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Dienstag, 12. März 2013 – Betrug der Natur

Hello, Freunde des Betens,

das Prinzip des Stellvertretens ist das Urprinzip des outsourcing. Stellvertretend am Kreuze leiden, büßen, bereuen, glauben: übergib alles dem Herrn, er wird’s wohl richten. Der Mensch kann sein Leben nicht führen, er muss alles einem Gott überlassen.

Er kann die Gesetze nicht halten, also braucht er jemanden, der für ihn die Gesetze erfüllt. Er kann seine Schuld nicht abtragen und bereuen, also braucht er jemanden, der für ihn die Schuld auf sich nimmt und für ihn vor Gott eintritt. Er kann nicht mal richtig glauben, also braucht er jemanden, der für ihn glaubt: Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben. Er kann nicht richtig beten, also muss der Heilige Geist für ihn formulieren, was er in der Tiefe seiner dunklen Seele fühlt.

Der Mensch muss sein ganzes Leben outsourcen, er ist nicht kompetent, für sich und seine Mitmenschen zu sorgen. Er weiß noch nicht mal, wofür er bitten soll. (Erik Wenk in der TAZ)

Er kann nicht richtig für sein Leben sorgen, also braucht er jemanden, der für ihn sorgt. Sorget euch nicht um eure täglichen Bedürfnisse, Euer himmlischer Vater weiß ja, dass ihr all dieser Dinge bedürft. Sorget euch nicht um den morgenden Tag, denn der morgende Tag wird seine eigene Sorge haben. Der Mensch ist nicht fähig, echte Zukunftsvorsorge zu machen, er soll alles dem Gott überlassen.

„Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch!“ „Sorget euch um nichts, sondern in allem lasset eure Bitten

vor Gott kundwerden.“ Denn euer menschlicher Verstand taugt nichts, überlasst alles dem Verstand des Herrn: „Und der Friede Gottes, der allen Verstand überragt, wird euch bewahren.“

Das ist das Geheimnis der aktuellen Zukunftsbesessenheit: immerfort an die Zukunft denken – aber nie im konkreten, sorgenden Sinn. Wer sich sorgt, übernimmt Verantwortung. Wer wirklich an die Zukunft dächte, dächte an die Gegenwart.

An die Gegenwart denkt heute niemand, höchstens im Sinn der Abrissbirne. Wer sich um Gegenwart sorgt, will Sicherheit. Sicherheit aber ist Gift für jedes Zukunftsrisiko. Die schöne, verlässliche, bewährte Gegenwart ist das, was Zukunftsbesessene hassen wie die Pest.

Sorgt füreinander, heißt, kümmert euch umeinander. Wer sich rational sorgt, will Probleme vertreiben und das Menschenmögliche tun, um das Leben freudig und sorgenfrei zu gestalten. Echte Obsorge stellt die Zukunft in den Dienst der Gegenwart, riskante Sorglosigkeit gefährdet jede Gegenwart um einer illusionären Zukunft willen.

Für Popper war das Leben ein einziges Problemlösen – um die Zahl der Probleme zu reduzieren und die bestmögliche Lösung für die Gesellschaft zu erzielen. Nur um des Problemlösenwillens wollte er überhaupt philosophieren. Andere Gründe zum Philosophieren ließ er nicht gelten.

Probeweise sollte die vernünftigste Lösung eingeführt und überprüft werden. Wenn sie sich bewährte, sollte sie realisiert werden. Hätte Popper sich durchgesetzt, gäbe es heute keinen Neoliberalismus, der alles Bewährte in der Luft zerfetzt, um einem Neuen Platz zu schaffen. Bewährtes macht träge, innovationsfeindlich und fortschrittsallergisch.

