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Dienstag, 06. November 2012 – Ohn all Verdienst und Würdigkeit

Hello, Freunde des Fremdschämens,

in Freiburg gibt’s viele gebildete Menschen, die keine Fernseher haben, welche sie als Glotze zu beleidigen pflegen. Schon Aristoteles nannte diese Tele-Asozialen nicht Banausen, sondern in perfektem Deutsch: Idioten, auf Altgriechisch: Privatleute.

Wie kann man sich nur so un-demütig vom Volk abkapseln und abends hochwertige schwedische Krimis lesen, in denen duster und blutig das nordische Grauen regiert? An Tagen, an denen keine einzige Minute die Sonne scheint, irrt die schneeblinde Kamera durch elchfreie Wälder, wo an jeder wind- und wettergegerbten Birke – es können auch naturwüchsige Fichten und Kiefern sein – eine Leiche verzerrten Angesichts herumbaumelt.

Diese fernsehfreien Freiburger („Free-Castler“) sind hauptsächlich daran schuld, dass die talmiartige Touristenstadt geistig mausetot ist. Woran man das erkennt? Schau dir die Litfasssäulen an, da kommt dir das blanke Grauen: nur noch Veranstaltungen der katholischen Akademie mit Annette Schavan, Konzerte, indische Gurus und so genannte Kulturevents.

Hiesige Redakteure, die vom gemütlichen Verleger der renommierten „Badischen Zeitung“ nicht entlassen werden wollen, sprechen verharmlosend von Gemütlichkeitsfalle. (Mit Frau Schavan gemütlich werden? Da kann kein nordisches Grauen mithalten.)

Das Fernsehen ist der Spiegel der Welt, das haben wissenschaftliche Untersuchungen einwandfrei ergeben. Wer nicht in den Spiegel der Welt guckt, schaut nur in den Spiegel, der ihm sein eigenes Konterfei bietet und das ist Eitelkeit der Hochmütigen, die bei Dante in die vorletzte Hölle verbannt werden, wo sie

zur Strafe den ganzen Tag ZDF gucken müssen.

Die Öffentlich-Rechtlichen haben längst alle Talente den Privaten abgeluchst, die nun privates TV-Programm anbieten, aber auf höchstem Bildungsniveau. Womit wir elegant bei Markus Lanz und dem Fremdschämen angekommen wären.

Fremdschämen ist, wenn ich mich für einen anderen schäme. Früher nannte man das Mitleid, heute ist Mitleiden out. Selbst ein Obdachloser forderte neulich mitten in der Freiburger Fußgängerzone unsere letzten Groschen, auf unser zusätzlich angebotenes üppiges Mitleid konnte er dankend verzichten.

Für unser gebildetes Publikum: Markus Lanz ist Südtiroler, geistiger Nachfahre des Luis Trenker, kennt sich in der Arktis aus wie in seiner Westentasche, hat mit seinem Charme, der nur noch von seinem Landsmann Messner übertroffen wird, den Lerchenberg erobert und den altfränkischen Thomas Gottschalk den Privaten in die Hände getrieben. Ein echter Teufelskreis.

Das ZDF wird von hämischen Kritikern verkannt, die – vermutlich eingefleischte Singles – nicht erkennen wollen, dass der Sender im Glockenbereich des Mainzer Doms vor allem die deutsche Familie retten und am Samstagabend die letzten schäbigen Reste derselben vor dem Bildschirm versammeln will.

(Das ZDF ist auch jener für Spitzenpolitiker allseits offene Sender, wo Söder, Stoiber und Koch aus- und eingehen, ihre CSU/CDU-Beiträge nach Belieben von einsdreißig auf zweivierzig erhöhen und Chefredakteure entlassen, die es wagen, Bundeskanzler Schröder unehrerbietig als Herr Schröder anzusprechen. Unter uns, Schröder ist in der Tat kein Herr.)

Der amerikanischen Schauspielerin Halle Berry stellte Lanz – flott von seiner Karteikarte abgelesen – die spannende Frage: Ist es wahr, dass sie den Geruch von frischem jungem Männerfleisch lieber gebraten oder gesotten lieben?

Tom Hanks wurde um seine amerikanische Meinung über die Sendung gebeten und der war so frei, herauszuplaudern, dass Entertainer wie Lanz in den USA mitten in der Sendung verhaftet und abgeführt worden wären. Doch das war ungehörig. Es ziemt sich nicht für einen Amerikaner, das Qualitätsfernsehen ihres zweitengsten Verbündeten dem Gespött der Welt auszusetzen.

