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Tagesmail

Dienstag, 05. Juni 2012 – Bälger und Blagen

Hello, Freunde des SPIEGEL,

das Magazin hat ein Geheimnis gebrochen, das es nicht gibt. Das hat im hinterwäldlerischen Deutschland für Aufsehen gesorgt. Seit 50 bis 60 Jahren versorgt die BRD das Heilige Land mit Waffen.

Inzwischen mit U-Booten, die mit atomaren Raketen bestückt werden können. Weder dementieren, noch bestätigen: das ist Israels Strategie, wenn das Land befragt wird, ob es Atombomben besitze. (Übrigens war es Frankreich, damals noch sehr israelfreundlich, das die junge Republik mit atomarem Knowhow versorgte.)

Natürlich wussten die Deutschen Bescheid über die atomare Bewaffnungsmöglichkeit, denn die U-Boote sollten besonders große Abschussöffnungen besitzen. Offiziell aber wussten sie nichts, denn offiziell fragten sie nicht, wie gestern Karsten Voigt, ein ehemaliger Vertrauter Schröders, im ZDF bekannte. Sonst wäre bei offiziellen Anfragen die jeweilige Regierung in die Bredouille gekommen.

Nichts wissen, nichts hören, nichts sehen: das ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Täter- und Opferland. Der SPIEGEL-Artikel wurde von einem israelischen Insider geschrieben. Vielleicht deshalb die plötzliche Debatte um ein altes Phantom.

Die Fronten sind unüberbrückbar. Auf der einen Seite harsche Kritik einiger linker Stimmen wie die von Jakob Augstein im SPIEGEL und von Daniel Bax in der TAZ. Beide rehabilitieren

in diesem Zusammenhang auch Günter Grass, der – wenn auch mit verunglückten Formulierungen – auf die steigende Gefahr auch durch Israel hingewiesen habe.

Auf der anderen Seite die Springerpresse und die ZEIT mit Josef Joffe. Man muss höheren Orts die Lage für gefährlich gehalten haben. Sofort erhielt Kai Diekmann ein Interview bei Netanjahu.

70% aller Deutschen seien der Meinung, so die erste Frage von BILD, dass Israel seine Interessen ohne Rücksicht auf andere Völker verfolge. Nur 21% glaubten, dass das Land die Menschenrechte achte. „Was denken Sie, wenn sie solche Zahlen hören?“ Tja, was wohl. Es gebe offenbar eine gewaltige Fehlwahrnehmung Israels in Deutschland und in Westeuropa. „Wir sind das einzige Leuchtfeuer der Freiheit und der Menschenrechte.“ Na klar, vor allem der Menschenrechte.

Es lebten in dieser Region eine Million arabischer Israelis, die sich ihrer Bürgerrechte erfreuten. Unverfrorener kann man deutsche Charaktermasken nicht vorführen. Natürlich weiß Diekmann nicht, dass israelische Araber nur zweitklassige Bürgerrechte besitzen. Dass Ultras die innenpolitische Situation ungebremst in Richtung Ajatollahstaat verschieben.

Israel werde tagaus tagein verleumdet, das sickere langsam ins Bewusstsein der Deutschen, so der Ministerpräsident. Doch früher hätte es wesentlich schlechtere Umfragen gegeben. Da glaubte man, dass Juden Brunnen vergiften und das Blut kleiner Kinder trinken würden.

Eigenartig, dass der Begriff Antisemitismus nicht fällt. Offenbar hielten Netanjahus Berater es nicht für sinnvoll, die abgenutzte Waffe einzusetzen. Fast klingt es verständnisvoll, wie Netanjahu die Deutschen in Schutz nimmt, als seien auch sie nur Opfer gewaltiger Vorurteile anderer.

Natürlich wird der religiöse Hass zwischen beiden Konfessionen nicht erwähnt, stattdessen die immergleichen Schauermärchen aus dem Mittelalter. Schon gar nicht wird erwähnt, dass affektive Verkrustungen selten einseitig sein können.

Über Jahrtausende schenken sie sich nichts, die beiden Erlösungsreligionen. Die einen mit brutaler Gewalt und dem passenden Gott im Hintergrund, die anderen mit der Methode: durch Leiden zum Herrschen, mit dem passenden Gott im Hintergrund. Jede wünscht die andere liebevoll in die unterste Hölle.

