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Dienstag, 08. Mai 2012 – Handke und Israel

Hello, Freunde des Reichtums,

Hilde Schramm ist die Tochter Albert Speers: „Mir ist in meinem Leben klar geworden, dass man immer hingucken muss – gestern und heute –, wie verdienen Leute ihr Geld, durch wessen Ausbeutung.

Da bin ich stur an dieser Stelle, und ich sage es noch mal: Der ganze Reichtum, der heute erworben ist, der ist nicht unschuldig – überhaupt nicht. Man sollte sehen, wie viele unterschiedliche Formen von Vorteilsnahme auf Kosten anderer an unserer Geschichte hängen. Sie und du und ich und unsere Nachgeborenen sind die Erben.

Da gibt es natürlich viel Abwehr. Schon allein beim Wort „ZURÜCKGEBEN“. Das ist mit Schulden verbunden, Geborgtes gibt man zurück. Bei zu Unrecht Genommenem kommt die Schuld ins Spiel, für Geraubtes wird Rückgabe gefordert. Damit will niemand etwas zu tun haben, das widerspricht dem Selbstbild der bürgerlichen Ehrvorstellungen.“

Hierzu der ganze Artikel von Gabriele Goettle über Hilde Schramm.

Warren Buffett hat das letzte Jahr seinen Gewinn verdoppelt: mehr als 3,2 Milliarden Dollar. Unter anderem mit Buffetts „legendären Finanzspekulationen“.

ZURÜCKGEBEN! SUBITO!

Hollande wird den Kapitalismus nicht abschaffen, es geht nur um einen kleineren Familienstreit derer, die haben. Mehr sparen – oder mehr auf Pump leben, um den Motor anzuwerfen, dass man, wenn

die Kasse wieder stimmt, die Schulden zurückzahlt?

Wo kommt eigentlich das Geld her? Von der Zentralbank. Die druckt es billig und verteilt es billig an die Banken. Die verleihen es an die Staaten gegen teure Zinsen.

Fast umsonst kriegen sie Geld, mit dem sie ohne Arbeit ungeheuren Profit machen, indem sie es an die Staaten geben, die sich bei ihren Bürgern verschulden müssen, um es wieder zurückzuzahlen.

Ist das ein Naturgesetz? Hat dies irgendein Parlament auf der Welt oder gar die UN beschlossen?

Aus Holz mach Papier, aus Papier mach Geld, aus Geld mach Berge von Geld. Die innersten Mechanismen der Wirtschaft kennt niemand, danach fragt niemand.

WIR fragen nicht danach, WIR glauben, eine Herrschaft des Volkes sei eine Herrschaft des Volkes. WIR wissen noch nicht mal, woher der Saft kommt, der die Ökonomie in Schwung hält, die Besitztümer verteilt und die Gesetze des Besitzens diktiert.

Kapitalismus ist nicht Herrschaft des Geldes, sondern derer, die bestimmen, wer Geld machen und per Abrakadabra in Gold verwandeln kann.

Wär ich omnipotent, würd ich morgen früh der Menschheit erklären: ab jetzt gilt euer Geld nicht mehr. Sondern ab jetzt ist – Sand und Geröll das Geld. Zuvor hab ich allen Sand und Geröll der Welt einsammeln lassen und kaufe mit Dreck alle Besitztümer der Welt. Übermorgen wär ich nicht nur omnipotent, omniszient, omnipräsent, sondern auch omniopulent. Mit einem Wort: Gott.

Gott ist, wer definiert, was Geld ist. Geld ist die Macht, aus kostenloser Natur Geld zu schlagen. Am Anfang war Nichts. Aus Nichts schuf Gott die Welt, sein Kapital, mit dem er wucherte. Wer aus Nichts Geld machen kann, der wird bei uns angebetet.

Wenn Gott aus Nichts oder Dreck Geld machen kann, muss sein Ebenbild das auch können. Das hat Locke – jener englische Gentleman, der die neuzeitliche Demokratie und den neuzeitlichen Eigentumsbegriff erfand – in Theorie umgesetzt.