(Stefan Niggemeier im SPIEGEL: Momente der Fremdscham)

Was lernen wir aus der Geschicht? Die Deutschen betrachten die Amerikaner noch immer als ihr Über-Ich. Man identifiziert sich mit ihnen und glaubt, mit ihnen mitleiden zu müssen, wenn sie vermutlich Qualen leiden bei einer deutschen Unterhaltungsshow, die sie aus PR-Gründen mit ihrer Anwesenheit beehren müssen. Wäre ein italienischer oder griechischer Schauspieler dagewesen, niemand hätte sich in ihn hinein empfunden, um sich für eine Sendung fremdzuschämen.

Mit anderen Worten, die Deutschen betrachten die Welt noch immer mit amerikanischen Über-Ich-Augen. Ein eigenes Ich haben sie noch nicht entwickelt. Sie trauen sich nicht, unabhängig von George Clooney und Brad Pitt, ihre provinzielle Wahrnehmung zu Protokoll zu geben. In der Länderwertung stehen die USA bei den Deutschen noch immer an erster Stelle, dann folgt das Vaterland, der Rest speist beim Gouverneur.

Das wäre ja alles nicht weiter schlimm, selbst von Amis kann man lernen. Doch was, wenn Amerika untergeht, wie Jakob Augstein behauptet, und wir unseres ausgelagerten Über-Ichs verlustig gehen? Dann stünden wir einsam und verlassen da und hätten kein aufstiegsorientiertes Gewissen mehr. Solange es das ZDF gibt, werden wir gottlob auf unsere amerikanische Ich-Identität nicht verzichten müssen.

Ungeklärt bleibt die spannende Frage, ob uns die Amerikaner umgekehrt als alteuropäisches Unter-Ich und verrottetes, triebgesteuertes ES betrachten. Was ziemlich unwahrscheinlich ist, denn das würde das Triebleben Luthers – abends Bier bei Weib und Gesang – mit dem nicht vorhandenen Triebleben Calvins als kompatibel voraussetzen.

In Wirklichkeit haben Amerikaner keine Triebe, sondern sind von reiner Sehnsucht beseelt, mit ihrem Erlöser im Himmel Baseball zu spielen. Neoliberale Wirtschaftler zögern nicht, diese Sehnsucht als Kern des homo rationalis oeconomicus zu bezeichnen. Wenn alle Individuen rational ihren Vorteil verfolgen, wie könnte die Gesamtheit der Vorteils-Berechner irrational sein?

(Jakob Augstein im SPIEGEL: Untergang des amerikanischen Imperiums)

Doch langsam müssen wir uns Sorgen um unsere großen Freunde machen. Irgendwie scheinen sie allmählich das Rechnen zu verlernen. Nehmen wir die amerikanische Mittelschicht. Das ist jene Schicht, die ständig vom Aufstieg in die obere Schicht träumt, aber im ständigen Abstieg nach unten rutscht. Da hat’s die Unterschicht besser, sie braucht keine Angst mehr zu haben. Tiefer kann sie nicht mehr rutschen.

Früher fühlten sich 25% aller Amerikaner als Unterschichtler, heute ist es schon ein Drittel der Gesellschaft. Bei jungen Leuten sind es gar fast 40%. Das Einkommen ist binnen drei Jahren, zwischen 2007 und 2010 um 40% gefallen. Das ist nach Adam Riese fast schon die Halbierung des ehemaligen Salärs.

Die Lücke nach oben wird demgemäß immer größer. Die Superreichen setzen sich immer mehr nach oben ab. Noch wenige Jahre und sie werden in freundlicher Übernahme den Himmel kassieren, da wird Petrus Augen machen. Das müssen Natur- oder Gottesgesetze sein, nach denen die Tycoons unaufhaltsam nach oben schweben. Dagegen ist kein irdisch Kraut gewachsen.

(Astrid Langer im SPIEGEL über die Mittelschicht der USA)

Apropos Gottesgesetze. Die ZEIT hat ein Gespräch geführt mit Pastor Ralf Reuter, der spirituelles Coaching für kapitalistische Ausbeuter, pardon für Führungskräfte anbietet. Der sanctus spiritus ist voll auf der Seite der Ausbeuter, pardon, der sinnsuchenden Manager.

Ja, bietet ihnen denn ihr Job keinen echten Sinn? Oder sind die Jungkarrieristen so verwöhnt, dass sie inzwischen noch eine zweite geistige Garnitur fürs Leben brauchen?

