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Dienstag, 07. Februar 2012 – Historischer Determinismus

Hello, Freunde der Schweden,

in Malmö wächst der Antisemitismus. Wer darüber spricht, wird mit Breivik verglichen. Manche jüdischen Familien sind schon weggezogen. Bei einer „Kippa-Demonstration“ befand sich ein einziger Nichtjude, ein schwedischer Journalist, der seine Solidarität zeigen wollte.

Der Hass gegen die Juden stamme weniger von Neonazis, sondern von Einwanderern aus muslimischen Ländern. Anders als in Norwegen und Dänemark hüllt Schweden sich in Schweigen.

Der WELT-Artikel ist unscharf. Ist der muslimische Hass gegen Juden typischer Antisemitismus? Oder leitet er sich in überwiegendem Maße aus den Spannungen der Nahostpolitik ab, wo Muslime das Feinbild Israel vor Augen haben?

Warum keine Erinnerung an die historische Tatsache, dass bei christlichen Pogromen die Juden stets in muslimischen Staaten Zuflucht fanden, zwar nicht gleichberechtigt, aber sicher an Leib und Leben waren?

Für Muslime gehörten Juden und Christen zur gemeinsamen Familie der Buchreligionen. Keine einzige Frage an die Muslime selbst, wie sie die Lage sehen.

Die Zahl der Verbrechen aus Hass gegen die Juden sei gestiegen, woher

weiß man das und um welche Verbrechen geht es? Statt einer Erklärung das Eingeständnis, die steigende Zahl der Morde habe mit dem Angriff auf die Juden nicht direkt zu tun.

Ein typisch europäischer, sich auf Stimmungen beschränkender Artikel, der keine klaren Fakten liefert, keine Fragen stellt und alle Probleme einer Stadt irgendwie zusammenrührt.

Warum gibt es in Malmö keine schwedische Solidarität mit den Juden, wenn der Antisemitismus besonders von zugewanderten Muslimen kommen soll? Dann müssten die einheimischen Standardlutheraner doch solidarisch sein mit der angegriffenen Minderheit. Ein eklatanter Widerspruch im Beitrag der schwedischen Autorin.

 

Gilt eigentlich der Satz: Unerledigte Probleme stehen unter Wiederholungszwang, auch für historische Ereignisse? Wenn er für Individuen gilt, muss er auch für Kollektive gelten.

Denn diese bestehen aus vielen Individuen, die aus Quantitätsgründen keineswegs zu einer völlig anderen Qualität werden, wie soziologische Maschinisten und psyche-vergessene Historiker unterstellen. Wo wir es mit Menschen zu tun haben, haben wir’s nicht mit chemischen Elementen zu tun, die bei steigender Quantität in scheinbar fremde Elemente„umkippen“.

„Aufstand der Massen“, „Psychologie der Massen“ und ähnliche Bücher suggerierten vor Jahrzehnten, unberechenbare, panische und hysterische Massenaufläufe würden beweisen, dass das Aufkommen der pöbelhaften Masse ein Rückschritt der Menschheit in die Barbarei sei. Doch man schlug die Masse und meinte – die Demokratie.

Natürlich kann eine Masse in Panik geraten, in der jeder gegen jeden ums Überleben kämpft. Tatsächlich? Sollte in der Menge jemand einen kühlen Kopf behalten, wird mit Sicherheit kein hysterisches Medienindividuum darüber berichten. Wer in äußerster Not „unmenschlich“ reagiert, reagiert äußerst menschlich, er tut nichts, was ihm im normalen Leben völlig fremd wäre.

Was nicht bedeuten muss, der Mensch zeige nur in Ausnahmesituationen sein wahres Gesicht, wenn die dünne zivilisatorische Hülle wegfalle und sich die nackte Steinzeitbestie zeige. In der Not zeigt sich erst der Mann, ist Heldenmythologie. Ein Mann zeigt sich im täglichen Leben von morgens bis abends.

Man könnte von einer Gegenideologie zur neutestamentlichen Psychologie reden: Wer nicht im Kleinsten treu ist, ist es auch nicht im Großen. Hier wird der „germanische“ Umkehrschluss gezogen: wer in größter Anspannung und Gefahr nicht heldenhaft über sich hinauswächst, ist ein degeneriertes Massentier.

„Massen-Narrative“ wurden von elitären Intellektuellen benutzt, um das Elend der Gegenwart dem Aufkommen ungebildeter, sittenloser, triebgesteuerter, gieriger und neidischer Pöbelhaufen und Massenbewegungen zuzuschreiben.

