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Dienstag, 02. Oktober 2012 – Kreativität

Hello, Freunde der SPD,

Helmut Schmidts Liebling ist es geworden. Einst ein miserabler Schüler, heute ein Großartiger, der jedermann zeigen muss, dass er ihn in den Sack stecken kann. Eine Wahl hat er noch nicht gewonnen, sondern eine ganz schön versemmelt. Alles keine Gründe für Steinbrück, ein schlechter Kandidat zu sein. Muss er im Umkehrschluss aber gleich ein guter sein?

Jens Berger hat in der TAZ seine bisherigen Leistungen aufgezählt. Gäbe es Noten für die Vergangenheit, wäre die Versetzung des Schachspielers gefährdet. Ginge es nach Umfragen, hätte er gegen Merkel keine Chancen. Eine große Koalition hat er ausgeschlossen, doch was, wenn es für Rot-Grün nicht reichen wird?

In Frankreich erleben wir gerade die ersten Demonstrationen gegen Hollande, der dabei ist, seine Wahlversprechungen – den sozialen Sektor nicht zu kürzen – zu brechen. Entweder hat Hollande mit Wissen versprochen, was er nicht halten konnte – dann hat er die Wähler betrogen. Oder er hat die Lage des Staates von außen falsch eingeschätzt, dann muss er seinen Irrtum öffentlich korrigieren.

In der medial verseuchten Öffentlichkeit gibt es nur die Kategorie Lüge und Täuschung. Hier sehen wir eine standardisiert-demokratische folie a deux (Wahn zu zweit), die von niemandem angesprochen wird.

Jeder Mensch kann nur unter Bedingungen etwas versprechen. Den Bedingungen, dass er noch lebt, bei Gesundheit ist, die objektive Lage und das Maß seiner Einflussmöglichkeit richtig eingeschätzt hat. Unter der Gesamtbedingung, dass er sich nicht geirrt hat. Von bewussten Täuschungsabsichten

sehen wir ab.

Kein Politiker ist in der Lage, diese trivialen Bedingungen auszusprechen: ich verspreche euch, zu tun, was in meiner Macht liegt. Vielleicht muss ich einiges korrigieren und zurücknehmen, dann werde ich euch erklären, wo mein Denkfehler lag und ich hoffe, dass euch meine Gründe überzeugen.

(Eine theologische Formel dieser Bedingtheit ist die conditio jabobaea, die Klausel des Jakobus im Neues Testament > Jakobus 4,15 / http://www.way2god.org/de/bibel/jakobus/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jakobus/4/“>Jakobusbrief 4,15: „Dagegen sollt ihr sagen, wenn der Herr will und wir leben, werden wir dies oder das tun“.)

Mit anderen Worten, unter dem Vorwand, die Wähler vertrügen die Wahrheit nicht, fühlen sich die Politiker vom Volk zum Lügen gezwungen. Die Wähler hingegen spielen aus Trotz genau die Rolle, die ihnen von den Politikern übergestülpt wird. Ganz nach dem Motto: geschieht meinen Eltern ganz recht, dass ich mir die Finger erfriere, warum haben sie mir keine Handschuhe geschenkt. Übertragen: geschieht den Politikern ganz recht, dass wir sie zum Lügen zwingen, warum trauen sie uns die simpelsten Wahrheiten nicht zu?

Warum kann Steinbrück seine Ziele und Versprechungen nicht mit einem schlichten und jedermann verständlichen Wenn konditionieren? Warum muss er in Interviews den starken Max spielen, über zweitbeste Lösungen denke er nicht nach, er wolle Alles. Wer Alles will, will Nichts, wenn Alles ausbleibt.

Glaubt irgendjemand, dass Steinbrück zurücktritt, wenn es zur großen Koalition kommt? Natürlich wird er bei Mami unter den Rock schlüpfen.

So belügen sich unmündige Demokraten mit irrationalen Dummheiten, die sie in ihrem privaten oder beruflichen Leben mit Leichtigkeit durchschauen würden.