Inzwischen ist der Islam dazugekommen, der den Wahnsinn zur Ménage à trois erweitert. Dass die israelische Demokratie in hohem Maße gefährdet ist und viele „Selbsthasser“ im Inland schon von Untergang sprechen, wissen selbstredend weder Frager noch der Befragte. Hier sprechen Propagandisten in höherem Verblendungston. Ein einsamer Höhepunkt deutscher Pressekultur.

Nebenbei auch ein Bankrott für BILD, denn trotz jahrzehntelanger blind-idolisierender – oder philosemitischer – Berichtersstattung über Eretz Israel scheinen die BILD-Leser ganz anderer Meinung zu sein, als Axel Springer es sich gewünscht hätte.

Sollte es zu einem Krieg kommen, werden auch wir die Quittung erhalten für die Losung: Frieden kann nur mit Waffen erhalten werden. Mit immer mehr Waffen. Mit Atomwaffen. Mit Präventivschlag. Mit heiligem Krieg. Hatten wir nicht viel zu lange keinen schnuckligen Krieg mehr, um die feist gewordenen Friedenszeiten aufzumischen?

Liest man Uri Avnery, auch ein israelischer Vaterlandsverräter und „Hofjude“ ausländischer Verleumder, erfährt man, dass von Beginn der Besiedlung an die dort lebenden Araber entweder nicht zur Kenntnis genommen wurden – Golda Meir: ich kenne keine Palästinenser – oder als minderwertige Arabushim verleumdet wurden.

Wie in Amerika die Indianer negiert oder ausgelöscht wurden, so die Muslime in der biblischen Heimat, die 2000 Jahre in jungfräulichem Zustand von Jahwe erhalten wurde, um sie unberührt den neu-uralten Besitzern zu übergeben. Würde man nach diesem Prinzip die Welt verteilen, wie sie vor 2000 Jahren bestand, wäre jeder Weltkrieg ein Klacks dagegen.

Dass man Frieden nur schaffen kann, wenn man Frieden schaffen und eine friedensstiftende Atmosphäre verbreiten will, diesen Aspekt gibt’s in der deutschen Berichterstattung nicht. Lieber deklariert man sich als militärischer Stratege und spricht von der Zweitschlagkapazität. Wenn das Land Israel durch eine einzige iranische Atombombe verwüstet werden würde, könnten unsichtbare U-Boote noch immer den Angreifer verwüsten.

In welches Land kehren die tapferen U-Boot-Rächer dann zurück? Broder meinte neulich, Deutschland sei verpflichtet, Schleswig-Holstein zu räumen, um den Juden eine neue Heimat zu bieten. Warum nicht? Es gibt nur einen kleinen Nachteil. „Schleswig-Holstein“ kommt in der Bibel relativ selten vor. Zur Not könnte man aber die Bibel umschreiben. Willige Theologen werden sich finden lassen.

Natürlich ist auch Josef Joffe ein hervorragender Militärstratege, völlig unschuldig an der Tatsache, dass „die furchtbare Logik der Abschreckung“ die Welt beherrscht. Es können nur Gojim gewesen sein, die das deeskalierende Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn, erfunden haben.

Jakob Augstein gebührt das Verdienst, seit seinem Vater Rudolf der erste zu sein, der wieder Tacheles spricht und die verlogene und devote Israel-Politik Berlins zur Sprache bringt: „Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen.“ Dafür wird er Prügel bekommen.

Auch Daniel Bax lobt den SPIEGEL für dessen Berichterstattung und den Versuch, die „Debatte wieder in rationale Bahnen zu lenken“. Nicht nur, dass Deutschland sein eigenes Recht bräche und Waffen in Krisenreviere exportiere, als drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt nehme es offenbar keine Rücksicht darauf, „welche Folgen diese Politik hat“. Grass habe Recht mit seiner Kritik an Israel, das den Iran offen mit einem Angriff bedrohe.

 

Die pädagogische Belastung junger Eltern scheint überhand zu nehmen. Eltern wollen nur noch überleben, schreibt Christina Hucklenbroich in der FAZ. In Elternmagazinen darf neuerdings mehr gejammert und gestöhnt werden über den Raub der Lebensfreude durch Bälger und Blagen.

Kaum wird man mit einem Kind fertig, überlegen sich die Paare, ob sie sich ein zweites Kind antun wollen. „Will man das, was man sich hart erarbeitet hat, wieder zugunsten eines Säuglings aufgeben oder nicht?“

Immer mehr würden die Eltern merken, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht funktioniere. Es ist Jammern über einen kaum noch zu bewältigenden Alltag, Überforderung, Erschöpfung und Stress. „Daneben die wütende Trauer um das entspannte Leben als Dinks („Double income no kids-Pärchen), das man für immer verloren hat.