Während Gott die Natur aus Nichts erschaffen hat, erschafft der Mensch alles aus Natur, einem Fast-Nichts. Im Gegensatz zu seinem himmlischen Herrn muss er arbeiten, um aus der nichtswertigen Natur Reibach zu machen. Das ist der neuzeitliche Arbeitsbegriff.

Wer nicht arbeitet, hat kein Geld. Laut Gerücht soll diese Theorie noch heute gelten. Sie gilt nicht mal bei jenen, die noch arbeiten müssen, um sich über Wasser zu halten.

Was sie der Natur per Arbeit entlocken, ist ja kein Geld, sondern Früchte und andere Lebensmittel. Wenn sie mit diesen Naturprodukten Geld verdienen wollen, weil sie zuviel davon haben, müssen sie die Dinge einschätzen und in Geld verwandeln, indem sie erklären, was diese Dinge wert sein sollen.

Das ist schon das Ende der Fahnenstange und von Locke. Denn nicht die Arbeitenden bestimmen, was ihre Arbeit wert ist, sondern die Geld- und Wertebestimmer. Die bestimmen freihändig die Werte, weil sie die Macht dazu haben. Nicht, weil sie dank höherer Intuition wüssten, was sie laut Naturgesetz wert wären.

Es gibt beim Zaster keine Naturgesetze, sondern nur Gottesgesetze. Gott kann das Nichts und das Fast-Nichts, also die Natur, nach Belieben wertmäßig bestimmen. Das nennt man Werte-SCHÖPFUNG. Wertschöpfung aus dem Nichts.

Wenn man die Erde nach heute geltenden Wertschöpfungsregeln schätzen und verkaufen wollte, weil es im Weltall Kaufinteressenten unter den Aliens gäbe, müssten die Bieter – in unserer Währung – phantastische Summen bieten. So ungeheuer viel wäre der schöne blaue Planet wert. Da aber die Nachfragen aus der Milchstraße ausbleiben, ist die Erde keinen Cent wert.

Der Schöpfer aus dem Nichts war der erste Werteschöpfer aus dem Nichts. Somit war der Schöpfer die Zentralbank, die aus Nichts oder Fast-Nichts Alles macht. Alles ist das Geld.

Der Schöpfer wäre hiermit der erste Zentralbänker, der sein Kapital, die Welt, an andere verleiht, die er zu diesem Zweck erst erfinden muss: die Menschen.

Den Menschen verleiht er seine Schöpfung gegen Zinsen, er verwandelt die Menschen in Schuldner. Weswegen der wichtigste Gebetsseufzer heißt: Und vergib uns unsere Schuld.

Seltsamerweise wird die Bitte begründet mit dem Satz: wie wir vergeben unseren Schuldigern. Das klingt, als ob die Betenden sagen wollten: Wenn wir‘s schon können, kannst DU es doch auch. Auf jeden Fall artikuliert sich das Bedürfnis, seinem Mitmenschen die Schulden zu vergeben.

Wozu braucht man dazu die „Erlaubnis“ von Oben? Vergebt euch, streicht eure Schuldscheine durch und ihr seid alle Schulden los. Doch Halt! Da Gott Zentralgläubiger ist, kann ich meinen Schuldigern nicht vergeben, solange meine Schulden bei der Zentralbank nicht getilgt sind.

Solange wir Gott als Zentralgläubiger akzeptieren, wird’s zur schuldenfreien Politik nicht kommen. Solange er uns an der Gurgel hat, solange müssen wir unsere Nachbarn rundrum würgen, sonst könnten wir unsere Schuld nicht zurückzahlen.

Der Sinn des endlos gegenseitigen Schuldenmachens ist die Verweigerung der Selbständigkeit und der Freiheit. Wenn jeder vom andern abhängig ist, kann es echte Autonomie und Freiheit nicht geben.

