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Dienstag, 11. Dezember 2012 – Jauch

Hello, Freunde der Geschichte,

das Privatfernsehen hat offiziell die Öffentlich-Rechtlichen besiegt. Wie wichtig eine seriöse Talkshow für Jauch ist, bewies er am Sonntag, als er seinen Rückschau-Boulevard in RTL für wichtiger hielt als sein politisches ARD-Gespräch. Klaglos und gedemütigt akzeptierte die ARD.

Jauch wird von der ARD als Journalist vorgestellt, als Maestro aller Talk-Moderatoren. Die Qualität eines Gesprächsleiters zu erkennen, ist für die ARD kein Problem. Dafür hat sie Quoten. Dass Quoten quantitativ und nicht qualitativ sind, hat die ARD vergessen.

Da Qualität nicht bewiesen werden kann, aber Quantität, ist die gesamte Moderne von Qualität zur Quantität übergegangen, die jeder nachzählen kann. Soweit, so schlecht, warum sollte die ARD hier eine Ausnahme bilden? Hat sie aber nicht einen Bildungsauftrag?

Bildung ist auch schon durch-quantifiziert. Da Bildung nur dem Aufstieg dient und Aufstieg in Euro und Cent gemessen werden kann, ist man umso gebildeter, je mehr Euro man auf die Waage bringt.

Eigenartig, wie das Publikum auf Jahresrückblicke setzt, obgleich doch niemand mehr in die Vergangenheit gucken will. Entwarnung, niemand schaut zurück, jeder sieht unterhaltsame Gegenwart, die still stehen soll: das ewig Gleiche zieht uns hinan. Eine gute Jahresrückschau ist zum Potpourri des immergleichen Konfettis geworden. An unvermuteter Stelle lassen die Zukunftsanbeter erkennen, dass sie vom ständigen Wechsel aller Dinge die Schnauze voll haben. Sie wollen

das Zeitlose, das nicht dem Gesetz rasender Veränderung unterliegt. Der Aushilfskellner schüttet versehentlich der Kanzlerin ein Bier ins Genick. Haha, Menschliches – Allzumenschliches, das uns zeitlos erheitert.

Christoph Twickel hat Jauch im SPIEGEL gekonnt auseinander genommen. Nur sein letzter Satz hätte lauten müssen: Günther, zieh Leine. Früher zeigten Jahresrückblicke noch die wesentlichen Ereignisse, von denen unser Wohl und Wehe abhängt. Heute wird „eventisiert“, wie Twickel schreibt.

Aus Geschichte wird Event, Ereignis. Geschichte besteht auch nur aus vielen Ereignissen, die man allerdings zu einem Muster, einer roten Linie, einem vermuteten Gesetz, einer Ereigniskette zusammenstoppeln muss, um zu verstehen, was die Menschheit tat und erlitt. Im Spiegel seiner Taten will der Mensch sich selbst erkennen.

Was Psychoanalyse für die Biografie des Einzelnen, ist Geschichte für die Biografie der Gattung. Der Mensch versteht sich erst, wenn er sein Werden, seine Genesis verstanden hat. Geschichte ist Selbsterkenntnis. Wenn meine Vergangenheit mir transparent vor Augen liegt, hab ich die Gegenwart erfasst. Denn Gegenwart ist die Summe des Vergangenen.

Da das Vergangene heute ausgeblendet und verdrängt wird zugunsten des Blicks in die Zukunft – die nichts anderes bringt als die Vergangenheit, wenn der Mensch sich nicht ändert –, hat der moderne Mensch sich Selbsterkenntnis verboten.

Bei Hegel lernt der Mensch nichts aus der Geschichte, weil nicht er die Zeiten prägt, sondern der göttliche Weltgeist. Wenn nicht der Mensch seine Geschichte formt, sondern übermächtige Elemente wie Heilsgeschichte, Materie, Evolution, Gott – der Mensch denkt, Gott lenkt –, erfährt er nichts über sich, wenn er sich seine Vergangenheit betrachtet.

