Kategorien
Tagesmail

Dienstag, 04. September 2012 – Mäeutik

Hello, Freunde der Mäeutik,

was hat philosophische Hebammenkunst mit Antisemitismus zu tun? Melody Sucharewicz will mit Hilfe der Mäeutik den Judenhass bekämpfen.

Es ist bedenklich und verheerend für einen Staat, in dem Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Rasse auf offener Straße angegriffen werden. Es sind nicht nur Juden, sondern Schwarze, Vietnamesen, rumänische „Zigeuner“. Weshalb es sinnvoller wäre, generell von unmenschlichen Taten zu reden.

Es handelt sich um Verbrechen gegen Menschen. Dass es sich dabei auch um Hassattacken gegen Juden handelt, dürften gerade die Deutschen weder verharmlosen noch unter den Teppich kehren. Sie müssten sich besonders intensiv Rechenschaft darüber ablegen, ob sie die Gespenster der Vergangenheit überwunden haben.

Doch die wahrnehmungslose, nicht analytische, nur diffuse Schuld verteilende Frage: „Was ist los in diesem Staat“ oder die Feststellung: „in diesem Staat stimmt was nicht“, bringen uns keine neuen Erkenntnisse, die zu wirksamer politischer Vorbeuge führen könnten.

Aus schlechtem Gewissen, das über die Ursachen der Schuldgefühle nichts weiß, folgen keine sinnvollen pädagogischen oder politischen Konsequenzen.

Um der Autorin sofort zu widersprechen: es ist ein Unterschied, ob deutsch-stämmige Neonazis antijüdische Verbrechen begehen oder kürzlich eingewanderte arabische Jugendliche, die vor allem aus Hass gegen den Staat Israel zuschlagen. Mit der Geschichte der Deutschen haben die letzteren nichts zu tun. Dass es

den Deutschen nicht gelang, sie zu integrieren, sie in der Schule mit der Geschichte des Holocaust vertraut zu machen, ist ein anderes Problem der deutschen Gesellschaft, das gesondert besprochen werden muss. Ob die Deutschen ihre Geschichte aufgearbeitet haben, können sie nicht an den Untaten arabischer Jungmänner ablesen.

(Melody Sucharewicz in der WELT zum Kampf gegen Antisemitismus)

In ihrem WELT-Artikel ruft die Autorin zu einem „bedingungslosen“ Kampf gegen den Antisemitismus auf. Gerhard Schröder sprach nach 9/11 von bedingungsloser Solidarität mit den Amerikanern, was das Bush-Regime als devote und gefügige Gefolgschaft auffassen konnte.

Nichts auf dieser Welt darf bedingungslos sein, wenn es denn human sein und sich an Menschen- und Völkerrecht orientieren will. Der Kampf gegen Unrecht muss mit Recht und Gesetz durchgeführt werden, unter Bedingungen rechtsstaatlicher Gesinnung. Sonst wird er selbst zum Verbrechen. Zum Gegen-Verbrechen.

Bedingungslose Kämpfe werden von Fanatikern durchgeführt, die vom Himmel die Lizenz erhielten, mit allen Mitteln den bedingungslosen Willen einer unfehlbaren Autorität zu exekutieren.

Sucharewicz will mit sokratischen Methoden den Hass überwinden. Ein sinnvolles und notwendiges Unterfangen. Wer gemeinsam nach Erkenntnissen sucht, kann sich nicht hassen – sollte man denken.

Doch Mäeutik ist kein Salongeplapper, hier geht’s zur Sache. Hier wird eigenes und fremdes Denken überprüft, werden Falschmünzer entlarvt und die Folgerichtigkeit der täglichen Rede durch die Mangel gedreht. Traditionen werden entblättert, Autoritäten vorgeführt und ihrer selbstverständlichen Macht entkleidet. Das kann bis zum gefühlten Gesichtsverlust führen, wenn ein Tribun, eine einflussreiche Persönlichkeit in ihren Widersprüchen dekonstruiert wird. Das kann schlimmer sein als der Zustand von Adam und Eva nach dem Sündenfall, als sie sich nackt fühlten.