Jetzt verstehen wir den Standardsatz unseres Ersten Pastoren: Freiheit in Verantwortung. Das ist keine echte Freiheit, sondern eine mit der Nötigung, ja nicht unsere Schulden zu vergessen, die dank Zins und Zinseszins immer höher steigen.

Erb-Schuld kann nicht getilgt werden, die hast du wie Rotz an der Backe. Du bist frei – doch denk an deine Schuld, so heißen Schulden auf Theologisch. So bleiben wir uns lebenslang etwas schuldig, unsere gegenseitige Schuldigkeit werden wir niemals los. Alles, was wir uns gegenseitig tun, geschieht aus Pflicht und Schuldigkeit. Und nicht aus freudigem Bedürfnis, weil wir uns über alle Maßen lieben und herzen.

Deshalb kann es nie unser Verdienst sein, was wir tun und wenn wir noch so sehr wie Mutter Theresa und Albert Schweitzer auftreten. Wir haben immer nur getan, was wir einander schuldig waren. Wir haben nur unsere erpresste Pflicht absolviert, wenn unsere gegenseitigen Verbindlichkeiten auf Null stehen. Auf Nichts.

So aber fing die heilige Weltgeschichte an: bei Nichts. Endet sie wieder bei Nichts, war die ganze Geschichte für die Katz. Die Geschichte soll die Probleme lösen, die es ohne Geschichte gar nicht gegeben hätte.

Das hat Hegel so formuliert: der Geist heilt die Wunden, die er selber schlägt. Also Nullsummenspiel. Die christliche Geschichte bringt‘s nicht mal zum Nullsummenspiel. Die Endbilanz ist nicht Plus-Minus-Null, sondern minus Unendlich, die wenigen Hanseln im Himmel machen den Bock auch nicht mehr fett.

Gottes Inventur ist miserabel, die meisten seiner Geschöpfe hat er ins ewige Elend gebracht. Eine meisterliche ökonomische Gesamtleistung. Der Herr der Wert-SCHÖPFUNG endet als Total-Bankrotteur mit unendlich vielen Leichen im Keller. Die vielen Geschöpfe, die er mit seinem göttlichen Samen gezeugt hat, interessieren ihn noch weniger als jenen künstlichen Spermiengeber, der sich um seine laborgezüchteten Retortenkinder nicht die Bohne kümmert.

Endnote im finalen Zeugnis: miserabel, katastrophal, desaströs. Oh Herr, das muss beim nächsten Mal anders werden, sonst gibt’s einen blauen Brief an die lieben Eltern ganz hinten im Weltall, drei Lichtjahre nach links, eine Quantensekunde vor dem Urknall.

Wenn der schwäbische Schuldenmeister Hegel das Sein nicht zugleich mit dem Nichts hätte anfangen lassen, wär das globale Finanzdebakel vermeidbar gewesen. Das Sein ist in seiner Inhaltslosigkeit so viel als das Nichts. Was bedeutet, auf der einen Seite ist alles, auf der andern nichts.

Das kann nicht gut gehen: am Anfang ist die große Schere oder der große Abgrund, die so nicht bleiben können. Alles andere hätte das gerechte Herzchen Hegels nicht ausgehalten. Also Sein und Nichts zusammengeworfelt und dann zugucken, was passiert. Die Gegensätze verursachen einen ungeheuren Dampf im Kessel: die Weltgeschichte mit ihren Konflikten beginnt zu blubbern und zu brodeln.

Auf Hegelisch: „Es ist also kein Unterschied desselben, sondern was ist, ist hiermit nur das Setzen ihrer als Unterschiedener und das Verschwinden eines jeden in seinem Gegenteil, oder es ist das reine Werden.“ („Philosophische Propädeutik“)

Jetzt haben wir den Schlamassel, wenn was wird und keine Sau weiß, was aus dem Ganzen werden soll. Hegel, den Urkoch des Werdens kümmert das nicht, sein Urvertrauen in den Sinn seiner Hexenküche ist ungebrochen.