Wenn ich mir das architektonische Geheimnis der Pyramiden erschließen will, muss ich sie in Gedanken zerlegen und in Gedanken wieder zusammenbauen. Das Kind zerlegt alles, um hinter das Geheimnis der Dinge zu kommen. Meistens wird es dafür gescholten, es soll nicht immer alles kaputt machen.

Die gegenwärtige Zukunftsmanie und Vergangenheitsverdrängung ist ein stummes Verbot der Selbsterkenntnis, ein latenter Aufruf zur Selbst-Vergessenheit und Selbst-Verdunkelung. Wir sollen nicht wissen, wer wir sind, was wir getan haben und wie wir die Zukunft bewusstseinslos genau so verstümmeln werden, wie die Vergangenheit, indem wir an fremde, übermenschliche und übernatürliche Lenker der Geschichte glaubten.

Eine Selbsterkenntnis des Menschen gibt es nur auf der Basis der Nichtexistenz oder der Unbedeutendheit geschichtsprägender Götter und Dämonen. Epikur glaubte an Götter, im Leben der Menschen spielten sie keine Rolle. Luther hatte mal eine helle Minute, als er den „Als-ob-Atheismus“ erfand. Handle so, als ob es Gott nicht gäbe. Wäre er bei dem Als-ob geblieben, hätte sich die deutsche Neuzeit anders entwickelt.

Bis heute haben die Deutschen nicht begriffen, dass sie es sind, die handeln. Dass sie ihre Vergangenheit geschrieben haben und die Zukunft schreiben werden. Andere Schreiber im Weltall gibt es nicht.

Selbstbestimmte Geschichte ist immer Als-Ob-Atheismus. Göttliche Wesen mag es geben, solange sie nicht ins Leben der Menschen eingreifen, lassen wir Gott einen guten Mann sein.

Auf einem herrlichen Spaziergang in die Natur fragt Phaidros den Sokrates, ob auch er daran glaube, dass es Götter gibt, die ihre vergnüglichen und weniger vergnüglichen Events haben.

Sokrates: Wenn ich es nun nicht glaubte, wie die Klugen, so wäre ich eben nicht ratlos. Ich würde dann weiter klügelnd sagen, der Wind Boreas habe sie, als sie mit der Pharmakeia spielte, von den Felsen dort in der Nähe herabgeworfen, und dieser Todesart wegen habe man gesagt, sie sei durch den Gott Boreas geraubt worden, oder auch vom Areopagos, denn auch so wird es erzählt, daß sie von da geraubt worden. Ich aber, o Phaidros, finde dergleichen übrigens ganz artig, nur daß ein gar kunstreicher und mühsamer Mann dazu gehört, und der eben nicht zu beneiden ist, nicht etwa wegen sonst einer Ursach, sondern weil er dann notwendig auch die Kentauren ins Gerede bringen muß, und hernach die Chimära, und dann strömt ihm herzu ein ganzes Volk von dergleichen Gorgonen, Pegasen, und andern unendlich vielen und unbegreiflichen wunderbaren Wesen, und wer die ungläubig einzeln auf etwas Wahrscheinliches bringen will, der wird mit einer wahrlich unzierlichen Weisheit viel Zeit verderben. Ich aber habe dazu ganz und gar keine, und die Ursach hievon, mein Lieber, ist diese, ich kann noch immer nicht nach dem delphischen Spruch mich selbst erkennen. Lächerlich (230) also kommt es mir vor, solange ich hierin noch unwissend bin, an andere Dinge zu denken. Daher also lasse ich das alles gut sein; und annehmend, was darüber allgemein geglaubt wird, wie ich eben sagte, denke ich nicht an diese Dinge, sondern an mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edeln Teiles von Natur erfreut. – Doch, Freund, nicht zu vergessen, war dies nicht der Baum, zu dem du uns führen wolltest?“

