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Tagesmail

Dienstag, 10. Januar 2012 – Spekulatius

Hello, Freunde des Rechts,

Oury Jalloh kam vor sieben Jahren durch mysteriösen Feuertod in einer Dessauer Polizeizelle ums Leben. Als 200 Leute jetzt mit Schildern wie: „Oury Jallo, das war Mord“ in Dessau auf die Straße gingen, wurden mehrere Demonstranten von wütenden Polizisten niedergeknüppelt, die sich diese Anklage nicht gefallen lassen wollten.

Das elektronische Band, das alle Vorgänge in der Zelle dokumentierte, war zufälligerweise gelöscht. Ein Gutachter hatte von den Behörden den Auftrag erhalten, den Brandverlauf so zu rekonstruieren, als habe „Jalloh sich selbst angezündet“. Der Zustand der Leiche aber sei so nicht zu erklären, habe der Brandexperte selbst eingeräumt, so der Anwalt der Familie Jalloh.

Ein Gutachter, der sich das Ergebnis seines Gutachtens von den Behörden vorschreiben lässt? Behörden, die eine „taktische Beziehung“ zur Wahrheit haben – man sollte besser von einer untaktischen Beziehung zur Lüge sprechen – und nicht sofort vor den Kadi gezogen werden?

Wo bleibt die Recherche der Vierten Gewalt über korrupte Behörden? Wer hat solche käuflichen Experten – die sich selbst denunzieren – mit dem Gutachten beauftragt? Medienalltag in Deutschland, auch bei

sogenannten kritischen Zeitungen. Selbstverständlich kein Fall für die am Verfall der öffentlichen Moral leidenden Großmogulkommentatoren der Edelgazetten.

Ein kleiner, völlig ungenügender Bericht in der TAZ auf der Seite X unten links. Wo bleibt die vernichtende Kritik von Gaus, Augstein, Prantl, Hahne, Blome, Schirrmacher, di Lorenzo, den Gewerkschaften und Kirchen? An bedeutungslosen verbrannten Asylopfern machen sich Edelfedern nicht die Finger schmutzig. Am Objekt ihrer Scheltreden wollen die ehrenwerten Michaele Kohlhaasen sich selbst in ihrer Sonderklasse erkennen.

Aus der Mülltonne einer Bäckerei hat Karsten H. weggeworfene Spekulatiuskekse genommen. Wegen Hausfriedensbruchs wurde er vom Amtsgericht Lüneburg zu 25 Tagessätzen à 5 Euro verurteilt. Kein Michael Kohlhaas der Edelklasse verschwendet heute eine einzige Zeile seines machtgestützten Laptops für den Obdachlosen.

Unter Klinkerhütte, Urlauben in der Toscana und Krediten um 500 000 Piepen läuft gar nichts. Karsten H., lass dir am Gnadenkommentar einer sextriefenden Schmutzschleuderpostille genügen, die dir freundlicherweise bescheinigt, ein Mensch zu sein. BILD sollte einen goldenen Bambi von Burda, Springer, der ZEIT und Bettina Schausten kriegen. Wenn die bei Freunden einen Keks in der Mülltonne findet, legt sie einen Schein auf die Theke, wenn sie ihn dem ordentlichen Verzehr zuführt. Ja, warum denn nicht?

Wir brauchen keinen neuen Bundespräsidenten, wir haben die Gattin an seiner Seite. Mit kühlem, professionellem, ja entwaffnendem, dabei doch herzlich gewinnendem Lächeln ging Bettina in die Höhle der Löwen und domestizierte dieselben zu schnurrenden Kätzchen.

Wer ein solch tapferes Weib mit Bedacht erwählt, hat auch die Gabe des höchsten Amtes, des geistbegabten Wortes und taktvoll präsentierter, untaktischer Wahrheitsliebe. Frauen sind eh auf dem Vormarsch, besonders die jungen an der Seite verschlissener  Ex-Politiker. Als da sind Frau Schröder-Köpf und Michelle Müntefering, die es beide in die politische Arena zieht.

Für Kleine gibt’s ausgefeilte Gesetze bis zur vierten Stelle hinter dem Komma. Mülltonne = Haus, gieriger Griff in dieselbe = Hausfriedensbruch. Keine Kalauer bitte über den unbehausten Bürger, der sich in seinem Müll zuhause fühlt.