Macht den Deckel auf den Suppentopf und lasst ihn vollständig in Ruhe, auch wenn’s zwischendrin kracht und zischt, das wird schon, sagt er den Naseweisen, die immer im Chaos rumrühren wollen, weil sie glauben, immer alles besser zu wissen.

Manche Leute haben das Sein mit dem Guten, das Nichts mit dem Bösen identifiziert. Fromm spricht vom Sein und Haben, damit meinte er auch nichts anderes. Diejenigen, die sind und sich ihres Lebens freuen, müssen nicht viel haben. Wer nur aufs Haben setzt, wird nie einer, der ist.

Am Schluss versöhnen sich Sein und Nichts, die Schere ist geschlossen, die Kluft überbrückt. Anbrechen Paradies und Utopie.

Doch jetzt müssen wir dem Meisterkoch die Suppe versalzen. Vor 20, 30 Jahren oder kurz nach dem Fall der Mauer hätte man das vereinigte Sein & Nichts als nahe bevorstehende Realität noch für möglich gehalten: Fukuyama, die ganze Welt wird demokratisch und wohlhabend, wir erleben das Ende der Geschichte.

Aber jetzt geht’s im Höllentempo wieder dorthin zurück, wo alles begonnen hat mit der großen Schere zwischen Sein und Nichts, Sein und Haben, Gut und Böse, Gott und Teufel. Die Gegensätze waren nämlich nicht miteinander zur Synthese verkocht, sie mimten nur Synthese und haben das Werden durch Vergehen ziemlich in die Nähe des Nullpunkts zurückgedrängt.

Das hängt damit zusammen, dass der Mensch zwar schon auf dem Mond war, aber die Suppe, die er sich selber eingebrockt hat, nicht kochen kann. Jeder pfuscht mit seinem Spezialrezept herum, auf ein gemeinsames Rezept kann man sich nicht einigen. Darüber zu streiten und zu einem Ergebnis zu kommen, wäre die Sache mündiger Köche.

Wenn man aber Einigung schon mit Totalitarismus verwechselt, darf man sich nicht wundern, wenn sich der desaströse Zwang zur Nichteinigung durchsetzt und ein Ergebnis herbeiführt, das niemandem schmecken wird.

 Die nächste Schreckensmeldung aus Arabellion. Ausgerechnet in Tunesien, im Ursprungsland der Freiheitskämpfer, beginnt die Hatz auf alle, die sich salafistischen Schlägertruppen nicht unterordnen wollen. Darunter Frauen und Juden.

Führende Intellektuelle sind schon lange nicht mehr nur links. Die meisten französischen „Meisterdenker“ unterstützten Sarko. Bei uns gab‘s mal einen, der für die SPD trommelte. Er hieß Grass.

 

Micha Brumlik hat, wie so oft, einen verwirrenden Artikel über ein Thema geschrieben, das die Piraten nicht weiter interessieren wird. Da geht es um ein weit entferntes Land, das mit uns so gut wie keine gemeinsamen Berührungsflächen hat. Viel eher sollten wir uns um die Probleme in Ouagadougour kümmern als um ein Land, das wir eh nicht verstehen. Dass dies auch weiterhin so bleibt, dafür sorgt der professorale Rezensent.

Nachdem das Getöse um Grass nun endlich vorüber sei – an dem Brumlik nicht ganz unbeteiligt war –, könne man sich wieder um Israel kümmern.

Nach „überwiegender völkerrechtlicher Lehre“ widerspräche die Besiedlung internationalem Recht.

Hier stock ich schon: überwiegender völkerrechtlicher Lehre? Gibt’s denn Meinungen, die den imperialistischen Landraub absegnen? Warum versteckt sich Brumlik hinter sophistischen Gelehrten? Was ist seine eigene Meinung?

Zur Legitimierung berufe sich die Siedlerbewegung nicht auf sicherheitspolitische Erwägungen – wäre sie unter diesen Perspektiven etwa legitim? –, sondern auf die biblischen Landverheißungen.