Über Dinge zu klügeln, die wir nicht wissen können: damit sollte man seine kostbare Zeit nicht verdummbeuteln. Es hat auch keinen Zweck, solche wunderbaren Wesen wie Gorgonen, Pegasen und Chimären zu leugnen, solange sie uns nicht ins Leben hineinpfuschen. Sie spielen keine Rolle, man sollte das ganze Thema vernachlässigen. Es lenkt nur davon ab, herauszukriegen, was wir selbst sind, was wir tun und machen sollen.

Heute ist es zur wichtigsten Angelegenheit der Welt geworden, jemanden nach seinem Glauben zu befragen. Oder sich zu fragen, ob es etwas Höheres gibt als den Menschen. Da muss man ganz schön vermessen sein, sich als das Wichtigste und Höchste im Weltall zu betrachten, wenn man sich überlegen muss, ob es noch Höheres als den Menschen gibt.

Wie hoch ist denn der Mensch? Ist er höher als Tiere und Pflanzen? Solange der Mensch sich einbildet, das Höchste unter der Sonne zu sein, darf er sich nicht wundern, wenn er keine gleichberechtigte Partnerschaft mit untergeordneten Kreaturen zustande bringt.

Die eingebildete Überlegenheit des Menschen über alle andere Naturwesen ist die ökologische Ursünde. Wenn der Satz stimmt, die Natur braucht uns nicht, wir brauchen die Natur, ist Natur das Höchste und wir hängen vollständig von ihr ab.

Sollten wir von Göttern und Dämonen abhängen, könnte Natur uns gleichgültig sein. Die ökologische Frage ist ohne Reduktion der Götterfrage zu einem Nicht-Ereignis unlösbar. Welcher Gläubige sollte sich mit Inbrunst der Rettung der Natur widmen, wenn er als Nobody für sie gar nicht zuständig ist?

Fromme Menschen verweisen auf göttliche Gebote wie: Bewahret die Schöpfung. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich mit Ach und Krach fremdbestimmten Befehlen nachkomme – die ich übrigens gar nicht erfüllen kann – oder aus eigenem Antrieb, eigener Erkenntnis und eigener Fähigkeit die Natur schützen und mit ihr in Einklang kommen kann.

Nach biblischer Weisung kann man mit Natur nicht in Einklang kommen. Man sollte es gar nicht probieren. Natur war nur eine Zehntelsekunde der Schöpfung vollkommen und in Einklang mit dem Menschen. Danach wurde sie minderwertig und kein Mensch durfte sie ohne Verweis auf ihren perfekten Schöpfer anhimmeln.

Chef der gefallenen Natur ist der Teufel und wer beide anbetet, als seien sie etwas Höheres als der Mensch, der ist des Teufels. Natur und Teufel sind eins, wer Natur anbetet, betet den Teufel an.

Wenn fromme Naturschützer wüssten, dass sie mit der Bewahrung der Natur ein blasphemisches Werk tun würden, würden sie sofort alle Kaulquappen ihrem Schicksal überlassen, in sich gehen, Abbitte tun: Herr, wir waren zu vorwitzig, haben geredet und getan in Unverstand, Dinge, die zu wunderbar für uns, die wir nicht begriffen. Wir wollen dich befragen und du belehrst uns. ( Altes Testament > Hiob 42,3 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/42/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/42/“>Hiob 42,3 ff)

Die sündige Kreatur ist nicht mal fähig, die zehn Gebote und das Gesetz zu befolgen – ohne Gnade geht nichts –, wie soll sie Geschichte und Natur prägen können.

„Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,
Die Sünden zu vergeben.
Es ist doch unser Tun umsonst
Auch in dem besten Leben.
Vor dir niemand sich rühmen kann.
Des muß dich fürchten jedermann
Und deiner Gnade leben.“

Gnad und Gunst. Wenn irgendein Minister seinen Günstlingen still und leise einen lukrativen Posten zuschiebt, kommt er in einer wachsamen Öffentlichkeit in Verschiss. Die abendländische Haupt- und Magenreligion ist eine offene Günstlingswirtschaft wie in einer orientalischen Despotie. Und jeder aufrechte Demokrat lobt sie über den grünen Klee.

Der Herr hat sich seine Schafe selbst rausgesucht, nur sie erringen ewige Seligkeit. Den fremden Schafen, die sich in die Herde eingeschmuggelt haben, sagt er unmissverständlich: „Aber ihr glaubt nicht, denn ihr gehört nicht zu meinen Schafen. Denn meine Schafe hören auf meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir nach. Und ich gebe ihnen ewiges Leben.“ ( Neues Testament > Johannes 10,26 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/10/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/10/“>Joh. 10,26 ff)

Jesus ist kein Anhänger universeller Ethik. Er kennt nur die Seinen, der fremde Rest kommt in den Feuerofen. Jesu’ Fremdenfeindlichkeit ist zum Vorbild der Deutschen Bewegung geworden, sich nur um die eigenen Volksschafe zu kümmern und den Rest der Welt dem Satan zu übergeben. Hier hilft kein barmherziger Samariter, der nur den irdischen Leib, aber nicht die Seele retten kann.

Hatte Sokrates nicht auch ein gestörtes Verhältnis zur Natur, wenn er zwar ihre Schönheit bewundert – „bei der Here, dies ist ein schöner Aufenthalt“ –, aber dann einen merkwürdigen Satz von sich gibt: „Dies verzeihe mir schon, o Bester. Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.“

Können wir von der Natur nicht lernen, wer wir sind? Können wir nur von Menschen lernen? Sind Menschen also nicht doch etwas Besseres als die Natur? Klingt das nicht nach Brecht, wonach ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen sein soll?

Brecht war sozialistischer Materialist. So seltsam es klingt, Materialisten interessieren sich nicht für Natur. Sowenig der traditionelle Macho sich für seine Frau interessiert. In seinem Schatten hat sie lautlos zu funktionieren und seine „Gehilfin“ zu sein. Die beste Frau ist die, über die man nicht spricht.

Die momentane Materie ist für Marx noch gar nicht bei sich angekommen, sie ist Vorgeschichte und hat der Entwicklung des Proletariats zu dienen. Erst im Reich der Freiheit wird sie zu sich kommen und mit dem Menschen einen vollkommenen Stoffwechselkreislauf eingehen.

Just so sah Paulus die Natur im Verhältnis zu ihren menschlichen Erlösern: „Denn die Sehnsucht des Geschaffenen (= Natur) wartet auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit der Söhne Gottes (= die Gläubigen). ( Neues Testament > Römer 8,19 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/8/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/8/“>Röm. 8,19 ff)

Es war kein Zufall, dass in sozialistischen Staaten die Natur in gleichem Maße rasiert wurde wie in kapitalistischen. Zum Teil noch schlimmer – siehe China –, weil sie den Westen so schnell wie möglich einholen mussten.

Brecht hat mit Sokrates nichts zu tun. Ohnehin sah Brecht in dem Philosophen einen lächerlichen Aufschneider, was in seiner Kurzgeschichte „Der verwundete Sokrates“ in süffisant-trockenem Ton beschrieben wird.

Seit Marxens Satz: die Philosophen haben die Welt nur gedeutet, aber nicht verändert, ist Philosophie als eigenständiges Denken aus dem Sozialismus verschwunden. Man darf sich streiten, ob der kapitalistische Westen oder der sozialistische Osten zuerst die Liebe zur Weisheit begraben hat. Was der Sozialismus für den Osten, waren der angelsächsische Pragmatismus und der deutsche Hegelianismus für den Westen.