Gesetze werden von gutbetuchten höheren Citoyens, also behausten Mahagonimülltonnenbewohnern, erfunden, vorgeschlagen und legitimiert. Sie folgen dem kollektiven religiösen Unbewussten und dessen heiligem Slogan: Wer nicht bei den Kleinen treu ist, sollte es bei Wulff & Co gar nicht erst versuchen.

Der alerte Enkel des Baldur von Schirach referierte bei Jauch mit sonorer Stimme, Wulff habe mit der „Kriegserklärung“ den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Nun hat endlich der nüchterne Christian Rath in der TAZ  die Rechtsverhältnisse klar gelegt und den schriftstellernden Starjuristen korrigiert.

Nötigung wäre es, wenn man wüsste, ob der feingliedrige Hannoveraner Pistole, Degen bevorzugt oder nur Spucken, Speien und ordinäres Beschimpfen meint. Vorteilsannahme ist ganz streng untersagt – dies in einer systematisch vorteilnehmenden Wirtschaft! –, doch gottlob ist die Tat kaum nachzuweisen. Die Abgrenzungs- und Beweisprobleme konnte der Bundesgerichtshof bisher nicht lösen.

Schon den bösen Anschein vermeiden – wie soll das gehen, wenn der Schein im Auge des missgünstigen Betrachters liegt? Aus der Finanzkrise wissen wir, dass man die ganze Weltwirtschaft aufs Kreuz legen kann, ohne ein einziges Gesetz zu verletzen und einen einzigen Verantwortlichen in Ketten zu legen.

Insofern ist das westliche Rechtssystem ein neutestamentarisch infiziertes: „Wer im Kleinsten treu ist, der ist auch im Grossen treu; und wer im Kleinsten ungerecht ist, der ist auch im Grossen ungerecht. Wenn ihr nun mit dem ungerechten Mammon nicht treu wart, wer wird euch das wahre Gut anvertrauen? Und wenn ihr mit dem fremden Gut nicht treu wart, wer wird euch das eure geben?“ (Bezeichnend ist das Fehlen der umgekehrten Schlussfolgerung: Wer im Großen treu ist, ist es auch im Kleinen. Hat’s jemand aus ärmlichen Verhältnissen nach oben geschafft, kann er Fünfe grade sein lassen. Große gucken nicht aufs Kleingedruckte.

Wenn die Unteren nicht nachweisen können, dass sie die ungerechte Mammonwirtschaft treu behüten und nicht umstürzlerisch angreifen, sind sie ungeeignet fürs Himmelreich. Die Bewährung beim Hüten ungerechten Mammons ist Voraussetzung zur Nachfolge Jesu.

Christus ist nicht gekommen, die bestehende Welt zu sanieren, zu reformieren oder zu revolutionieren. Er ist gekommen, sie aufzuheben und eine neue jungfräuliche an ihre Stelle zu setzen. Doch erst bei seiner Wiederkunft. Bis dahin gilt: jeder bleibe in seinem Amt, in das Gott ihn berufen hat. Sklave bleibe Sklave, Despot Despot, der Verheiratete verheiratet.

Karsten H. hat sich erkühnt, den untreuen Mammon in Form von halbverrottetem Spekulatius zu veruntreuen. Spekulieren mit verrotteten Dingen bei hohen Profiterwartungen sollte er den Großen überlassen. Damit hat er sich erkühnt, göttliche Eigentumsverhältnisse zu verletzen und himmlischer Weisung  untreu zu werden.

Der Volksmund hat das längst begriffen: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Zusätzlich werden sie mit Lametta behängt. Dass selbst unsere Sünder hierzulande im Kleinen treu sind und nur kleine Sündenbrötchen backen, darauf verweist Christian Bommarius.

Wir bleiben bei den Kleinen und jenen Kleinkrediten, die ihnen zum wahren Leben im falschen verhelfen sollten: den von Friedensnobelpreisträger Yunus erfundenen Microkrediten, die anfänglich wie das Ei des Kolumbus aussahen, nun aber – mangels sinnvoller Rahmenmaßnahmen – zum standardisiert-kapitalistischen Fluch geworden sind. Wenn die Herrschaft des großen Geldes nicht gebrochen wird, bleibt kein gut gemeintes Kleingeld vor ihm sicher.