Es muss Gründe geben, warum strenge Streitgespräche in öffentlichen Medien nicht stattfinden.

(Einen Hoffnungsschimmer gibt es inzwischen durch Theo Kolls, nach englischem Vorbild aufgebaute „3-Sat-Debatte“, wo ungestört von diktatorischen Moderatoren jeder Disputant seine Meinung sagen kann; danach erst folgt die Debatte; am Schluss kann jeder sein Fazit bündeln, auch das Publikum kommt zu Wort.)

Sokrates hatte wenige Freunde unter Erwachsenen, unter den mächtigen Männern von Athen. Sein mit überlegener Denkkraft gepaartes anti-autoritäres Verhalten war gefürchtet. Oft erhielt er auf der Agora Prügel von Phraseologen, die im Agon schmählich unterlagen.

Das war der Grund für den „Verführer der Jugend“ – besonders der adligen, die keiner Banausenarbeit nachgehen mussten, um sich zu ernähren –, sich eher im Hintergrund aufzuhalten. Der Polis wollte er seine Reverenz erweisen und viele Menschen ins Denken bringen, damit sie zu besseren Demokraten würden.

Auf keinen Fall war es eine Absage an die demokratische Politik des Stadtstaates, wie deutsche Platoniker zu behaupten pflegen. Sokrates war derart verflochten mit dem Kern der Polis, dem Gesetz, dass er in seinem Prozess das Urteil des Gerichts akzeptierte, obgleich er es für falsch hielt.

Wie hätte er derart couragiert und leidenschaftlich seine Verteidigungsrede halten können, wenn er das juristische Verfahren, das Gericht und die ganze Volksherrschaft für falsch gehalten hätte? Seinen Anklägern hätte er nicht nur gravierende Denkfehler nachgewiesen, sondern ihnen furchtlos ihre mangelnde Legitimität unter die Nase gerieben.

Heute gilt es als schmählicher und beschämender, in einem Streitgespräch zu unterliegen, als finanziellen Bankrott anzumelden oder seine Frau an einen Charmeur zu verlieren.

All dieser Gefahren schien sich die Autorin nicht bewusst gewesen zu sein, als sie sich aufmachte, mit mäeutischen Methoden dem Übel des Antisemitismus in deutschen Landen zu begegnen.

Doch Entwarnung, Sucharewicz betreibt das Hebammengeschäft mit sich allein. Das muss wie Koitus ohne Partner sein. Sie fragt nur sich, keine anderen Menschen, um dem verbrecherischen Phänomen auf die Spur zu kommen.

Von Mäeutik keine Spur, schon die Definition der Gesprächskunst ist daneben. Sie soll eine Form des Dialogs sein – eben: Dialog, wo sind die Gesprächspartner? –, die „dem Gegenüber durch geeignete Fragen zur Erkenntnis über einen bestimmten Sachverhalt“ verhelfe.

Nein, nicht dem Gegenüber allein, sondern auch dem Fragenden, der beim Entbindungsakt gleichzeitig sich selbst zu überprüfen hat. Die Autorität des Fragers wird ebenso in Frage gestellt wie die des Gefragten.

In jedem Wettstreit der Geister ist der Ausgang des logischen Rangelns ungewiss. Das strahlend intelligente Kind, der naive Sklave kann den großen Mäeuten ebenso entzaubern wie der streunende Kyniker den stadtbekannten Politiker.

Das Gespräch findet in der Regel vor denkbegierigem Publikum statt, das etwaige Tricks des Erfahrenen sofort monieren und fordern kann, das Gespräch zurückzudrehen und die gedanklichen Weichen neu zu stellen.

Zudem liegt die Rollenverteilung nicht fest; sonst wäre erneut ein hierarchisches Element im Spiel, das die revolutionäre Mäeutik gerade zum Einsturz bringen wollte.

Wie oft hatte Sokrates beim Vorwurf, er würde seine „unterlegenen“ Gesprächspartner mit rhetorischen Tricks übers Ohr hauen, den Vorschlag des Rollentauschs gemacht. Seltsamerweise wollte niemand seinen Part übernehmen.

