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Tagesmail

Dienstag, 09. Oktober 2012 – Die Unsichtbare Hand

Hello, Freunde Einsteins,

Albert Einsteins berühmter Brief über Religion soll in den USA versteigert werden. Darinnen steht:

„Das Wort Gott ist für mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen, die Bibel eine Sammlung ehrwürdiger, aber doch reichlich primitiver Legenden. … Für mich ist die unverfälschte jüdische Religion wie alle anderen Religionen eine Inkarnation des primitiven Aberglaubens. Und das jüdische Volk, zu dem ich gern gehöre und mit dessen Mentalität ich tief verwachsen bin, hat für mich doch keine andersartige Qualität als alle anderen Völker. So weit meine Erfahrung reicht, ist es auch um nichts besser als andre menschliche Gruppierungen, wenn es auch durch Mangel an Macht gegen die schlimmsten Auswüchse gesichert ist. Ansonsten kann ich nichts „Auserwähltes“ an ihm wahrnehmen. … Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott.“

Der Brief wurde 1954 verfasst. Was würde Einstein heute zur Besatzerpolitik Israels sagen, zur unaufhaltsam wachsenden Macht der Ultrareligiösen? Der Mangel an Macht ist längst vorbei, Sicherungen gegen Auswüchse müssten anderswoher kommen. Uri Avnery schrieb vor kurzem, man könnte Israel als das 51. Land der USA bezeichnen oder als das erste.

Hängt die Macht der Ultras nicht mit dem Fehlen einer eindeutigen Religionskritik im Lande zusammen? Muss ein Land nicht Probleme mit religiöser Selbstkritik haben, das sich über Rasse und Religion definiert? Gibt es sozialpsychologische Untersuchungen über die Frage, in welchem Maß

das religiöse Dogma der Auserwähltheit die Selbstwahrnehmung der israelischen Gesellschaft und die konkrete Alltagspolitik bestimmt?

(Markus C. Schulte von Drach in der SZ über den Einstein-Brief)

 

Religionen bestimmen die Weltpolitik, erklärte neulich Salman Rushdie. Zu seinem Erstaunen hat sich selbst der als tolerant geltende Hinduismus totalisiert und beginnt, Andersgläubige zu terrorisieren.

In Deutschland gibt’s wütenden Protest der Kirchen gegen den Vorschlag der Stadt Wittenberg, den russischen Pussy-Riots den Lutherpreis als Anerkennung für ihre politische Zivilcourage zu verleihen. Pfarrer und Lutherpreisträger Schorlemmer wütet gegen den Vorschlag und will die Protestmuschis nicht als lutherwürdig anerkennen.

Vermutlich, weil in allen Schriften des wortgewaltigen Reformators das Wort Pussy nicht vorkommt. Hätte er seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ genannt: „Von der Freiheit einer Christenmuschi“ hätte Schorlemmer ein Einsehen gehabt.

Man müsse sich für die jungen Frauen einsetzen, meinte er ungewohnt wohlwollend. „Aber nicht für den Scheißdreck, den sie gesungen haben.“

Die assoziativ-neurotische Verknüpfung vaginaler und analer Animositäten ist bei Protestanten endemisch. Die vorgeschriebene Lustquote von 52-mal pro Jahr – die manche Eheleute auch als Quälquote empfinden – ist bei ihnen an die vor Gott geschlossene Ehe gebunden. Die Russinnen hätten Gott gelästert, befinden rechtgläubige Kirchenführer.

Vielleicht empfiehlt sich hier ein Doppelverfahren: erst werden die Pussys vor der Wittenberger Kirche geehrt, damit die sakrale Würde des Gotteshauses durch Blasphemie nicht entweiht wird. Anschließend werden sie als Hexen verbrannt. Natürlich nur als symbolische ineinander gestapelte Babuschkas. Schließlich haben die Kirchen die Menschenrechte mühsam nachgepaukt und mittlerweilen sogar erfunden.

(Simone Schmollack in der TAZ über den Lutherpreis für Pussy Riot)

 

Die westlichen Demokratien erwarten von der Wiederkehr religiöser Werte die Lösung ihrer politischen Probleme, die mit säkularen Mitteln nicht gelöst werden könnten. Amerika, England und auch Deutschland empfinden sich als Nationen, die ihre Demokratie von Gott als Geschenk erhielten.