Thomas Malthus, der vor den Massen warnte, die nichts als Kinderzeugen im Sinn hätten und ihren massenhaften Nachwuchs nicht ernähren könnten. Nietzsches Vielzuviele. Burckhardt, der die athenische Demokratie als Terrorherrschaft der „Mörder und Verleumder“ beschrieb. Le Bon, auch Freud. Fast alle deutschen Gelehrten und platonischen Weisen.

Nehmen wir Karl Jaspers, der in seinem Büchlein „Die geistige Situation der Zeit“ von 1931 über die Masse schreibt: „Die Masse scheint herrschen zu müssen, aber es zeigt sich, dass sie es nicht vermag. Sie scheint ein Ungeheuer, aber sie verschwindet, wo ich sie fassen möchte.“ Wo wollte er sie denn fassen, der aristokratisch-kühle Psychiater und Philosoph? Hatte er Umgang mit „einfachen Leuten“? Kannte er sich aus im „Milieu“?

Auch Elias Canetti schrieb sein bekanntestes Buch über „Masse und Macht“. Die „offene Macht“ sei voller Zerstörungssucht, in der Moderne meist frei von Religiösem. Deshalb seien Institutionen wie die Kirche nötig, welche die Massen „abfingen“. „Lieber eine sichere Kirche von Gläubigen als die unsichere ganze Welt“.

Lieber keine Emanzipation der Völker, die sich unberechenbar der Kontrolle der Bourgeoisie entziehen. Die Priester als Büttel an der Seite der Obrigkeit: gegen Demokraten helfen nur Pfaffen und Soldaten. Als rebellische Massen die Straßen und Plätze besetzten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, wurde es den Bewohnern des Elfenbeinturms angst und bange. Sie kannten Heines Gedicht von den Wanderratten.

Was ist der Lieblingssatz aller Festredner? „Wir leben in einer Zeit des Umbruchs“. Eine gewaltige Einsicht, dass Zeiten sich ändern. Immerhin ändern sie sich schon seit Aufkommen der Hochkulturen, die sich von der bäuerlich ewigen Wiederkehr des Gleichen gelöst hatten.

Seitdem gab‘s nur Umbrüche. Gäb‘s keine mehr, hielten wir uns für verloren, das Neue als messianisches Heil hätte keine Chance. Wie langweilig: ohne Abenteuer, ohne Kick, ohne Risiko. Die ganze Menschheit verkäme zur riesigen Couch-Kartoffel: träg, satt, selbstzufrieden. So aber sind wir umbrüchig, neu-gierig, selbst-unzufrieden, verhungernd und endlos gierig. Guter Tausch, oddr?

Wenn Zeiten sich ändern, braucht es Akteure des Umbruchs. Wenn’s nicht der Himmel, das Schicksal oder die materiellen Verhältnisse sind, kann es eigentlich nur der Mensch sein. Doch welcher?

Wenn der Umbruch ins Bessere geht, war es der höhere Mensch, der mit Genialität und Wagemut eine neue Epoche aus dem Zylinder zauberte. Geht’s abwärts, kann’s nur die Bestie von unten gewesen sein, die nichts von „überkomplexen“ Zusammenhängen versteht, immer nur von allem profitieren will, ohne sich selbst ins Zeug zu legen.

Als es Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg immer schlechter ging, konnten nur die aufkommenden Massen am nationalen Elend schuldig sein. Da auch die Kirchen nicht mehr waren, was sie einst waren, schieden sie als disziplinierende Macht aus. Blieb nur der charismatische Wanderrattendompteur: der Führer.

Da waren die Eliten froh, dass es einen Retter in der Not gab, der sie vom Andrang der Massen befreite und den Rabauken eine sinnvolle Beschäftigungstherapie verpasste. Zuerst Autobahnbauen, dann Kanonen, schließlich die praktische Anwendung derselben.

Die Schuld- und Verdienstzuweisung an die verschiedenen Klassen hatten alle klassenübergreifend von ihren Kanzelrednern gelernt: alles Gute kommt von oben, Gott oder den besseren Kreisen. Alle Übel wurden von Wanderratten eingeschleppt.

Heute benutzt niemand mehr den Begriff der Massen. Was ist an seine Stelle getreten? Das System.