Es ist eine völlig falsche Definition der mäeutischen Fragekunst, mit listigen Fragen einen „bestimmten Sachverhalt“ aufzudecken. Das klingt, als sei das Ergebnis des Erkenntnisakts dem Fragenden längst bekannt. Er müsste nur noch, durch geschickte und listige Fragen, das festliegende Fazit aus dem Befragten herauskitzeln.

Das sind jesuitische und didaktische Kniffs hinterlistiger Pädagogen. Mit Sokrates haben sie nichts zu tun. Doch genau dieses Vorurteil, die mäeutische Methode sei nichts als eine raffinierte Art der Manipulation, hat sie in der Gegenwart in der Versenkung verschwinden lassen.

Von Mäeutik ist bei Sucharewicz weit und breit nichts zu entdecken. Längst weiß sie unbeirrt, wo die Wurzel des Übels liegen muss. Was sie aber nicht frei heraus sagt, sondern durch rhetorische Fragen indirekt und assoziativ jedem Leser einhämmern will.

Die Wurzel allen Übels liegt bei den Deutschen, die nichts dazu gelernt haben und sich noch immer in der psychischen Verfassung der Tätergeneration befinden. Inzwischen glauben die Deutschen, die Vergangenheit bearbeitet zu haben – genau das aber führe ins Verhängnis.

Mit sokratischen Worten formuliert, glauben die Deutschen bereits alles zu wissen (ihre Vergangenheit bearbeitet zu haben) und wissen nicht mal, dass sie nichts wissen (dass sie sie nicht bearbeitet haben).

Sodann wird die Liste der bösen Taten vorgeführt, als sei die Auflistung schon die Analyse. Fehlt nur der obligate Satz, das spreche für sich selbst. Fakten allein sprechen niemals für sich selbst. Sie müssen eingeordnet, erklärt und verstanden werden.

Bleibt die Analyse außen vor, arbeitet der Artikel mit Suggestivmethoden. Und Suggestivmethoden sind der biegsame Stoff, aus dem Manipulationen gedeichselt werden.

Versteht die Autorin die Täter, in diesem Fall die arabischen Jugendlichen? Die Frage klingt wie Blasphemie. Verstehen ist für die Autorin wie Sünde, die die Sünde der Tat erst komplettiert.

Warum verstehen die Deutschen die Araber? Um sie zu entschuldigen und weiß zu waschen. Das ist typischer Unsinn aus der Kiste deutscher Hermeneutik, der die französische Weisheit unbekannt ist: alles verstehen, heißt nicht alles verzeihen.

Durch Verteufelung der Feinde ist niemandem geholfen. Die Gesellschaft spaltet sich durch Verstehensverweigerung nur in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß.

Die Autorin begnügt sich nicht mit Nicht-Verstehen, aktiv verbietet sie ihrem Publikum, irgendetwas verstehen, also verharmlosen zu wollen. Wer verstehe, bestärke das Verbrechen.

Offensichtlich hat die Autorin von Freud und sozialtherapeutischen Anstalten noch nichts gehört. Sonst wüsste sie, dass man mit psychologischem Verstehen den Übeltätern das Angebot machen kann, sich selbst zu verstehen, seine Tat zu bereuen und als anderer Mensch in die Gesellschaft zurückzukehren.

Nur Verstehen und Erklären können eine Gesellschaft humanisieren und Hassbarrieren niederreißen. Andernfalls bräuchte man keine Sozial-Arbeit, keine Integrationsbemühungen, um fremde Menschen einzugliedern oder Gestrandete mit der Gesellschaft zu versöhnen.

Mit frei flottierenden Schuldvorwürfen, die die Denkfähigkeit des Publikums durch unbegrenzt schlechtes Gewissen ausschalten sollen, versucht die Autorin, eine Überidentifikation der Deutschen mit ihrem eigenen Standpunkt hintergründig zu erpressen. Wer keine Kippa aufsetzt, der Verfluchung der Jugendlichen nicht zustimmt, muss selbst auf die Anklagebank. Mit neutestamentlichen Worten: wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

Jede Kritik an der Position der Schreiberin ist demnach ein Frevel, der zur Genüge beweist, dass die Deutschen nichts gelernt haben und vermutlich niemals lernen werden. Einmal Täter, immer Täter.