Der vernunftorientierte Laizismus Frankreichs wird mit dem Argument abgelehnt, die Vernunft habe sich bei Robespierre als despotische Gewalt erwiesen, weshalb Adorno & Horkheimer in ihrem Buch „Die Dialektik der Aufklärung“ den Satz schrieben: Aufklärung ist totalitär.

Warum man dann nicht viel energischer die Religionen ablehnt, die in Geschichte und Gegenwart ständig ihr unfehlbar-gewalttätiges Wesen offenbaren, bleibt ein schrecklicher Witz der Weltgeschichte.

Ohne religiöse Werte könne sich die deutsche Demokratie nicht am Leben erhalten, sagt der deutsche Aufklärer Nummer eins Habermas. In Amerika kann in den nächsten 500 Jahren kein Atheist, Pantheist, Deist, Nichtchrist, vermutlich nicht mal ein Jude das Weiße Haus erobern.

Der Engländer Locke gilt als einer der Väter der modernen Demokratie. Er war ein gläubiger Bibelexeget, hatte keine Probleme, Demokratie und Religion als Symbiose zu betrachten. Er schrieb ein Buch über die „Vernünftigkeit des Christentums wie in der Heiligen Schrift dargestellt.“ Vernunft habe er in dem Buch mit dem Supranaturalismus versöhnt, heißt es.

Ein seltsamer Satz. Wenn Vernunft die Logik der Natur, Supranaturalismus aber – also der christliche Glaube – eine übernatürliche Angelegenheit ist, wie können die beiden sich vertragen? Würden sie sich vertragen, wäre der Supranaturalismus ein Naturalismus. Nur dann gäb‘s keine unverträglichen Widersprüche. Sind die beiden Prinzipien aber unverträglich, wie können sie sich versöhnen?

Unsere Herz-Jesu-Marxisten Blüm und Geißler können Vernunft und göttliche Wunder problemlos miteinander vereinbaren. Wunder sind für sie keine Durchbrechungen der Naturgesetze, sondern Phänomene, die von der Wissenschaft noch nicht aufgeklärt sind.

Kein Wissenschaftler von Rang wird behaupten, dass die Wissenschaft schon alle Phänomene der Natur aufgeklärt hätte. Denn wissenschaftliches Denken unterscheidet genau zwischen dem, was man weiß und dem, was man nicht weiß, aber wissen will.

Wären Wunder noch nicht erklärbare Ereignisse, wären sie keine Eingriffe Gottes, der sich in Allmacht nicht an seine Gesetze halten muss. Supra-naturalismus ist entweder ein Antinaturalismus oder ein ganz ordinärer Naturalismus.

Locke wollte in seinem Buch darlegen, dass die biblischen Geschichten der Vernunft nicht widersprechen, obgleich er Anhänger der Verbalinspiration war, der Lehre also, dass Gott jedes Wörtchen selbst diktiert hat, somit jeder Buchstabe der Schrift unfehlbar sein muss.

Wir befinden uns immerhin schon im Zeitalter der Aufklärung, in dem es schon massenhaft naturwissenschaftliche Erkenntnisse gegeben hat, die mit dem Buchstaben der Schrift nicht übereinstimmten. Heute wäre Locke vermutlich Anhänger der Creationisten. Erst dieser Tage hat ein republikanischer Abgeordneter der USA die biologische Evolutionslehre als Ausgeburt der Hölle bezeichnet.

Locke, der moderne Erfinder der Demokratie, lebt putzmunter in Amerika, der führenden Demokratie der ganzen Welt. Jesus war für Locke nicht nur Verkünder des göttlichen Willens, sondern auch Erlöser. Womit er zu erkennen gab, dass der Mensch erlösungsbedürftig ist und durch eigene Kraft seine Probleme nicht lösen kann. Habermas ist demnach ein guter Lockeaner.