Die Postmoderne hat zwar viel revolutionär Klingendes geschäumt, aber sich geistreich den neoliberalen Verhältnissen untergeordnet. Die letzten Denker, die Verantwortung für die Welt übernahmen, waren die Aufklärer. Obgleich auch sie allzu sehr auf einen automatischen Fortschritt setzten.

Dort müssen wir ansetzen, die Kants, Voltaires und Diderots von ihren heilsgeschichtlichen Eierschalen befreien und den Menschen zum alleinigen Verantwortlichen seines Schicksals erklären.

Die Geschichte des Menschen ist nicht die Geschichte der Natur. Von der Natur können wir überwältigend viel lernen, aber direkt wird sie uns nicht sagen, was wir zu tun haben. Kein Gottesteilchen, kein Gottesgen, keine Biologie und tierische Verhaltensforschung wird uns sagen, wie wir miteinander umgehen sollen.

In der Natur gibt es alles, wir aber müssen wählen und uns entscheiden. Nehmen wir die sanftmütigen Schafe zum Vorbild, lärmen die Darwinisten mit brutalen Raubtieren und dem Überleben der Fittesten. Kann es sein, dass Mutter Natur uns selbst ein Gehirn gegeben hat, um herauszukriegen, was wir wollen und sollen?

Sokrates wird oft als naturfeindlich angesehen. Wenn er das gewesen wäre, hätte er nicht die schattigen Platanen an der Quelle bewundern können. Zudem war der Mensch auch Natur für ihn, wenn auch ein spezifisches Naturwesen, das selbst über sich nachdenken kann, um sein Leben zu gestalten.

Keine Erdmännchen werden uns sagen, macht‘s kommunistisch wie wir. Jeder Waran wird abwinken: ihr seid ja autistischer und egoistischer als wir. Von allen Tieren können wir lernen, doch wir entscheiden, was wir von wem lernen.

Wenn Sokrates auf die Menschen verweist, von denen er allein lernen kann, so verweist er auf die Gedanken und die Taten der Menschen. Will man wissen, was für ein seltsames Wesen der Mensch ist, muss man auf seine Taten achten. Taten kommen aus Gedanken – nicht aus übernatürlichen, sondern real materiellen Gehirnen –, also muss man seine Gedanken unter die Lupe nehmen, um den Menschen in all seinen Perspektiven kennen zu lernen.

Das Reservoir aller Gedanken und Taten des Menschen ist seine Geschichte. Wenn wir wissen, welche Verhältnisse den Menschen in Gedanken, Worten und Werken bestimmt haben, haben wir eine Chance, ihm auf die Spur kommen.

Geschichte heißt, die vielen Ereignisse aller menschlichen Generationen auf Gesetzmäßigkeiten und freie Lerngeschichte zu untersuchen. Situative und isolierte Ereignisse sagen nichts über den Menschen. Die Ereignisse müssen verflochten oder eingeordnet werden.

Genau das tun Tagesschreiber am wenigsten. Was sie den vielen Laienbloggern vorwerfen, sie würden vereinzelte Informationen und Ereignisse nicht einordnen – machen sie selbst am allerwenigsten. Denn sie blicken nicht zurück und sehen keine sukzessiven Entwicklungen. Psychologische Empathien über die Langsamkeit des Werdens bringen sie nicht auf.

Die Deutschen, das Volk, das immer im Werden ist, hat keine Ahnung vom allmählichen Verfertigen von Gedanken und Taten. Wenn die Araber nicht über Nacht ein demokratisches Wunder vollbringen, war die Arabellion nur eine Fantasia. Wenn Neues und Alternatives nicht wie Athene perfekt aus dem Kopf des Zeus springt, war‘s nur Lug und Trug. Wenn Robespierre, katholisch erzogen und indoktriniert, seine Vernunft zum Forum des Schafotts macht, so sind es nicht die unerledigten Reste seines Papismus, die er der Vernunft imputiert hat, nein, die Vernunft ist noch totalitärer als der totalitärste Glaube.