Zufriedene Stuttgarter brauchen keinen neuen Bahnhof, also müssen sie zur Unzufriedenheit verpflichtet werden. Wenn sie mit der Gegenwart zufrieden sind, gelten sie als zukunftsfeindlich. Zufriedenheit ist selbst-zufrieden. Mit seinem Selbst darf kein Mensch zufrieden sein. Mit mir bin ich nie zufrieden, es kann mir nichts schnell genug gehen. Meine größte Untugend ist die Ungeduld.

Das Neue ist der Feind des Bewährten und Guten. Schon seid ihr satt. Sattsein ist Zufriedenheit auf Erden. Wer auf Erden nicht zu Hause ist, sondern das Zukünftige suchen muss, der darf nicht satt sein. Der wahre Mensch ist auf Erden nicht zu Hause, ihn zieht‘s ewig hinan.

Selbst die Tiere haben‘s besser als er. Die Füchse haben Gruben und die Vögel des Himmels haben Nester. Der Sohn des Menschen dagegen hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann. Er könnte sich’s hienieden behaglich machen, schließlich ist er der Herr der Welt. Noch will er aber nicht. Erst muss diese Welt abschirren, damit eine neue Welt Einzug halten kann. Obwohl er reich war, wurde er um euretwillen arm, damit ihr durch seine Armut reich werdet. ( Neues Testament > 2. Korinther 8,9 / http://www.way2god.org/de/bibel/2_korinther/8/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/2_korinther/8/“>2.Kor. 8,9)

Soviel zur strategischen Armut, die nur den Zweck hat, am Ende aller Dinge reich zu werden. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Wer zuletzt reich ist, ist für immer reich.

Nicht das Problemelösen ist heute das Movens der Intelligenten und Kreativen, sondern das Problemeschaffen. Je mehr Probleme wir haben, umso besser für die Start-up-Unternehmen. Kreativ sein heißt, Probleme erkennen, die gar keine sind oder Probleme schaffen, wo es keine gibt. Man muss die Produkte mit Absicht fehlerhaft machen, damit die Leute ständig neue kaufen müssen. Die Ökonomen sprechen vom Prozess der Obsoleszenz, des künstlichen und vorzeitigen Verschleißens und Alterns. (Philipp Brandstädter in der TAZ)

Die Dinge müssen kaputt gehen, damit der Produktionskreislauf intakt bleibt. Die Kaputtheit wird den Dingen eingebaut, damit die Zufriedenheit mit den Produkten sich in Grenzen hält. Dazu kommen die völlig überflüssigen Dinge. Was, du hast noch keine Brille, mit der du andere fotografieren kannst, ohne dass jene es bemerken?

Jede neue Creation auf dem Maschinenmarkt bedeutet das Todesurteil für ein Stück bewährtes, vertrautes Leben. Wenn Problemlösen der Kern der Gegenwart wäre, wären die meisten Probleme umzingelt und stünden kurz vor der Lösung. Wir befänden uns im Vorfeld des Gartens Eden. Kein Mensch müsste mehr hungern, denn die Menschheit ist unendlich reich. Sie müsste den Reichtum nur sinnvoll verteilen.

Doch die Simplizität wäre ein Eingriff in die Freiheit des Menschen, Probleme zu schaffen, wo es keine geben muss. Nein, es ist eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz, sorgenfrei und zufrieden zu leben. Wie viele Möglichkeiten des problematischen Verreckens und Leidens blieben uns für immer verborgen, wenn wir täten, was wir mit links könnten: die Hauptprobleme der Menschheit reduzieren. Die Genialität der Menschen ist zur Erfinderin unendlicher Malaisen und Nöte pervertiert.

Im Film Casanova 70 mit Marcello Mastroianni könnte der Held problemlos die schönsten Frauen beglücken. Allein, er ist impotent – weil es zu problemlos ist. Erst muss er die schwierigsten und absurdesten Herausforderungen bestehen, damit er ans Ziel seiner Träume gelangt. Wo du nicht bist, da ist das Glück.

„Wo bist du, mein gelobtes Land,
Gesucht, geahnt und nie gekannt?
Das Land, das Land so hoffnunggrün,
Das Land, wo meine Rosen blüh’n?