Da war selbst der Königsberger Kant schon weiter. Zwar brauchte auch er noch einen Gott, aber nur zur Komplettierung des glückswürdigen moralischen Verhaltens zur Glück-Seligkeit in Ewigkeit, Amen. Die Verbindung von autonomer Moral mit religiöser Gesinnung – die Hölle zu vermeiden oder die Seligkeit zu gewinnen – lehnte Kant mit Entschiedenheit ab. Das wäre eine außengelenkte (= hypothetische) Moral und keine kategorische. Es wäre sinnvoller, das Wörtchen kategorisch mit autonom = selbstbestimmt und das Wörtchen hypothetisch mit fremdbestimmt = heteronom zu übersetzen.

Kant und Locke gelten beide als Aufklärer, obgleich sie in Grundfragen unverträglich sind. Das hindert heute niemanden daran, unisono von Aufklärung zu bramarbasieren. Besonders von jenen, die sonst gegen jegliche Nivellierung wüten.

Auch Kant schrieb ein Büchlein über die Beziehung von Vernunft und Glaube und betitelte es: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Womit er klarstellte, dass allein die Vernunft bestimmt, was von der Religion als rational übernommen werden kann. Was nicht zur Vernunft passt, ist klerikale Phantasmagorie und muss aus dem Revier der Vernunft ausgeschieden werden. Somit konnte Kant auch kein Anhänger der Verbalinspiration sein.

Verbalinspirierte sind Fundamentalisten, die alle Wahrheit irrtumsfrei in der Bibel finden und sich genötigt fühlen, jedes Wort in der Welt zu verbreiten. Wenn‘s geht, mit Predigt, wenn’s nicht anders geht, mit der militia Christi. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.

Locke wäre heute Fundamentalist auf echt demokratischer Basis. Diese aparte Mischung bestimmt das Gesicht der Demokratie in all jenen Ländern, die von diesem Gesicht mit Gewehren und Kanonen traktiert werden. Und wir wundern uns, wenn der Nicht-Westen die westlichen Demokratien als Heuchelgebilde ablehnt.

Locke gilt als großer Prediger der Toleranz. In der Tat sollten alle Überzeugungen in der Demokratie geduldet werden – mit Ausnahme der Katholiken und der Gottlosen. Insofern dürfen sich heutige Blasphemie-Verschärfer und Pussy-Gegner in Deutschland zu Recht auf Locke berufen.

Bürgerrechte sollen selbstredend für alle gelten – mit Ausnahme der Frauen und Besitzlosen. Insofern ist es lockeanisch, wenn amerikanische Republikaner versuchen, unerwünschte Wähler ohne Money von den Wahlurnen fernzuhalten.

Locke gilt als Verkünder der Freiheit, die er tatsächlich auch für alle Menschen propagiert – mit Ausnahme der Sklaven. Richtig gelesen. Locke ist der letzte unter den großen Philosophen, „der die absolute und immerwährende Sklaverei zu rechtfertigen versucht.“

Amerikaner schauen gern auf die athenische Demokratie herab, weil sie eine Sklavenhalterpolis gewesen sei. Sie möchten die Urheber der wahren Demokratie sein. Hatten sie keine Sklaven? Hatten sie nicht Locke verinnerlicht? Wie lautet die Legitimation für die Versklavung?

Aristoteles begründete seine Bejahung der Sklaverei paternalistisch. Da gibt’s bestimmte unintelligente Menschen, die nicht über sich bestimmen können. Also müssen es jene Menschen stellvertretend für sie tun, die ihnen geistig überlegen sind.

Für Locke ist das Ganze eine Machtfrage. Wenn Menschen einen ungerechten Krieg beginnen und verlieren, hat der Sieger das Recht, sie zu töten oder zu versklaven. Woher das Recht? Vermutlich aus der „Vernunft“ der Heiligen Schrift. Dass man das Recht hat, sich gegen Feinde zu wehren – unbestritten. Doch was bedeutet der Begriff „ungerechter Krieg“.

Für Papisten war es ein Leichtes, jeden Widerstand gegen die imperialistischen Beutezüge der Spanier und Portugiesen als ungerechten Krieg zu bezeichnen. Denn die Eroberten erkühnten sich, ihr Eigentum als ihr Eigentum zu betrachten und nicht als von Gott bestimmtes Eigentum der Eindringlinge. Sie hätten den Eroberern mit weißer Fahne und Gesängen entgegen gehen, ihrer Freude Ausdruck geben sollen, ihr Land und Eigentum endlich jenen auszuliefern, denen es von Rechts wegen durch Gottes Verfügung gehört.