Gibt es ein hölzernes Volk, das je emotional unfähiger und uneinfühlsamer als das deutsche gewesen wäre? Wenn weise Menschen den kleinsten Kratzer an ihrer Weste haben, muss man sie ingrimmiger dekonstruieren als ehemalige NS-Schergen.

Journalist Jauch atomisiert die Geschichte zu separierten Nichtigkeiten. Nichtigkeiten kann man nicht einordnen. Die kollektive Geschichte, die wir gemeinsam durchgemacht haben, wird zu einer Kette glitzernder Talmiperlen. Jeder echte Boulevard hat mehr Esprit als Jauch, der jedes Ereignis im Status des coitus interruptus über den Kanal jagt. Die Stimmung, die aufgebaut und inszeniert wird, ist schon verschwunden, bevor sie überhaupt geahnt und gesichtet werden konnte.

Hinzu kommt, was Twickel so beschreibt: „möglichst das Ereignis eins zu eins in der Kulisse nachempfinden.“ Da türmen sich alle journalistischen Geistesverwirrungen wie beim Turm zu Babel.

Alles Verflossene kann nur durch Imagination des Publikums nachempfunden werden. Nicht durch gefälschten Kulissenzauber. Die Imagination will logisch und psychologisch angereizt werden, Belanglosigkeiten und irrelevante Skurrilitäten können sie nicht hinter dem Ofen hervorlocken.

Der Mensch will etwas zu denken haben, dann hat er auch was zu fühlen. Die falsche Authentizität illusionärer Gleichzeitigkeit wird von jedem Dreijährigen als verlogen durchschaut. Jour-nalisten sollten Minutionalisten oder Sekundonalisten heißen mit ihrer Idolisierung der W-Fragen: Wann, Was, Wer, Wo, Wie, Warum, von denen die Warum-Fragen längst aussortiert wurden, weil sie nur durch historisches Einordnen beantwortet werden könnten.

Von der Historie aber wenden sich Tagesschreiber mit Grauen ab. Bleiben: Was, Wer, Wann, Wo und Wie, die Stummelfragen des unmittelbaren Augenblicks. Die zerstückelten Momente und Augenblicke entstammen der Konkursmasse einer zermörserten Zeit, die nicht mehr nach hinten schauen will und nicht nach vorne schauen kann – weil es vorne gar nichts gibt als projektive Hoffnungen und Befürchtungen.

Plasberg, Moderator, entriss einmal einem Gesprächsteilnehmer dessen Notizblatt mit körperlicher Gewalt, weil allein der spontane Augenblicksbeitrag zähle und nicht vorbereitete Referate. Was zählt, ist die Genialität des Erleuchtungsblitzes, nicht die gediegene Seriosität einer einordnenden und reflektierten Denkarbeit.

(Dass der Vergewaltigte nicht unter Absingen schmutziger Lieder den Saal verließ, gehört in die Abteilung einer zunehmenden Mediokratur. Wagt ein Interviewter, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten, wird er gemaßregelt: Wir stellen hier die Frage.)

Dass Jauch von der ARD als Journalist präsentiert wird, zeigt die Verfassung eines öffentlich-rechtlichen Senders, der seine Gebühren als staatliche Kirchensteuern einziehen kann, obgleich er seine politische Bildungsaufgabe verraten hat, um mit den Privaten mitzuhalten.

Wer ist der beliebteste Mensch der BRD? Wer könnte nach Belieben Bundespräsident, Nachfolger Gottschalks, Oberbürgermeister Potsdams, Schwiegersohn aller Schwiegermütter, Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz und oberster Bildungsexperte des Landes sein?

Eben der, der die Geschichte der Deutschen mit dem Sekundenzähler des geschnetzelten Amüsements in Trümmer legt.