deutschen Exportschusses „an guten Werken“ erkennt, um Griechenland und anderen Verliererstaaten glühende Kohlen aufs Haupt zu sammeln, hat gepennt.

Luthers Gnadenlehre ist nie ins deutsche Volk durchgedrungen. Wer soll das auch verstehen: einerseits alles Gott überlassen, gleichzeitig aber sein ganzes Leben lang in Angst um seine Seligkeit Tugenden produzieren, als hinge alles von einem selbst ab. Das kann kein pflichtbewusster Kantianer und preußischer Untertan nachvollziehen.

Selbst nach Luther sollen wir handeln, als ob es Gott nicht gäbe. Eine kühne Haltung, die man als pragmatischen Atheismus bezeichnen könnte. Luthers Rechtfertigung „allein durch den Glauben ohne Zutun der Werke“ blieb ein theoretisches Konstrukt für eine Handvoll Theologen, die tun müssen, als hätten sie es verstanden.

Emotional hat sich das als politische Untertänigkeit ausgewirkt. Ein Christ hat alles Gott und seiner berufenen Obrigkeit zu überlassen, an deren Gnadenwirkung er blind zu glauben hat.

Heiden und Nichtgläubige sind Feinde des Christen, die er mehr zu lieben hat als möglicherweise sie ihn. Tugendhafter Exportüberschuss muss erwirtschaftet werden, um den Feinden ihre wesensmäßige Inferiorität knallhart vor Augen zu führen. Exportüberschuss dividiert auseinander und selektiert in Erwählte und Verworfene.

Womit wir die Krise Europas aus ihren theologischen Urgründen erklärt hätten. Deutschland ist von manchen lutherischen Macken gezeichnet, doch in ökonomischen Dingen sind wir auf dem Stand der verdienstlich-katholischen Werke stehen geblieben, die uns den himmlischen Lorbeerkranz, den anderen Heulen und Zähneklappern bescheren.

Doch jetzt kommt das dicke Ende, wenn wir die theologischen Faktoren in die moderne Welt übertragen. Im mittelalterlichen Weltbild gibt’s keine Probleme mit der einseitigen Überflussproduktion verdienstlicher Werke. Die einen fahren gen Himmel, die anderen mit glühenden Kohlen auf dem Haupt in die andere Richtung (wo Kohlen fürs höllische Feuer dringend benötigt werden).

Doch im säkularen Europa sollten keine Nationen selektiert und gedemütigt werden – wenn man dem Sonntagsgerede von der europäischen Einheit folgen will.

Hier sehen wir endgültig, dass uralte Selektionsmechanismen und Auseinanderdividieren per Wettbewerb niemals verträglich sein werden mit politischer Solidarität. Entweder Gleichgewicht oder Sieger und Verlierer. Ein Drittes gibt es nicht.

Gleichgewicht aber muss bewusst hergestellt werden als Geben und Nehmen auf gleicher Augenhöhe. Gleichgewicht setzt gleiches Gewicht aller Partnerländer voraus. Eine austarierte störungsfreie Weltwirtschaft setzt die gleiche Wertigkeit aller Weltspieler voraus, die sich durch Absprache verpflichten, niemanden durch wegbeißende Tüchtigkeit und profilneurotisches Besiegenmüssen ins Elend zu schicken.

Die Starken können ihre größere Muskelkraft nicht einsetzen, um die Schwachen in der Luft verhungern zu lassen. Schwächen und Stärken haben sich anzugleichen und eine stabile Homöostase zu bilden. Der zum Fetisch erhobene Wettbewerb muss in den Dienst der Menschen gestellt werden.

Vernünftige Völker werden sich absprechen, was und wie viel sie jeweils produzieren müssen, um die Menschheit zu versorgen und gut zu versorgen. Und kein Jota mehr. Die Wirtschaft muss den Bedürfnissen des Menschen untertan gemacht werden, nicht die Bedürfnisse einem amoklaufenden Produktionsmoloch, der ständig neue Bedürfnisse erfinden und erlügen muss, um seinen überflüssigen, ja längst schädlichen Schrott loszuwerden.

Der fremdschädigende Wettbewerb (Kohlen auf dem Haupt) wird abgeblasen. Es gibt nur noch freundschaftlichen Wettstreit der besten Gedanken und Ideen, wie wir friedlich – solange die Natur uns erträgt – auf Erden verweilen können.

Das wird nicht gehen ohne Unterpflügen einer archaischen Glaubenslehre, die auf dem Prinzip des ewigen Ungleichgewichts zwischen den Menschen aufgebaut ist. Es gibt keine überproduzierenden Übermenschen und es gibt keine ökonomisch und moralisch unterwertigen Versagernationen.

Nur eine Weltwirtschaft, die sich von der konkurrenzorientierten Übermächtigungs- und Suizidalökonomie verabschiedet, hat den Fluch des Wachstums überwunden.

Hier sehen wir, wie alles sinnvoll ineinandergreift. Nur eine Wirtschaft ohne feindseligen Wettbewerb kann Wachstum verhindern, Störungen des internationalen Gleichgewichts vermeiden und den verhängnisvollen Zwang besiegen, die Natur auszubluten.

Solange wir es nötig haben, unseren Konkurrenten glühende Kohlen aufs Haupt zu exportieren, so lange werden sie uns postwendend als Zwietracht und Feindseligkeit re-importiert werden.