Kinder werden nur noch als Naturkatastrophen betrachtet, die ins Leben einbrechen und den Alltag unerträglich machen. Beklagt werde vor allem der Wegfall aller Rückzugsmöglichkeiten nach der Geburt eines Kindes. Väter und Mütter wollen im Chaos nur noch ihre Ruhe finden und sich entlastet fühlen.

Wer solche Berichte liest und junge Paare erlebt, die mit ihren Kindern kaum noch zurechtkommen, dem bleibt keine Wahl als zu sagen: Der Vereinbarungsfeminismus ist dem Kapitalismus in die Hände gefallen und auf der ganzen Linie gescheitert.

Die Debatte um das Betreuungsgeld (schon dieses Ekelwort: Betreuung. Seit wann betreuen Eltern ihre Kinder?) lenkt von allen wirklichen Problemen ab. Sind Kinder in Kitas besser aufgehoben oder bei Mama?

Die Papas denken gar nicht dran, zu Hause zu bleiben. Sie verdienen besser, also dürfen Frauen nicht besser verdienen, damit sie erst gar auf die Idee kommen, den Mann zum Kinderdienst zu verdammen.

Im Presseclub wurde der Kern des Problems mal kurz angeschnitten, dann begnügte man sich schnell mit den erwünschten Begriffshülsen. Hundt sagte unmissverständlich, dass die deutsche Industrie mehr malochende Frauen brauche. Alles andere hat sich danach zu fügen.

Wahlfreiheit gibt es keine. Frauen und Kinder werden nicht gefragt, was sie selber wollen. Die Wissenschaft erweist sich als folgsamer Knüppel der Regierung und stellt fest – wie von oben erwünscht –, dass die Kinder in Kitas besser gefördert werden als an Mamas Küchenschürze. Wissenschaft hat schon immer festgestellt, dass Marmelade Fett enthält.

Besser gefördert? Liest man die empirischen Zahlen genauer, erweist es sich schnell als Bluff: Kinder besserer Schichten werden besser gefördert, Kinder schlechterer schlechter. Alles bleibt, wie es war. Eine wirkliche Egalisierung der Bildung findet nicht statt. Spätestens nach der Grundschule – in Freiburg schon mit Beginn vieler privater Grundschulen – werden alle Kinder ihren familiären Schichten zurückgegeben.

Es lebe die naturwüchsige Hierarchie der Gescheiten oben und der Gescheiterten unten. Das ist Hayeks Dogma, von Natur aus ist der Mensch ungleich, alles andere ist Illusion. Wer Ungleiche mit Gewalt gleich machen wolle, mache alle nur unglücklich und vergewaltige die Naturanlagen.

Nachdem der Neoliberalismus seit zwei Dezennien die Wirtschaft in seinen Klauen hat, expandiert er und sorgt für das nötige psychologische und pädagogische Umfeld. Wenn die Kita bereits sondiert und die Spreu vom Weizen trennt, kann sich die Industrie viel unnötige Testerei und ärgerliche Reibungsphasen bei Beginn des Arbeitslebens ersparen.

Was heißt „fördern“? Die sozialen Fähigkeiten der Kinder fördern? Ihr Gemeinschaftsgefühl und ihre Solidarität untereinander verstärken? Diese Begriffe existieren in der Debatte gar nicht. Das Humankapital muss effizient und kostensparend der Maloche zugeführt werden. Wenn schon der Lebensmittelpunkt der Eltern in der Wirtschaft liegt, soll der Heranwachsende nicht zu kurz kommen.

Selbst wenn sie zu Hause sind, sind die meisten Eltern mental abwesend. Es gibt nicht mal die Verträglichkeit von Freizeit und Freiheit. Schon früh werden den Kindern bekannte Tugenden der Arbeitswelt eingebleut: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und klagloses Funktionieren.

Die Frauen sind froh, überhaupt einen freien Platz in irgendeinem pastoralen Erziehungsschuppen gefunden zu haben. Das Kind will ihr nicht noch mehr Ärger bereiten, seine arme geplagte Mami entlasten – und fügt sich.

Ja gewiss, Kinder brauchen viele Menschen. Aber Kita-Menschen, die ihnen dumpfe Routine einimpfen? Brauchen sie nicht viel mehr die Freiheit, ihre Freunde selbst rauszusuchen, die Welt mit eigenen Augen zu erkunden, als immer nur die drei selben Spielsachen, die gleiche dümmliche Rutschbahn, die gleichen vergilbten Bilderbücher zu nutzen?