Da „wir Eigentum Gottes sind“, wie Locke sagt, die Welt auch das „Eigentum Gottes“ ist, versteht es sich von selbst, dass dem Eigentum Gottes das Eigentum Gottes gehört.

Das war die päpstlich abgesegnete Logik der Spanier und Portugiesen, als sie sich Südamerika aufteilten wie einen fetten Happen. Das war die Logik der Puritaner, als sie mit dem besten Gewissen der Welt die Rothäute zusammenkartätschten, da jene die Frechheit besaßen, die aus der Fremde kommenden Originaleigentümer des neuen Kontinents nicht anzuerkennen.

Das ist heute die Logik von Dabbelju und Obama, die keine Probleme haben, die Rohstoffe der Welt als ihr prädestiniertes Eigentum zu betrachten und als Amerikaner das Vierfache an natürlichen Ressourcen zu verbrauchen, als ihnen bei gerechter Verteilung zustünde.

Locke lebt und webt in der globalen Weltpolitik des Westens, alles, was in seinem Namen geschieht, gilt als demokratisch und aufgeklärt.

Es wird Zeit, liebe Schwestern und Brüder, die „Aufklärung über sich selbst aufzuklären“. Bestimmt nicht im Sinne der Romantiker und aller Nachfolger bis heute, die – wie Georg Picht – die Aufklärung erneut dem Glauben unterwerfen wollten, weil der menschliche Verstand ohne Gottes Leitung sich selbst und alle Welt verfrühstücken würde.

Unter Aufklärung der Aufklärung wollen wir den Versuch verstehen, alle unvernünftigen Offenbarungsreste der Vernunft auszutreiben und das menschliche Dichten und Trachten allein der menschlichen Denkkraft zu überantworten.

Die Menschheit, selbst die meisten Gläubigen, sind ihren Religionen längst entwachsen und haben deren intolerante Moral mit Hilfe demokratischen Streitens und mehrheitlichen Abstimmens überwunden. Nur in der Wirtschaft und im Vatikan regieren noch selbstherrliche Autokraten, die nur Gott und den Mammon fragen, was sie tun sollen.

Doch die faktische Loslösung der Menschen vom Buchstaben der Schrift genügt nicht. Die Religiösen sollten akzeptieren, dass es allein ihr moralisches Tun ist, das die verblichene Autorität ihrer Heiligen Schriften stützt. Sie sollten sich endgültig von den letzten Tabus und Denkverboten der Offenbarungen lösen und sich mit Bewusstsein allein auf den Boden der menschlichen Vernunft stellen. Ohne Krücken und Stützen von oben, die sie selbst stützen müssen, damit sie nicht verfault in sich zusammenkrachen.

Der mündige Mensch hat seine Religion überwunden, er sollte es sich auch zugestehen.

Im Gegensatz zu Kant benötigt Locke noch die biblische Lehre von Lohn und Strafe, um seine Ethik zu begründen. „Gott hat bestimmte moralische Regeln aufgestellt; wer sie befolgt, geht ein in den Himmel, und wer sie verletzt, läuft Gefahr, in die Hölle zu kommen,“ wie Bertrand Russell das Locke‘sche System beschreibt.

Es gibt noch einen weiteren gewichtigen Unterschied zwischen dem deutschen und dem englischen Philosophen. Bei Kant war Glück als Ziel des moralischen Verhaltens ausgeschlossen. Jede moralische Tat sollte um ihrer selbst willen begangen werden. Locke war hier lust- oder glücksbetonter, der Einfluss des griechischen Hedonisten Epikur (hedone = Lust) ist unverkennbar.

Man kann schon von nationalen Unterschieden sprechen. Während die von allen Schätzen der Welt abgeschnittenen Deutschen sich noch keinerlei irdischen Wohlgefühlen hingeben durften, war das stolze britische Empire dabei, die Welt zu erobern und sich der verlockenden Güter der Völker zu bemächtigen.

„Die Dinge sind gut oder böse nur in Beziehung auf Freude oder Schmerz. Gut nennen wir das, was in uns die Freude zu wecken oder zu steigern oder den Schmerz zu verringern geeignet ist. Fragt man weiter, was das Verlangen errege, so antworte ich: das Glück und nur dieses.“ (Locke)

Womit wir endlich beim Glück angelangt wären, das in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zur Grundlage des kapitalistischen Lebens erklärt wird. Das Streben nach Glück wurde zum Leitmotiv des freien Amerikaners.