Die Medien immer vorneweg, denn von dramatischen Lügen, Vertrauensbrüchen und sonstigen Katastrophen glauben sie zu leben.

Steinbrück hat ein Papier verfasst, das er gleich als bestes Finanzpapier der Gegenwart preist. Er will die Banken zerschlagen, die Zockerei vom normalen Geldbetrieb trennen. Die Institute müssen überwacht werden, sich in Krisen selber retten können. Das Ganze liest sich wie ein Attac-Programm light.

Der Verfasser hat nur die Kleinigkeit vergessen, dass er unter Rot-Grün alles unternahm und nichts unterließ, um die Banken durch Deregulierung – sprich durch unkontrollierten Wildwuchs – in ihrem Omnipotenzwahn zu unterstützen. Die Einzelheiten bei Jens Berger in der TAZ.

 

Zusammen mit dem Belgier Guy Verhofstadt hat Daniel Cohn-Bendit ein Manifest für ein geeintes föderales Europa verfasst. Europa muss sich zusammenraufen, in 30 Jahren werde kein europäischer Nationalstaat eine internationale Rolle mehr spielen, in G8 wird nicht mal Deutschland vertreten sein. Nur auf geeinter gesamteuropäischer Ebene könnten die Europäer noch mitspielen. Das wäre der machtpolitische Faktor.

Auch binnenwirtschaftlich lässt sich die Macht des globalen Marktes nur bremsen durch Konzentration der Kräfte und gegenseitiges Anpassen disparater nationaler Strukturen. Von den großen Weltproblemen wie Klimakrise, Erschöpfung der Ressourcen, Flüchtlingsströmen gar nicht zu reden, die nur durch gemeinsame Anstrengungen aller Völker gelöst werden können.

Die EU muss aus ihrer nationalen Provinzialität heraus. Auch die Armeen müssten zusammengelegt und rationalisiert werden. Für die Nationen blieben nur noch die Ressorts Kultur, Schulen und Polizei. Auch die Sozialpolitik müsste langfristig egalisiert werden. „Wir brauchen einen Kompass. Wir können nur dann viele kleine Schritte machen, wenn wir eine Orientierung haben.“

In der Tat, es wird Zeit für rationale Utopien. Warum ist die Politik immer im Hintertreffen, verglichen mit den absurden und inhumanen Zielvorstellungen der Techniker, Geld- und Projektemacher? Weil sie sich das Nachdenken darüber verbietet, wohin sie will. Sie lässt sich von Zocker- und Roboterbubis am Nasenring deren Wege führen und schließt vorsichtshalber die Augen, um ja nicht zu wissen, was sie tut.

Der Satz: denn sie wissen nicht, was sie tun, war noch harmlos. Heute müssten wir sagen: denn wir wollen gar nicht wissen, was wir tun. Die Politik hat kein Ziel, die Wirtschaft schon. Ebenso die Techniker, die kein Hehl draus machen, die Natur überflüssig zu machen und ihre eigene Kunstwelt an deren Stelle zu setzen.

Man erinnere sich der Zukunftsvisionen eines Buckminster Fullers aus den 60ern: riesige Trabantenstädte im Untergrund, auf dem Meeresboden, in schwindelnden Höhen, auf dem Mars. Hypertrophe Technik zur „Vermeidung des kosmischen Bankrotts“. Nicht durch rationales und humanes Zusammenleben werden wir überleben, sondern durch Errichten künstlicher Welten auf den Knochen einer leichenhaften Natur.

Klar, sagt Cohn-Bendit, auf den ersten Blick verlören die nationalen Regierungen an Macht, auf den zweiten aber würden sie gewinnen, denn nur auf vereinigter Ebene werden sie in der Welt noch mitmischen können. Die EU-Kommission soll die neue europäische Regierung werden. Der europäische Rat – die Versammlung der Staats- und Regierungschefs – wäre dann eine zweite Kammer, das europäische Parlament die erste Kammer.