Im Dorf sehen die Kinder ihre Eltern fast den ganzen Tag nicht. Sie streunen autonom durchs Revier. Doch sie wissen immer, wo ihre Eltern zu finden sind, wenn sie sie benötigen sollten. Ja, die Moderne ist kein Dorf. Doch warum ist die moderne Stadt ein kinderfeindliches Monstrum?

Eine menschen- und kinderfreundliche Stadt bestünde auch nur aus verschiedenen „Dörfern“, wo Kinder sich selbständig orientieren könnten. So stellte Rüstow sich eine humane Stadt vor. Welche kinderfeindlichen Stadtplaner werden mit der Planung kinderfeindlicher und industriefreundlicher Städte beauftragt?

Kinder brauchen Menschen. Ihre Mütter und Väter auch. Niemand stellt die Frage, warum junge Paare und alleinerziehende Mütter isoliert sind. Warum hausen sie nebeneinander in atomisierten Wohnungszellen? Warum schließen junge Paare sofort ratschratsch die Türe hinter sich zu?

Warum haben sie keine Freunde, mit denen sie sich über Erziehung auseinandersetzen können? Warum reagieren sie auf Kritik so mimosenhaft, als ob man ihnen die Menschenwürde abspräche? Man hat heut keine kritischen Freunde mehr. Ein paar Straßenbekanntschaften, ein paar Kumpels, damit der Kindergeburtstag nicht gar zu traurig ist. Das war‘s.

Nie sind Eltern selber schuld, wenn ihre Kinder weinen und quengeln. Höchstens im Sinne hartgesichtiger Kinderpsychiater, die ihnen mit dem psychischen Rohrstock einhämmern, sie hätten den kleinen Wilden nicht ordentlich die Grenzen gezeigt.

Jene Grenzen, die den Eltern vom Betrieb vorgeschrieben werden und die sie ungefiltert an die Kinder weitergeben. Der Sozialismus soll besiegt sein, doch die Gesellschaft ist inzwischen wie ein sozialistischer Ameisenbau durchorganisiert.

Hört ihr die Kinder weinen? So hieß vor Jahren das Buch über barbarische Kinderbehandlung mittelalterlicher Gesellschaften.

Hört ihr die Kinder heute weinen? Cool bleiben! Die kleinen Schlingel wollen euch nur erpressen und ihren diabolischen Willen durchsetzen. Lasst sie heulen, sie werden von allein aufhören, wenn sie gegen eine Mauer anrennen.

Wir kehren erfolgreich zurück in Epochen hartherziger Bedrohungspädagogik. Wenn du nichts lernst, wenn du nicht regelmäßig den chinesischen Sprachkurs besuchst, Ballett tanzt, Klavier übst, wirst du es nicht weit bringen. Schau mal die verlotterten Kinder jener Eltern, die es zu nichts gebracht haben. Willst du auch so werden?

Früher bedrohte man die Sündenkrüppel mit pittoresquer Ausmalung höllischer Qualen, um sie Klerus und Obrigkeiten gefügig zu machen. Heute bedroht man sie mit Altersarmut und Hartz4-Schicksalen.

Der Run um Erfolg, Gut und Geld hat alles andere in den Schatten gestellt. Es geht nur noch um Ertüchtigung und Zubereitung zur malochenden Musterfrau und zum abwesenden Mustervater.

Die Frauen sind voll hereingefallen auf den ausgelegten Speck in der Vereinbarungsfalle von allem und allem. Eine neue Herausforderung! Das schaffen wir doch mit links, um uns zu emanzipieren, indem wir die Männer nicht nur bis aufs I-Tüpfelchen imitieren, sondern sie auch noch mit Kind und Küche übertreffen.

Das war eine geniale PR-Kampagne: Frauen müssen in allen Dingen besser sein als die Männer, sie müssen 150% bringen, um als gleichberechtigt anerkannt zu werden. Nun bringen sie 150%, mit links, was soll‘s? Und wenn sie dabei Magenkrämpfe, versteckte Depressionen haben und wöchentlich einmal zum obligaten Seelenklempner müssen.

Sie kämpfen nicht für die Chance, sich als Mutter ein soziales Umfeld zu erobern, zusammen mit anderen Müttern und jungen Familien ein befriedigendes Gruppenleben zu entwickeln. In der Art eines städtischen Dorfes mitten in der Stadt. Damit sie mit ihren Kindern unter Menschen kommen, die sich solidarisch betätigen und sich gegenseitig entlasten. Damit sie selbst zu fremden Kindern eine sinnvolle Beziehung herstellen können.