Mammon ist ein kannibalistischer Allesfresser, der sich nicht scheut, das Scherflein der Witwe vor ihren Augen zu verspeisen. Interessant die Tatsache, dass die Kreditgeber fast nur Männer, die Empfänger fast nur Frauen waren. Das ist der Fluch der guten Tat, die nicht dafür sorgt, dass das Umfeld auch gut werde.

Das Problem der Menschheit ist nicht das Böse, (die Erfindung bitterböser Pfaffen), sondern das Gute, das nicht lernt, gut zu sein und schließlich ins Gegenteil kippt. Motivation allein genügt nicht, es muss noch Butter bei die Fisch. Wer in bester Absicht den Verletzten aufrichtet, ihm einen Trunk Wasser zu geben, kann ihm mit einer einzigen falschen Bewegung den Hals brechen.

Das Gute ist zwar angeboren, muss aber ein Leben lang lernen, weltkundig und konkret zu werden. Dumm und störrisch verbliebenes Gutes, das einem hybriden Rassismus, einer intoleranten Religion und sonstigen Gehässigkeiten aufsitzt, wird giftig und ätzend. Gutes muss einsichtig werden, denken, disputieren, um wahrhaft gut zu werden. Werde, der du bist; auf deinem angeborenen Gutsein kannst du dich nicht ausruhen.

Das Gute muss mit allen rivalisierenden Gutseinentwürfen streiten, um das generalisierbare Gute für die Menschheit herauszufinden. Der Westen kann anderen Kulturen nicht Demokratie als Patentrezept überstülpen. Nur die Vorbildlichkeit seines Lebensstils kann die Faszination der Freiheit und Mündigkeit demonstrieren. Bis jetzt begnügt er sich, im Kleinen bigott und im Großen perfide zu sein.

Zwei Beispiele. Als die BASF chemische Unkrautvernichtungsmittel erfand und die Welt mit DDT und sonstigen Supergiften überschwemmte, blieb die Wirkung nicht auf jene Äcker beschränkt, die man großflächig damit „düngte“. Alle ökologischen Kreisläufe wurden malträtiert, die Menschheit stand kurz vor ihrer Selbstausrottung, wären die Gifte nicht weltweit verboten worden. Man lese Rachel Carsons Klassiker „Stummer Frühling“.

Heute haben wir einen ähnlichen Skandal bei Hühnern, die in Massenhaltung mit Antibiotika behandelt werden und den Menschen beim Verzehr schädigen.

Am untreuen Mammon will die Kirche nicht untreu werden. Mit Reichtümern gesegnet, muss sie mit ihren Pfunden wuchern, damit der gestrenge Herr am Ende der Zeiten auf seine profitverweigernden Knechte nicht böse wird. Also wird klerikal munter mitgezockt. Keine Zeit, um die gutmütige Occupybewegung, die dem Mammon gottwidrig an den Kragen will (sie weiß nur nicht wie), tatkräftig zu unterstützen.

Im Kampf um Wulff sieht die Schriftstellerin Monica Maron in der FAZ einen exemplarischen Kampf „um die politische Kultur in diesem Land.“ Da hat sie Recht.

In einem gruppendynamischen Projektionsspiel verraten die Medien, wie sie sein wollen, vor allem, was sie verabscheuen. Doch der notwendige Rückschluss auf sie selbst unterbleibt. Die Erkenntnisse werden nicht generalisiert, es wird keine allgemeine Debatte um den Zustand der Demokratie begonnen.

Das ist der Unterschied zwischen einem kollektiven Lernakt anhand einer umstrittenen Musterperson und einer Projektion, die alles stellvertretend an einem Sündenbock ablädt. Das erste wäre ein rationaler Akt, das zweite eine religiöse Katharsis, die auf dem neutestamentlichen Prinzip der „Stellvertretung“ beruht. Stellvertretend nahm der Herr all unsere  Sünden auf sich und starb pro nobis: auf dass wir Frieden hätten.