Montesquieu würde sich im Grabe rumdrehen, wenn er heute Exekutive und Legislative im Rat vereint sähe. Das europäische Parlament muss endlich zu einem vollwertigen Parlament ausgebaut werden.

„Wenn wir eine gerechtere Welt wollen, dann brauchen wir Akteure, die eine aus den Fugen geratene Globalisierung wieder regulieren und gestalten können. Nur Europa wird das schaffen“.

Eine der klarsten Manifeste zur Zukunft Europas.

(Ruth Reichstein interviewt Daniel Cohn-Bendit in der TAZ)

 

Wie hängt Kreativität mit Ausgebranntsein zusammen? Bleibt erstere aus, stellt sich das zweite ein. Je kreativer wir sein müssen, je ausgebrannter werden wir. Denn so kreativ, wie wir uns sehen, sind wir nicht. Wir übernehmen uns, indem wir kollektiv das Drama des begabten Kindes spielen, das sich ständig unterfordert, ja gelangweilt fühlt.

Dabei sind wir auf der ganzen Linie überfordert. Denn begabt ist jedes Kind, besondere Begabungen sind willkürliche Bewertungen im Auge der industriellen, schulischen und universitären Begabungsverwerter. Alle Begabungen sind erwünscht im Garten des Menschen. Nicht Begabungen sind entscheidend, sondern ihre sinnvolle Anwendung.

Und hier befinden wir uns auf dem Feld des Nachdenkens. Nachdenken ist keine solistische Begabung. Es beruht auf dem gemeinsamen Nachdenken der Menschheit, zuerst im stillen Kämmerlein, dann auf der Agora.

Nicht jeder Einstein-IQ macht schon einen Einstein. Die meisten IQler werden Spitzenbeamte, komisch aber auch. Ihre Intelligenz stellen sie als gefügige Instrumente den Starken zur Verfügung. Pure Intelligenz, die über nichts nachdenkt, betätigt sich als Hure der Macht.

Intelligenz hat mit Kreativität nichts zu tun. Was war Kreativität noch mal? Künstler vor allem wollen kreativ sein. Seitdem Beuys jeden Menschen zum Künstler ernannt hat, grassiert die Kreativitätsseuche, meinen Christopher Schwarz und Dieter Schnaas in einem ZEIT-Artikel.

Künstler müssten ständig ins Unbekannte vorstoßen, sich etwas einfallen lassen, Grenzen überschreiten, Neuland erschließen. Womit wir schon beim Imperialismus der Kreativität wären. Neuland erschließt sich nur Eroberern, die den Alt-Bewohnern das Land unter den Füßen wegziehen und ihnen oben die Köpfe abschlagen.

Neuland ist nicht neu, sondern uralt. Neu ist es nur für Invasoren und Eindringlinge. Wenn Kreativität etwas Künstlerisches ist, müsste die gesamte Moderne ziemlich künstlerisch geworden sein. Denn wo gibt’s einen Bereich, der auf kreatives Tun verzichten wollte?

Ist die Moderne etwa der Triumph der Künstler? Hat sich die kreative Boheme durchgesetzt beim progressiven Vernichten der Natur?

War Kunst nicht mal kritisch? Gelegentlich, bestimmt nicht immer. Im Mittelalter war sie identisch mit der herrschenden Macht des Klerus, baute kunstvolle Dome, schnitzte Kruzifixe mit Dornenkronen und malte Madonnen mit messianischen Knäblein an der Brust: alles Verherrlichungen der gloria dei.

Kunst kann totalitär sein und faschistische Systeme stützen. Platon wirft nervenschwächende Musik aus dem perfekten Staat und weist der Kunst die militaristische Aufgabe zu, die totalitäre Utopie zu sichern.

Und sind es keine politischen Mächte, denen die Künstler dienen, sind es die Reichen, die den Geldbeutel öffnen und sich die Künstler als Dekorateure ihrer gestifteten Museen und ihrer Villen in Marbella halten. Oder als lukrative Geldlagen, denn mit Kunst kann man viel Geld machen.