Die Bevölkerung  Nachfolgeorganisation der Massen  braucht das System, um jemanden anzuklagen, ohne ihn bei Namen zu nennen. In unteren Etagen ist man höflicher und dezenter, als Diedaoben wahrhaben wollen. Sind die Finanzen ins Kriseln geraten, kommt kein Prolet auf die Idee, Ackermann & Freunde anzugreifen. In der harten 68er-Schule hat man gelernt, dass Persönlichkeiten Charaktermasken, austauschbar und irrelevant sind.

Als das System von einem Naseweis gefragt wurde: Wie heißt du, woher kommst du? antwortete dasselbe. Ich bin, was ich bin, lass dir an meiner Gnade genügen. Mach dir kein Bildnis noch Gleichnis von mir, sonst hätte ich dich im Verdacht, dass du mich beherrschen willst.

Dieser kleine Musterdialog ist schuld daran, dass heute niemand weiß, was ein System ist, niemand, wie man es verjagen und ein anderes an seine Stelle setzen kann. Göttliche Dinge sind nicht definier- noch ersetzbar.

Die Bevölkerung verhält sich zum System, wie frühere Eliten zur Masse. An allem ist das System schuld, ändern kann man nichts. Sollte doch jemand auf die Idee kommen, das System zu stürzen und ein anderes zu installieren, würde eher die Welt untergehen, als dass ein neues und sinnvolles System entstünde. Emotional wäre das, als ob man Gott zugunsten des Diabolo eintauschte.

Das System kann man beschreiben, wie Jaspers die Masse: „Das System scheint herrschen zu müssen, aber es zeigt sich, dass es das nicht vermag. Es scheint ein Ungeheuer, aber es verschwindet, wo ich es fassen möchte.“

Das System ist zur „Masse“ der Massendemokratie geworden. Allmächtig bestimmt es die Stimmung. Lange scheint es vernünftig, in Notzeiten aber zeigt es sich emotional („Wirtschaft ist zur Hälfte Psychologie“), irrational, hysterisch und unberechenbar. Siehe die Börsen und Aktienanleger.

Während früher die Oberen die Unteren ungeschönt als Sündenböcke nutzten, ist es heuer nicht einfach umgekehrt. Die Unteren attackieren keine Persönlichkeiten der oberen Ränge. Sie sind soziologisch-marxistisch gewitzt und wissen: es sind nicht die Charaktermasken, es ist das System, das uns prägt.

Das System muss immer ganzheitlich sein. Man kann es nur in toto abservieren oder in toto akzeptieren. Toto kommt von total, woher totalitär: ein System ist nie totalitarismusfrei. Das alte dualistische Lied vom Entweder-Oder, von Freund und Feind.

In panischen Massen verwandelt sich der liebreizende Nachbar in ein giftiges Partikel, ein hysterisches Molekül, das nicht mehr ansprechbar und nur noch mit Führer- oder Büttelmethoden zähmbar ist. So im System. Hier gibt es keine scharfprofilierten Einzelnen, hier gibt es nur anonyme Massenatome, die sklavisch nach Naturgesetzen agieren, aber nicht nach Gut und Böse Verantwortung übernehmen.

Wie wir uns heute vom System bedroht fühlen, fühlte Ortega y Gasset sich von Massen bedroht, die „hemmungslos, gewalttätig, unlenkbar und zweideutig wie jedes Schicksal“ seien. Schicksal wird geschickt, dagegen hilft keine Volksversammlung; System wird von der Evolution geliefert, dagegen hilft kein Parlament.

Masse und System entmenschen den Menschen. Solange das System das Kommando führt, hat es keinen Sinn zu sagen, es habe Bewusstsein, es fühle mit, es habe Gefühle, es lerne hinzu. Mechanische Gebilde sind lernunfähig, ihnen fehlt das Stammhirn.

Die Geschichte ist eine Abfolge von Systemen, Institutionen, Massen – und gottgleichen Führern als einzigen Lebewesen an der Spitze des Systems, die es lenken und steuern können.

Dem Satz: „Alles steht unter Wiederholungszwang, was nicht aufgearbeitet ist“, können wir nur Geltung verschaffen, wenn wir uns von Massen, Systemen und sonstigen atomaren Automatismen verabschieden.

Wollen wir das Grauen des dritten Reiches vermeiden, müssen wir, wie in einer persönlichen Therapie, unsere Wiederholungen als Gefahrenmomente sorgfältig zur Kenntnis nehmen, um sie durch Bewusstseinsarbeit unschädlich zu machen. Je mehr sich wiederholt, je mehr schliddern wir in Richtung Katastrophe.