Wo meine Träume wandeln geh’n,
Wo meine Todten aufersteh’n,
Das Land, das meine Sprache spricht,
Und alles hat, was mir gebricht?

Ich übersinne Zeit und Raum,
Ich frage leise Blum‘ und Baum;
Es bringt die Luft den Hauch zurück:
Da, wo du nicht bist, ist das Glück!“  

Wo du bist, kann‘s kein Glück geben. Füchse haben Gruben, der wahre Menschensohn kann auf Erden nicht glücklich werden. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir.“

Probleme schaffen, die es nicht geben müsste, wenn man sie nicht mit Gewalt ausdenken und der Welt aufzwingen würde, das ist das Zeichen neoliberaler Genialität. Unzufrieden sein mit allem, was zufrieden macht: daran erkennen wir den Mann der Zukunft, der alles über den Haufen wirft, weil Zufriedenheit das Kainszeichen der Borniertheit ist. Silicon Valley ist die Genieschmiede der Welt, weil es ihr gelingt, der Menschheit die notwendige Unzufriedenheit mit ihrem vertrauten Leben einzubleuen.

Wer zufrieden ist mit der Welt, hat seinen Frieden mit ihr geschlossen. Das ist die Sünde wider den Geist. Seid nicht zufrieden mit der Welt. Wer mit der Welt zufrieden ist, in dem ist keine Liebe zum Vater. Denn alles, was in der Welt ist, die Zufriedenheit des Fleisches und die Behaglichkeit und Lust der Augen und der Stolz auf die Zufriedenheit, stammt von der Welt und nicht vom Vater. Ihr Abtrünnigen, wisset ihr nicht, dass Zufriedenheit und Freundschaft mit der Welt Feindschaft wider Gott und das Wirtschaftswachstum bedeutet?

Wer Freund der Welt sein will, erweist sich als Feind Gottes und des Wohlstands. Die besten Erfindungen der Menschen sind ein Teufelsgeschenk, sie verleiten die Menschheit zur Selbstzufriedenheit, zur gedanklichen Abrüstung, zum Gift des Nichtmehrweiterwollens. Der Mensch will sich’s immer einfach machen. Einfache Lösungen, einfache Fragen und Antworten. Gott sei dank sind die Dinge komplex, kompliziert, genau genommen unlösbar.

Die Preisung des Unlösbaren beginnt schon beim nüchternen Lessing, als er die Wahrheit für den Menschen ablehnt, weil sie nur Gott zustünde. „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet.

Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: «Wähle!»

Ich fiel ihm mit Demut in seine Linke und sagte: «Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!»“ (1778)

Wahrheit wird zum Besitz, der den Menschen träge macht. Der Mensch soll Wahrheit suchen, allein, er soll sie nie finden. Wahrheit wird noch nicht geleugnet – wie in der Postmoderne –, aber ihr Besitz wird zur Last, zur Sünde der Trägheit. Denn Wahrheit – Inbegriff Gottes – muss ein Leben lang gesucht werden. Auf Erden ist sie nicht einzufangen. Sie ist die glühende Wolke, die uneinholbar den Kindern Israels in der Wüste vorauseilt.

Wer sich auf seiner Wahrheit ausruht, als hätte er sie gefunden, der ist der Todsünde der Acedia schuldig, der Sünde der Sorglosigkeit, der Nachlässigkeit und des Nichtsmehrmachenwollens. Acedia ist die Todsünde wider den Geist des ewig unzufriedenen Neoliberalismus, der niemals das Gefühl aufkommen lässt, angekommen zu sein. Wer auf Erden angekommen sein will, der verrät die zukünftige Stadt. Acedia ist die Sünde der Zustimmung zum „eigenen Sein“, die Selbstzufriedenheit mit sich und der Welt. Abgründiger und satanischer kann eine Sünde nicht sein.