Ob Brumlik das gut findet, erzählt er uns nicht. Sollen jahrtausendealte selbsterfundene Mythen heutige Unrechtspolitik legitimieren? Das wird auch dadurch nicht besser, dass christliche Theologen diesen Wahnwitz unterstützen.

Ein amerikanisch-jüdischer Friedensaktivist will nun mit einem Buch christliche Sympathisanten davon überzeugen, ihre Solidarität mit Israel und der Siedlerbewegung aufzukündigen und sie palästinensischen Christen zukommen zu lassen.

1. Israel und die „Siedler“bewegung sind nicht identisch. Ich kann sehr wohl die Siedler, die in Wirklichkeit Besetzer sind, kritisieren, ohne dem ganzen Land Israel meine kritische Freundschaft aufzukündigen. Schon klingt es bei Brumlik, als schütte der Autor Braverman das Kind mit dem Bade aus.

2. Die palästinensische Gesellschaft ist nicht identisch mit der christlichen Minderheit. Das klingt, als ob es dem Autor nur um die Minderheit der Christen ginge.

Brumlik formuliert mit subkutanen Akzenten, dass einem während der Lektüre alle möglichen Ressentiments um die Ohren fliegen. Bevor er die Position des Herrn Braverman darlegt, stellt Brumlik prophylaktisch fest, dass jener „judenfeindlich“ argumentiere.

Nun sind wir gewarnt und wissen gleich, was wir zu denken haben, wenn wir nicht in den Verdacht kommen wollen, judenfeindlich zu sein.

Judenfeindlich soll die Deutung der Thora sein, die der Autor nicht aus orthodox-jüdischer, sondern aus christlicher Perspektive deutet. Sie sei kein Akt der Gnade, kein neutestamentarisches Heilsgeschenk, keine Vergebung der Sünde. Sondern es ginge – ganz antik und weltlich – um nichts anderes als um Volkstum, Nachkommenschaft, Wohlstand und Land.

Der Autor verfüge nicht über die Kompetenz, so Brumlik, seine Meinung aus jüdischer Sicht zu begründen. Dazu fehle ihm die Kenntnis der außerbiblischen rabbinischen Literatur. Zudem sei er nicht fähig, „die universalistischen Gehalte prophetischer Verkündigung“ für seine Solidarität mit den Palästinensern aufzubieten. Vermutlich Brumliks eigene ethische Haltung.

1. Ist man automatisch judenfeindlich, wenn man jüdische Religion anders sieht als Juden? Dann wäre jede Religionskritik an sich schon ein antisemitischer Akt.

Voltaire und andere spöttische Kritiker der Bibel werden in diesem Sinn durchweg als Antisemiten eingestuft, obgleich sie sich über alle Religionen lustig machen. Ist Hohn und Spott gegen Religionen verboten? Diese aber dürfen die Mehrheit der Ungläubigen ungerührt der Hölle übergeben?

Sollen Religiöse bestimmen, wo legitime Kritik aufhört und Blasphemie beginnt? Dann sind wir endgültig ins Mittelalter zurückgekehrt. Kein Wunder, dass selbst atheistisch-selbstkritische Israelis sich zu einer grundsätzlichen Religionskritik nicht durchringen können.

2. Gibt es eine Religion der Juden? Wenn es den Juden nicht geben darf aus Klischeeverdacht, wieso kann es dann einen verbindlichen Glauben der Juden geben?

3. Wieso muss man alle Büchermassen rabbinischer Gelehrter gelesen haben, um schlicht seine individuelle jüdische Meinung zu äußern?

4. Wieso muss man sich dem „universalistischen Gehalt prophetischer Verkündigung“ verpflichtet fühlen, um mit unterdrückten Völkern solidarisch zu sein?

Halten zu Gnaden: universalistisches Denken ist auf dem Boden griechisch-universeller Vernunft entstanden.

Universelle Vernunft ist die Stimme aller Menschen: von Natur aus angelegt, im streitenden Dialog auf der demokratischen Agora entbunden.