Voraussetzung dieser Wahrnehmungsarbeit wäre, dass wir wüssten, welche Elemente das Naziregime vorbereitet hätten. Darüber gibt es nicht den geringsten Konsens. Im Gegenteil, für viele ist das Regime pünktlich im Jahre 1933 als Inkarnation des Bösen vom Himmel gefallen.

Die Methode, das Bestehende als Endprodukt vergangener Elemente zu betrachten, wird von Historikern als „Determinismus“ abgelehnt  was sie als psychologische Analphabeten entlarvt. Der Patient auf der Couch erkennt seine Mechanismen, um sich von ihnen zu lösen.

Mechanismen oder biografische Erziehungsmerkmale prägen einen jungen Menschen, determinieren ihn aber nicht vollständig. Je freiheitlicher und liebender das pädagogische Umfeld war, je mehr hat der Heranwachsende die Möglichkeit, seinen Werdegang erinnernd zu überdenken, das Übernommene zu bestätigen oder zu korrektiven Einsichten zu kommen.

Diese Chance besitzt jede Kultur, zumindest auf dem Papier. In abgeschotteten Despotien am wenigsten, in meinungsfreien Demokratien am meisten. Kausale Ursachen zu erforschen, um die Gegenwart als Summa des Gewesenen zu entschlüsseln, bedeutet keine Unterwerfung unter Determinismen.

Je mehr wir von uns wissen, je freier sind wir, unsere Herkunft zu bejahen oder uns kritisch abzuwenden. Der Mensch ist weder Automat noch Gott, er ist mitten inne. Im Verlauf seines Lebens kann er seinen Werdegang immer deutlicher erkennen, um in Distanz Abschied von ihr zu nehmen oder zu seinen Prägungen Ja zu sagen.

Wir sehen, dass nicht Neurologen die ersten Deterministen der Nachkriegszeit waren, sondern verwirrte Historiker, die unter dem marxistischen Diktat standen, das Sein bestimme das Bewusstsein. Die umgekehrte Position war auch keine Alternative und  gemäß dem Engels-Satz: Idealismus sei Religion  längst verfemt.

Wer wollte als seriöser Historiker noch von seinem religiösen Kinderglauben abhängig sein? Genau das wurden sie in tumber Reaktionsbildung und entwickelten sich zu marxistischen Calvinisten. Als sie die Falle spürten, wollten sie retten, was zu retten war und verwarfen alle kausalen historischen Vorgänge.

Aus Amerika kam die wiedergeborene Legende, der Mensch sei, was er aus sich mache, unabhängig von allen Faktoren der Vergangenheit. Gedenket nicht des Vergangenen, hatte Jesaja gesagt, sondern schaut nach vorne. Jesaja war der erste Amerikaner.

Welche Faktoren der Nazigenese wiederholen sich heute?

Die Verengung des Blickwinkels aufs Nationale und Innenpolitische, das Machtgetue (Europa spricht deutsch), das absolute Desinteresse an geistiger Auseinandersetzung mit unseren Nachbarn. Wer kennt die französische Aufklärung, Bertrand Russell, die italienischen Humanisten, Tolstoi und die ganze vielgestaltete überreiche Geisteslandschaft des alten Kontinents?

Die Hinwendung zum Solipsistischen und Irrationalen, die Verhöhnung der Aufklärung (Martin Walser) die Rückkehr ins Provinzielle als Hort des Unversehrten (I bin der Andi und hier bin i dahoam). In Passau sollen schon Tschüss und Hallo als fremdländisches Sprachgut an Schulen verboten werden. Die nostalgische Sehnsucht nach dem Heilen der Heimat bei Thea Dorn und Richard Wagner.

Die Auszeichnung des Außerordentlichen, Genialen, die Verhöhnung einer allgemeinen Wahrheit und generellen Moral, (der Hass auf den Gutmenschen), die Absage an die Verständigung durch rationalen Dialog und die allgemeine Lernfähigkeit des Menschen, der Pessimismus als Erbe der Apokalypse, das Wiederaufkommen des Antisemitismus, der nie verschwunden war.  

Zum Glück gibt es Faktoren, die in die andere Richtung führen. Deutschland ist tief verflochten mit Europa, Die Verbündeten beobachten uns mit Argusaugen und halten uns den Spiegel vor. Mercy, Freunde, das haben wir nötig.

Welche Gewichte am Ende die Oberhand gewinnen werden: davon wird abhängen, ob Deutschland seine Vergangenheit wirklich überwunden hat oder seine Geschichte in unerfreulicher Varianz wiederholen muss.