Wir sehen, dass der Neoliberalismus auch eine Wurzel im katholischen Habsburg haben muss. In der MPS (Mont-Pèlerin-Society) trafen sich die Unzufriedenen aus Alteuropa und Amerika und erfanden die Wirtschaftsform der dogmatischen Unzufriedenheit. Die Welt darf nicht mehr zu sich kommen, sich ausruhen, die Geschichte ihrer Irrungen und Wirrungen beenden, sich gegenseitig auf die Schulter klopfen und sagen: wir haben viel Unsinn gemacht, aber auch viel Sinn. Lassen wir den Unsinn beiseit und folgen wir dem Sinn. Im Grunde haben wir‘s geschafft. Lassen wir uns nicht mehr einreden, wir seien geborene Versager. Wir wissen genug von allem, was wir wissen müssen, um ein sinnvolles Leben zu führen.

Es gibt neunmalkluge Selbsthasser, die uns dies Wissen ausreden wollen. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. Wir wissen, dass wir genug wissen, um ein humanes Leben zu führen. Für dieses Wissen ging Platons Lehrer in den Tod.

Auch Kant war gegen die Selbstgenügsamkeit, die den Menschen zum arkadischen Schäferleben verführe. Alle Talente würden ewig in ihren Keimen verborgen bleiben, wenn die Menschen ein Leben vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe führen würden. Die Menschen würden wie gutartige Schafe vegetieren und die Leere der Schöpfung nicht ausfüllen.

„Dank also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen. Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist.“

Auch Kant ist Anhänger Mandevilles: private Tugenden sind öffentliche Laster. Hier verrät Kant seinen kategorischen Imperativ, das Gute um des Guten willen zu tun. Tut das Untugendhafte und ihr gewinnt den Wettstreit mit den Gegnern.

Auch Kant gehört zu den Urvätern des Neoliberalismus. Er hat fleißig beim Schotten Adam Smith gelernt, der ebenfalls der Meinung war, dass die Natur gut daran tue, uns nicht auf dem Faulbett liegen zu lassen und Reichtum als Tand zu verwerfen. Nein, diese Illusion bräuchten wir, um unseren Fleiß zu erwecken:

„Es ist gut, daß die Natur uns in dieser Weise betrügt. Denn diese Täuschung ist es, die den Fleiß der Menschen weckt und in steter Bewegung hält. Sie ist es, was sie zuerst antreibt, den Boden zu bearbeiten, Häuser zu bauen, Städte und staatliche Gemeinwesen zu gründen, alle die Wissenschaften und Künste zu erfinden und auszubilden, die das menschliche Leben veredeln und verschönern, die das Antlitz des Erdballs durchaus verändert haben. Durch diese Mühen und Arbeiten der Menschen ist die Erde gezwungen worden, ihre natürliche Fruchtbarkeit zu verdoppeln und eine größere Menge von Einwohnern zu erhalten.“

Durch Schlechtes Gutes. Mit dem Teufel das Werk Gottes vollenden. Die Natur erzieht uns zur Tätigkeit mit List und Tücke. Deshalb darf Faust den Augenblick nicht schön finden und auf dem Faulbett ausharren – er würde die Welt verlieren.

Was hülfe es dem Menschen, wenn er seine Tugend gewönne und verlöre doch die ganze Welt? Das ist eine Reaktionsbewegung auf das neutestamentliche Wort: was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Lieber böse sein und mit asozialer Genialität die Welt erobern als tugendhaft wie ein Schaf das Feld den Feinden überlassen.

Die Kinder dieser Welt sind in ihrer Verschlagenheit den Frommen überlegen. „Denn die Söhne dieser Welt sind ihrem Geschlecht gegenüber klüger als die Söhne des Lichts. Und ich sage euch: Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit sie, wenn er euch ausgeht, euch aufnehmen in die ewigen Hütten.“

Mit anderen Worten: seid nicht zu heilig. Lernt von den Bösewichtern der Welt. Seid korrupt und bestecht diejenigen, die die Macht über die ewigen Hütten haben. Nur wenn ihr untugendhaft seid, kommt ihr weiter. Die wahre Motivationen, die uns weiter bringen, sind Neid, Missgunst und der Trieb, die anderen in den Schatten zu stellen.