Warum nicht das Glück, warum nur das Streben danach? Klingt das nicht nach dem Satz: Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts? Darf man sagen: das Streben nach Glück ist alles, nicht das Erreichen des Glücks? Ist das Glück des amerikanischen way of life unendlich in die

Wenn das so wäre, wäre die Formel pursuit of happiness ein absurder Kompromiss aus griechischem Glücks- und Luststreben und dem absoluten Glücksverbot auf Erden des Paulus: „Ihr seid schon satt geworden“. Der Kapitalist hat ständig nach dem Glück zu streben – allein, er darf es nie erreichen.

Das ist der Grund, warum ökonomische Ideologen des Westens von „unendlichen Bedürfnissen“ sprechen. Sind Bedürfnisse unendlich, kommen sie nie ans Ziel und können niemals satt und zufrieden werden. Erneut haben wir einen ausweglosen Kompromiss auf dem Untergrund der westlichen Lebensstimmung gefunden. Werdet glücklich, doch wehe, ihr werdet es.

Dürften wir tatsächlich glücklich und gesättigt werden, könnte die kapitalistische Unendlichkeitsmaschinerie keinen Tag länger überleben. Wir würden arbeiten, um zu leben und nicht leben, um die grenzenlose Profitgier von Menschen zu bedienen, die in diesem Leben niemals satt und glücklich werden dürfen.

Bei Locke geschieht die wahre Erfüllung des menschlichen Glücksstrebens erst im Himmel. Als dieser Glaube allmählich abhanden kam, bei Bentham zum Beispiel, senkte sich das Ziel auf die Erde und wurde zur irdischen Zukunft. Jetzt bleiben zwar noch viele Wünsche offen, aber in der Zukunft wird alles paletti.

Das trifft auch zu für die Harmonie zwischen egoistischen und gesellschaftlichen Interessen. Handle ich nur im Interesse meines persönlichen Glücks, könnte das Interesse der Gesellschaft Schaden nehmen. Doch was jetzt noch missglückt, wird sich in der Zukunft mit Sicherheit einstellen: die Harmonie von Egoismus und Altruismus, von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen. Wir müssen nur langfristig an die Harmonie glauben.

Der Glaube an die Harmonie der Gesellschaft verschob sich bei Bentham in die Zukunft. Bei Adam Smith verwandelte sich der Glaube an die Zukunft in den Glauben an die Unsichtbare Hand. Ein merkwürdiger Ausdruck, der dem Jargon der Seefahrer entstammt, wo es üblich war, die Rettung auf hoher See einer unsichtbaren Hand zuzuschreiben. Die Ursache war unsichtbar, die Wirkung sichtbar.

Dass es sich um die Hand Gottes oder einer gütigen Natur handeln muss, ist bei einem christlich erzogenen Stoiker unvermeidbar. Was er meint, hat er in seinem zweiten Buch angesprochen. Wer bewusst nur seinem eigenen Interesse folgt, „wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag. Es ist auch nicht immer das Schlechteste für die Gesellschaft, dass dieser nicht beabsichtigt gewesen ist. Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.“

Das stellt den gesunden Menschenverstand auf den Kopf. Was wir anstreben, sollen wir tun, indem wir es bewusst nicht anstreben. Geht’s noch? Erinnern wir uns der Allergie von Adam Smith gegen die altruistischen Absichten der Kirche, die seiner Meinung nach alle das Gegenteil von dem bewirkten, was sie angeblich wollten. Möglicherweise sehen wir eine Reaktionsbildung bei Smith.

Wenn bewusstes Handeln das Gegenteil von dem bewirkt, was es wollte, müsste der Mensch das Gegenteil von dem anstreben, was es insgeheim will. Das nennen wir paradoxe Intervention.

Durch die Umwertung der griechischen Werte erscheint die paradoxe Intervention in voller Schärfe im Neuen Testament. Willst Du Erster werden, werde Letzter; Gott ist in den Schwachen mächtig; lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihnen ist das Reich der Himmel; nicht viele Mächtige und Weise sind unter euch, die Weisheit der Welt ist Torheit vor Gott.