Niemand bemerkt den vorgeschrieben, fast inzestuös zu nennenden und familiär fixierten Narzissmus heutiger Mütter, die sich nur um das eigene Kind kümmern dürfen. Damit sie eines Tages kein schlechtes Gewissen haben, wenn es in der Studienzeit wegen mangelnder Konzentration versagt.

Wie lange hat die Gesellschaft zugeschaut, wie Kinder von höchsten Autoritäten dieser heiligen Gesellschaft körperlich geschändet wurden. Über die ganz normale geistige Schändung der Unterordnung der Kinder unter einen ökonomischen Leviathan wird mit keinem Wort gesprochen.

Vor Jahren gab es ein Buch über Schwarze Pädagogik, in dem Katharina Rutschky dem religiös unterfütterten Brechen kindlichen Willens den Prozess machte. Damals wurde geprügelt, dass die Kinder grün und blau waren und schon gar nicht mehr heulen konnten, weil sie zuviel geheult hatten.

Heute braucht man solche Holzhackermethoden nicht mehr. Man hat wissenschaftliche Methoden, das Kind zu einem windschlüpfrigen Karrieristen zu konditionieren. Willst du eines Tages Mülltonnen entsorgen? Was, du willst ein neues Handy, einen neuen CD-Player, du willst beim Klassenausflug nach Schanghai nicht alleine zu Hause bleiben? Dann tu, was wir dir sagen. Dann sprechen wir uns wieder.

Alice Miller hat die Attacke auf die Schwarze Pädagogik mit tiefenpsychologischen Einsichten untermauert. Und der Freud‘schen Psychoanalyse selbst vorgeworfen, den Kindern die Schuld zu geben, damit die geplagten Eltern entlastet werden. Gott und die Götter müssen von vorneherein unschuldig sein, schuldig sind immer die Kleinen, Schwachen und Abhängigen.

Die neuen Eltern sind überlastet und ausgelaugt. Wer ist dran schuld? Nicht Herr Hundt, nicht die Industrie, nicht die Profitmacherwirtschaft, nicht die am Bändel geführte Familien-Politik der Regierungen.

Das Kind, das Kind. Das wiederentdeckte chaotische, grenzenlos anmaßende, tyrannische Wesen, das die Frauen in ihrer letzten Muttereitelkeit zur Welt bringen. Wer kann solche Lustbremsen und Lebensqualitätsverminderungsmonster ans Herz drücken?

Doch das ist noch nicht der letzte und innerste Grund der neuen Kinderfeindschaft. Eine Menschheit, die nichts unterlässt, um die Grundlagen ihrer eigenen Existenz zu untergraben, erträgt es nicht mehr, Wesen in die Welt zu setzen, die sie selbst verfertigten Untergangsszenarien überlassen müssen.

Es ist ein letztes unterdrücktes Zeichen von Scham und Schuld: wir haben versagt, wir haben‘s vermasselt. Mit welcher Berechtigung setzen wir noch Kinder in die Welt, wenn wir die Erde nicht mehr menschenverträglich hinterlassen?

Dürfen wir noch Kinder zeugen? Wäre es nicht ehrlicher und konsequenter, uns selbst zu Grabe zu tragen, als unseren Kindern das verseuchte Erbe einer maroden Hochkultur zu vermachen?

Von Alice Miller stammen folgende Thesen:

1. Das Kind ist immer unschuldig.

2. Jedes Kind hat unabdingbare Bedürfnisse: nach Sicherheit, Geborgenheit, Schutz, Berührung, Wahrhaftigkeit, Wärme, Zärtlichkeit.

3. Diese Bedürfnisse werden selten erfüllt, jedoch von Erwachsenen für eigene Zwecke ausgebeutet.

4. Der Missbrauch hat lebenslängliche Folgen.

5. Die Gesellschaft steht immer auf der Seite der Erwachsenen und beschuldigt das Kind für das, was ihm angetan worden ist.

6. Die Tatsache der Opferung des Kindes wird nach wie vor geleugnet.

Die Männer erfanden die Hochkulturen, um die Frauen an die Leine zu legen und die überschießende Intelligenz der Kinder durch Erziehung zu eliminieren. Alice Miller ist tot.

Es lebe die Vereinbarkeit schuldloser Autoritäten und unausstehlicher Bälger, die wir zu unseren Spiegelbildern deformiert haben. Und die wir nicht mehr ertragen, weil sie uns so ähnlich geworden sind.