Prophetie ist Stimme einer Offenbarung im Namen einer himmlischen Autorität, an die man nur glauben kann. Wer den Glauben nicht teilt, wird ausgesondert und vernichtet.

Soll die Thora – wie bei Mendelssohn oder Cohen – nicht das Produkt einer Offenbarung sein, kann die Stimme der Vernunft keine prophetische sein.

Sokrates trat nicht als Stimme eines Gottes auf. (Popper, der Sokrates-Fan und leidenschaftliche Freund der Aufklärung und der Vernunft, warnt ausdrücklich vor Richtern und Propheten.) Als das Orakel von Delphi ihn zum weisesten Menschen erklärte, unternahm er alles, um diese Aussage zu überprüfen und zu widerlegen.

Propheten hingegen widerspricht man nicht, wenn man von Strafen ihrer Auftraggeber verschont werden will. Prophetischer Universalismus ist ein Widerspruch im Beiwort.

Vernunft beruft sich nicht auf Personen und seien sie noch so angesehen und göttlich, sie beruft sich auf ihre eigene Autonomie, die sich im Verlauf einer gleichberechtigten Debatte durch Evidenz äußert. (Es geht nicht um Sokrates, es geht um Wahrheit.) Äußert sie sich nicht, müssen die Streiter weiter an ihr arbeiten.

Eine unfehlbare Instanz – Rom hat gesprochen, die Rabbiner oder die Gottesgelehrten haben gesprochen, ergo ist die Causa beendigt – gibt es nicht. Eine Botschaft für alle ist noch lang keine Botschaft von allen, die von allen vernünftigen Menschen unterschrieben werden kann.

In einem Doppelinterview mit Peter Handke und seinem jüdischen Freund Luc Bondy zeigt sich der Doppelstandard der öffentlichen Debatte um Israel unverhüllt.

Im Streit um Grassens Gedicht stellt Handke fest: „Okay, Israel sagt nicht, Gaza muss vernichtet werden und Iran muss vernichtet werden, aber im israelischen Denken ist doch etwas, was einem immer wieder wehtut. Darf man das nicht sagen?“

Bündige Antwort von Bondy: „Nein“. Begründung: „Die Leute in Israel dürfen öffentlich Kritik äußern, öffentlich diskutieren, und sie sind nicht in der Situation, dass sie einfach Befehle ohne Widerspruch hinnehmen.“ Beckmesserisch könnte man nachfragen: Mit Widerspruch aber müssen sie die Befehle hinnehmen?

In Israel, fügt Bondy hinzu, gebe es noch das Recht auf Widerspruch. Das klingt mehr als merkwürdig. Darf man Israel von außen nicht kritisieren, weil es a) eine Demokratie ist, b) weil die Israelis sich selbst kritisieren, c) weil Israel eine bessere Demokratie als der Iran ist? d) Wieso muss man um Erlaubnis fragen, wenn man eine Demokratie kritisieren will? e) Wer nimmt sich das Recht – zumal als Demokrat – eine solche Kritik zu erlauben oder gar zu unterbinden?

Warum stellt der in Sachen Serbien so kühne Außenseiter Handke sich im Fall Grass so unterwürfig und halbwissend dar? Warum fragt er um Erlaubnis, wenn er zum Thema Israel nur seine subjektiven Gefühle äußert, das Land nicht mal sachgerecht zu kritisieren wagt?

Warum stellt der ZEIT-Interviewer nicht die Frage, warum Handke demütig fragen muss und Bondy autoritär die Debatte beenden darf, eine Debatte, die ihren Namen nicht verdient?

Bestätigt das Interview nicht das, was es dementiert: dass das israelische Thema noch immer ein Anathema ist?

Das deutsche Heuchel-Maß der öffentlichen Debatte in Sachen Israel ist einer Theokratie würdig, nicht einer mündigen Demokratie.

Wer glaubt, mit dieser devoten Beflissenheit dem Land Israel zu nützen, sollte die Begriffe kritische Solidarität aus seinem Wortschatz tilgen.