Der Pastor ist außerordentlich kritisch gegen den Kapitalismus. Nicht dass er etwas an ihm ändern möchte, er will ihm nur noch die vierte Dimension zufügen. Die alles belässt, wie es ist, aber diese ins Jenseitige öffnet. Erfolg und Wachstum sollen nicht alles sein, doch sie sollen sein. Erfolg ist auch nichts Schlechtes, selbst der Pastor ist – das gibt er freimütig zu – ein Erfolgsjunkie.

(ZEIT-Interview von Haiko Prengel mit Pastor Ralf Reuter)

Dann hätte der Seelenhirt bestimmt auch kein Bauchgrimmen, die systemrelevanten Banken mit spiritus zu versorgen. Diese sind am erfolgreichsten in der Welt und kein Politiker kann die Erfolgsgesegneten stoppen.

In den Betrieben sollen neue Werte eingeführt werden, wenigstens in Mindestration: Haltung, Charakter und Werteorientierung. Der Mensch lebt nicht von Mammon allein. Wenn einer mit 45 Jahren seinen Ausbeuterjob an den Nagel hängen will, um seine Untergebenen von sich zu befreien und zu sagen: Ich hab genug, das reicht – Nein, das geht nicht, denn morgen könnte er tot sein wie der reiche Kornbauer, der sich endlich ein gutes Leben machen wollte, doch plötzlich stand er wie ein Narr vor Gott, weil Gott ihn zum Narren gemacht hatte.

Gott kann es nicht leiden, dass Menschen es sich gut gehen lassen. ( Neues Testament > Lukas 12,16 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/12/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/12/“>Luk. 12,16 ff) Sie sollen lebenslang malochen, rund um die Uhr verfügbar sein und wenn sie nichts mehr bringen, per plötzlichem Herzschlag nach Drüben gehen, damit sie niemandem zur Last fallen. Das ist doch nicht zuviel verlangt.

Erfolg im Stress ja, aber kein Erfolg im Glücklichsein, bitteschön.

Auf keinen Fall dürfen ethisch wertvolle Menschen ins Bordell. Lieber sollen sie durch Kapitalismus Mensch und Natur ausbeuten. Das wird von der Bibel ausdrücklich verlangt.

Wenn die Betriebe keine moralischen Mindeststandards einhalten, arbeitet der Pastor nicht mit ihnen zusammen. Wie niedrig diese sein dürfen, bleibt das süße Geheimnis des Mindeststandard-Predigers, der, kaum hat er einen Betrieb betreten, sofort den Wohlgeruch Christi spürt oder nicht.

Riecht‘s gut im Betrieb, werden die Angestellten nicht ausgebeutet. Ausgebeutete hingegen riechen schlecht (oder die Klimaanlage funktioniert nicht, weil der Ausbeuter kein Geld dafür ausgeben will).

Da muss der Pastor etwas missverstanden haben oder er fälscht pastorenüblich die heiligen Texte. Bei Paulus haben die Gläubigen einen Zwie-Geruch. Das ist ein olfaktorisches Wunder. Die Gläubigen verbreiten Wohlgerüche nur für die Erwählten, für die Verdammten hingegen hinterlassen sie teuflisch-tödlichen Gestank:

„Denn wir sind für Gott ein Wohlgeruch (euodia, woher Odol) Christi unter denen, die gerettet werden, und unter denen, die verloren gehen: den einen ein Geruch aus Tod zum Tod, den andern ein Geruch aus Leben zum Leben.“ ( Neues Testament > 2. Korinther 2,15 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/2_korinther/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/2_korinther/2/“>2.Kor. 2,15 ff)

Für Petrus, der am Tor zum Himmel steht und nicht mehr gut sieht, aber noch sehr gut riechen kann, ist es einfach, per Schnüffelprobe den Daumen zu heben oder zu senken. Jetzt weiß jeder, was der spirituelle Hintergrund des ordinären Satzes bedeutet: Du stinkst mir, mach dich von hinnen.

Der leicht vergessliche – oder zu Erbauungszwecken schwindeln wollende – Erfolgspfarrer hat zudem vergessen, dass Christen der Welt ein stinkender Abfallhaufen sind. „Wie Kehricht der Welt sind wir geworden, ein Abschaum aller bis jetzt.“ ( Neues Testament > 1. Korinther 4,13 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/4/“>1.Kor. 4,13)

Auch hier ein besonders eindrucksvolles Beispiel, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Die einen stinken ihm, dass er sie aus seinem deo-dorierten Himmel verweist, die andern duften wie alle Wohlgerüche Arabiens zusammen. Richtig, in Deo-Dorant steckt derselbe Gott wie in soli Deo gloria.