Hier stehen wir am Urgrund der Verachtung der Gutmenschen. Sie sind nicht nur dumm wie Schafe, sie steuern auch nichts zum Wachstum der Wirtschaft bei. Sie sind mit allem zufrieden, haben keinen Impetus mehr für riskante Achterbahnfahrten in der Zukunft.

Doch am Schluss müssen wir Hegel gegen die Linken unter seinen Kritikern und Bewunderern rehabilitieren. Hegel war mit dem Weltgeist zufrieden, auf eine Revolution wartete er nicht. Natürlich gab‘s noch viele Probleme – Hegel war nicht blöd –, doch all dies konnte nichts daran ändern, dass der Objektive Geist seine Hausaufgabe im Prinzip erledigt hatte: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.“

Was für eine – mit heutigen Augen gesehen – lächerliche Segnung der Wirklichkeit. Und doch, was für eine Anerkennung der bereits geleisteten Arbeit des Menschen an seiner Realität. Der Mensch konnte Gott gleich werden, wenn er die Mühe des Geistes in seiner spiraligen Fortentwicklung verstand und selbständig weiterführte.

Für ewig unzufriedene Linke war die Segnung des Wirklichen eine Absegnung des schlechten Wirklichen. Das war es auch. Und dennoch war es mehr. Es war auch die Zuversicht: wer es bis zur Gegenwart gebracht hat, der kann es noch weiter bringen. Menschheit, seid stolz auf das Geleistete. Schaut nicht immer zwanghaft auf das noch Nichtvollendete. Versichert euch eurer Fähigkeiten, indem ihr zurückschaut im Stolz: das alles haben wir bereits erledigt. Warum sollte uns der schäbige Rest nicht gelingen?

Auch an diesem Punkt sind die Linken identischer mit den Neoliberalen, als ihnen lieb sein kann. Indem sie zwanghaft unzufrieden sind mit allem, glauben sie, die Zukunft bereits errungen zu haben. Die ungeheuer kühne Zufriedenheit mit dem Wirklichen, dem er das Prädikat des Vernünftigen verlieh, ist der Grund für die bis heute nicht erklärbare „eschatologische Blindheit“ Hegels.

Erwartete er nichts mehr von der Zukunft? War die Geschichte für ihn eine abgeschlossene Sache? Er wagte es, anstatt in eine leere Zukunft zu schauen, sich jetzt schon umzusehen und die Gegenwart als erfüllte Vergangenheit zu loben und zu preisen. Damit hat Hegel sich für die Erde entschieden, und einem ominösen Jenseits die endgültige Absage erteilt. Das mündete in Nietzsches Satz: Und noch mal sage ich euch, bleibet der Erde treu.

Wenn Philosophie – so Hegel – das Ergründen des Vernünftigen ist, ist sie eben damit „das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen, das Gott weiß wo sein sollte.“ „Darauf kommt es dann an, in dem Schein des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanente, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen.“

Die Substanz ist das, was die Menschheit bislang gelernt hat in vielen Schritten des Irrens und Streitens. Wer schon so viel gelernt hat, kann sich sagen: den Rest lernen wir auch noch.

Liebe Brüder und Schwestern, lassen wir uns nicht für dumm verkaufen. Wir wissen mehr über das Humane, als wir uns eingestehen. Wenn Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe zum Humanen gehören, dann seien wir einträchtig, genügsam und wechselliebend. Die Tugenden der Schafe wären die einzigen, die das System der neoliberalen Wölfe – Verzeihung Wölfe – sprengen könnten.

Nur die Todsünde des Zufriedenseins verschafft uns das Klima der Gelassenheit und Zuversicht, dass wir ein lernfähiges Geschlecht sind.