An dieser Stelle merkt man die Absicht der Autorin, die eine wirkliche Schandtat benutzt: nicht um die Frage zu stellen, wie man zukünftige Schandtaten verhindert, sondern um Israel weiß zu waschen und den Deutschen den Stachel ins Fleisch zu drücken: Seht ihr nun, wohin es führt, wenn man den israelischen Staat durch Kritik ramponiert?

Mit anderen Worten: hinter der Maske einer berechtigten Beschäftigung mit antisemitischen Vorfällen in Deutschland wird tonlos eine Weißwaschung des Staates Israel vorgenommen.

Man muss die arabischen Jugendlichen verstehen. Man muss mit ihnen ins Gespräch kommen. Man muss ihnen die komplizierte Gemengelage in Nahost zu erklären versuchen. Man muss ihnen sagen, dass Hass auf die Unterdrücker ihres Volkes nicht in Gewalt übersetzt werden darf. Ja, dass kein Hass das Motiv einer vorwärts führenden Politik der Völker sein kann.

Für junge Menschen ist das eine schwere, eine harte Lektion, die ihnen jedoch nicht erspart werden kann. Man muss den Staat Israel kritisieren, wo er zu kritisieren ist, anders wird man das Vertrauen der jungen Täter nicht erringen. Kritik nicht als pädagogischer Trick, sondern weil man tatsächlich dieser Meinung ist.

What went wrong? Zu Recht legt der Artikel die Finger in eine klaffende deutsche Wunde, die in diesem Fall eine deutsch-israelische Wunde ist. Denn ohne menschenverächtliche Politik der Israelis gäbe es keinen Hass arabischer Jugendlicher auf jüdische Mitbürger. Von einem „klassischen“ Antisemitismus wie im christlichen Abendland kann hier nicht gesprochen werden.

Doch die Autorin greift nicht in die Wunde, um sie zu diagnostizieren und fachgerecht zu therapieren, sondern um sie zu verschärfen und die Gräben in der Gesellschaft zu vertiefen. Das ist das Gegenteil dessen, was eine philosophische Gesprächskunst à la Sokrates will, der das Gegeneinander in der Gesellschaft durch eine disziplinierte Methode des Verstehens überwinden wollte.

Die Sprachbarrieren zwischen Mensch und Mensch, Schicht und Schicht, „Weisen“ und Nichtweisen, sollten durch gemeinsamen Erkenntnisgewinn beseitigt werden. Das Ich und das Du eines Dialogs begegnen sich, indem sie sich durch Lernen auf die Spur kommen. Auf die Spur hasserzeugenden Missverstehens, das im Dialog überwinden werden muss.

Nichts anderes meinte Martin Buber mit seiner Ich-Du-Philosophie. „Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du.“ Wenn eine Gesellschaft sich unversöhnlich in Täter und Opfer spaltet und unfähig ist, sich als Ich und Du zu begegnen, die sich verstehen, kritisieren und sich wechselweise bereichern, wird sie langfristig in eine Täterklasse und eine Opferklasse zerfallen.

Weder von sokratischer Mäeutik noch von Martin Bubers dialogischem Geist ist in dem Artikel ein Anhauch zu spüren.

 

Nach einer Begegnung mit Satmarer Chassidim, deren führender Rabbi Raw Teitelbaum den Holocaust als Gottes Strafe für Zionismus und übermäßige Anpassung der Juden an die deutsche Kultur betrachtete, warnt Micha Brumlik davor, alle Kritik an Israel pauschal als Antisemitismus zu denunzieren.

Man könne den einen Fehler begehen, den jungen Staat als „kollektiven Juden“ für alle Übel in der Welt anzuklagen, man könne aber auch den spiegelbildlichen Fehler machen: ihn für unfehlbar und kritikimmun zu erklären.

(Micha Brumlik in der TAZ: Aus gegebenem Anlass …)

Vielleicht sollte Melody Sucharewicz bei Erziehungswissenschaftler Brumlik einige Vorlesungen besuchen, um sich die mäeutische Methode erklären zu lassen.