Nun haben wir ganz beiläufig zwei Urrätsel der Menschheit mit einem Schlag gelöst. Warum ertragen so viele Menschen den Gestank der naturschändenden Industrie? Weil er ihren erwählten Sondernasen ein Wohlgeruch des Himmels ist. Die stinkende Industrie erfüllt getreulich den Auftrag: Machet euch die Erde untertan.

Zum andern wissen wir jetzt, warum Gottes Leistungsträger Bordelle meiden sollen. Verführerische Frauen, die verheißungsvoll nach Lust riechen, verströmen für Wiedergeborene pestilenzische Gerüche. Deshalb muss man Frauen, wenn sie ihre Tage haben, möglichst kasernieren und von empfindlichen Männernasen entfernt halten.

Das Beste vom Pfarrer am Schluss der Parfüm-Predigt: Jeder Mensch soll zwar Erfolg haben, dennoch soll es nicht nuraber auch – darum gehen, der Beste zu sein. Wohlwissend hat Gottes Schlauberger nicht vom Ersten gesprochen, sonst hätte jeder Manager gewusst: aha, die Ersten werden die Letzten sein, also muss ich Letzter werden, um Erster zu sein. Und in der Tat sind nicht selten die obersten Leistungsträger – besonders an Börsen und im Bankenfach – die Allerletzten.

Doch jetzt festhalten, den größten Trost, den der spirituelle Coach zu bieten hat, ist der: „Manager, du brauchst dir deine Anerkennung eigentlich nicht zu erarbeiten, du bekommst sie geschenkt. Du bist als Mensch grundsätzlich gewollt.“

Das hört nicht jeder Manager gern, dass er Anerkennung gratis erhält. Mitleid kriegt man geschenkt, lautet nämlich das Motto der Kühlen und Schneidigen, Neid muss man sich verdienen. Nein, auch den Neid kriegt er geschenkt, da müssen die Beneideten durch.

Und dies ist das große Geheimnis der lutherischen Rechtfertigungslehre: So halten wir nun dafür, dass Leistungsträger durch Glauben zum Erfolg kommen, ohne eigenes Dazutun, ohne Werke des Fleißes und der Anstrengung. Ohn eigen Verdienst und Würdigkeit, wie Luther in seinem Katechismus erläutert hat:

„Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Frau und Kind (in dieser Reihenfolge), Acker, Vieh und alle Güter, mit allem, was not tut für Leib und Leben (not tut, nicht Spaß macht, schon gar keine Lust), mich reichlich und täglich versorgt (sollte man vielleicht mal für christliche Hartz4-Berechnungen nutzen), in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel bewahrt, und das alles aus lauter väterlicher Güt und Barmherzigkeit, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit. Für das alles ich ihm zu danken, zu loben, zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr.“

Ohn alle Würdigkeit! Jetzt fehlen nur noch Gauck und Merkel, die den ersten Satz des Grundgesetzes in grader Linie von Luther ableiten: „Die Würde des Menschen ist untastbar.“ Für Gott sind alle Dinge möglich, selbst die Würde des Menschen in den Boden zu stampfen.

Christen können die ganze Welt einreißen, sie haben nichts geleistet. Sie können sich abrackern und mühen: sie haben ihr Sach auf Nichts gestellt. Nichts bringen sie zustande, in allen Dingen stehen sie in der Schuld ihres gütigen Vaters.

Das nennt man eine positiv verstärkende Impulspädagogik, die alle Menschen ermuntert, ins Unbegrenzte zu leisten, in der Hoffnung, doch mal ein gutes Wort von Vatern zu hören, der nicht immer nur sich selbst auf die Schultern klopft und sich von seinen Marionetten bescheinigen lässt, was ER doch für ein Teufelskerl ist.

Das ist die trefflichste Erfolgsideologie, die man sich denken kann. Arbeitet, schuftet, müht euch ab, bis ihr ausgebrannt seid, doch glaubt ja nicht, dass irgendetwas euer Verdienst ist. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen.

Warum ist der Protestantismus zur Quelle des Kapitalismus geworden? Weil die Menschheit zur Strafe unendlich arbeiten muss, die Anerkennung für ihre Schufterei jedoch in Zukunft – nie erhalten wird.

Nichts, was die Erlösungsreligion je verheißen und versprochen hat, hat sie eingehalten und erfüllt.

Die ewige Seligkeit, die sie verkündet, ähnelt jener Bratwurst, die identisch ist mit der Zukunft: immer, wenn die Menschen glauben, sie am Bändel zu haben, ist sie im Nirwana verschwunden. An diese Fata Morgana müssen sie glauben.