Übertragen ins Ökonomische: Seid egoistisch, um der Gesellschaft zu dienen; werdet böse, um gut zu sein. Seien wir nicht mehr altruistisch, um egoistisch zu werden; seien wir egoistisch, um das Gemeinwohl zu bewirken.

Nietzsches Degradierung des sokratisch-bewussten Wollens kündigt sich hier schon an. Dem voraus gegangen war Mandevilles Bienenfabel mit dem Resumee: private Laster, öffentliche Tugenden. Tue wirtschaftlich das Gegenteil von dem, was du privat für tugendhaft hältst und du wirst Erfolg haben. Also sei übertrieben ehrgeizig, geld- und habgierig: dann wirst Erfolg haben und somit den Wohlstand der gesamten Gesellschaft vermehren.

Hinter der These Mandevilles steckt der theologische Glaube an die Wirksamkeit des Bösen, das man nicht vermeiden, sondern nutzen soll.

Seit Machiavelli hatte sich ein Paradigmenwechsel angekündigt. Das Böse ist fruchtbarer und kreativer als das Gute. Der Teufel ist der wirksamste Diener Gottes zum Guten.

Dieser Gedanke wandert zu Mephisto, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Nach Auffassung vieler Aufklärer hatte das nur Gut-sein-wollen mehr Schäden angerichtet als der gute Wille zugeben wollte. Hier ist also die Quelle der modernen Gutmenschenschelte. Warum also nicht alles auf den Kopf stellen, das Böse wollen, um das Gute zu erreichen?

Die Stelle über die Unsichtbare Hand ist für Hayek ein Urwort für seine neoliberale Grundeinstellung: Kämpft, konkurriert, seid egoistisch, dann sind eure Chance viel höher, etwas Ersprießliches zu erreichen, als wenn ihr nur rundum lieb und nett zueinander seid und alle Motivationen in arkadischer Schäferidylle ersticken, wie Kant es formulierte. Kants unsichtbare Hand war die Natur, die besser wusste, was dem Menschen dient, als er selbst.

Das Bewusstsein des Menschen ist zu schwach, um zu wissen, was gut ist für ihn. Bei Mandeville ist es der Gottseibeiuns, bei Locke der biblische Gott, bei Bentham die Zukunft, bei Smith die unsichtbare Hand, bei Kant die Natur, bei Nietzsche das Dionysisch-Triebhafte, bei Hayek die Evolution, die es besser wissen als der Mensch mit seiner mangelhaften Intelligenz.

An dieser Stelle stehen wir heute. Ist der Mensch noch immer unmündig und unfähig, zu wissen, was er will und das Wissen adäquat und mit vollem Bewusstsein in die Tat umzusetzen?

Oder soll er einfach drauf los wursteln, seinen egoistischen und asozialen Trieben folgen und darauf vertrauen, dass es über-menschliche Mächte gibt, die ein Einsehen haben und die auseinanderdriftende kapitalistische Welt zur Harmonie bringen? Ganz dem Motto folgend: der Mensch in seinem dunklen Drang ist sich des Weges wohl bewusst?

Ist Dunkel besser als Licht, bewusstseinslos besser als bewusst, unabsichtlich besser als absichtlich, paradox besser als direkt?

Es scheint, als ob der westliche Mensch mit wütender Entschlossenheit immer größere Krisen produzieren muss, um die Unsichtbare Hand aus ihrer passiven Anonymität hervorzulocken.

Die Christen vermissen zunehmend die bewusste Steuerung ihres himmlischen Vaters. Sie randalieren immer verzweifelter, um ihren unsichtbaren Gott zu provozieren, damit er sich in eine sichtbare Hand verwandle.

Der religiöse Westen unternimmt alles, um durch „Schreien zum Himmel“ die Ankunft seines Messias zu beschleunigen. Der moderne Mensch muss das kollektive Gefühl haben: allein kann er es nicht mehr schaffen.

„Aus tiefer Not schrei ich zu Dir,

Herr, Gott, erhör mein Rufen

Bei Dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,

Die Wirtschafts-Sünden zu vergeben

Es ist doch unser Tun umsonst

Auch in dem besten neoliberalen Leben.“