Zu Recht stellt der Artikel fest, dass die Faszination der Kunst bis in die Chefetagen der Unternehmen reicht. „Im rebellischen Gestus des Künstlers, in seiner Kunst, sich über Regeln hinwegzusetzen, erkennen die Unternehmer ihr Alter Ego.“ Im künstlerischen Wirken sehen die Wirtschaftstycoons „dieselbe Power und kreative Energie am Werk, die sie selbst umtreibt“.

Man müsste sagen, ohne avantgardistische Kunst kein ewiges Wachsen der Wirtschaft und der Technik. Sind die Künstler die Hauptschuldigen unserer grenzenlosen Gier nach Neuem?

Sie sind die geheimen Symbolfiguren der Moderne, die sich oft kapitalismuskritisch geben, in Wirklichkeit aber die Urideologie des ewig Neuen und Grenzenlosen vertreten. Schumpeter, der Ökonom, spricht von schöpferischer Zerstörung als Grundlage allen Fortschritts in Produktion und Profitmaximierung. Doch halt, zerstören Künstler regelmäßig die veraltete Kunst, die sie durch Erneuerung zu überwinden dachten?

Liest man in lexikalischen Artikeln über Kreativität, gibt’s viele Sätze über Biologie, Gehirnforschung und Transmitter. Dass das Urwörtchen creare der Theologie entstammt, sucht man vergebens. Kreativität ist die Verwirklichung des Dogmas von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Nimmt der Mensch sich den Schöpfer zum Vorbild, muss er den Creator ex nihilo imitieren.

Das klingt wie ein Widerspruch im Beiwort. Kann man etwas imitieren, wenn man Neues aus dem Nichts – dem, was es noch nie gegeben hat – erschaffen will? In der Tat ist Kreativität ein Plagiierungsversuch. Der Mensch sucht nichts Neues, sondern das, was der himmlische Vater ihm vormacht.

Sollte kreatives Tun darin bestehen, seinen eigenen Weg zu gehen, wäre Kreativität der Kreaturen das Gegenteil von dem, was sie zu sein vorgibt. Wie können Klone eines Allmächtigen ihren eigenen Weg gehen, ohne von Ihm abzufallen und ins Verderben zu geraten? Versuchen sie es, werden sie von ihrem gütigen Vater zum Teufel geschickt – der nach Luther ein Tausendkünstiger ist, also durch mannigfaches Experimentieren selbst ein Kreativer sein wollte. Nichts gefährlicher, als im Umfeld eines Eifersüchtigen und Allmächtigen seinen eigenen Weg zu gehen.

Der Artikel hat Recht, es gibt keine zwei Kulturen der Moderne. Es gibt einen einzigen Generalsschlüssel der Moderne und das ist der zwanghafte Versuch, aus Nichts Etwas und aus Etwas Nichts zu machen. Weshalb die Romantiker, besondere Verehrer des Kreativen, vollkommen zu Recht von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung sprachen.

Früher nannte man die Kreativen Genies. Im Sturm und Drang wurde der Geniekult kreiert, also vom theologischen Gewerbe aufs Künstlerische übertragen. Wenn Theologisches auf die Welt übertragen wird, spricht man von Säkularisierung, Verweltlichung.

Sind die Folgen der Säkularisierung miserabel, ist letztere ein Vorgang des Abfalls und des Glaubensverrats, entsprechend miserabel sind die Früchte. Sind die Folgen gut und schön, steht das Abendland fest auf dem Boden des Glaubens, der den ganzen Teig durchsäuert.

Die Romantiker wollten durchweg genial sein, besonders, wenn sie ironisch waren. Ihre Ironie nannte Hegel den Standpunkt göttlicher Genialität, die allgemeine Fähigkeit zur wahren Produktion des Kunstwerks. Heute wissen wir, nicht nur des Kunstwerks, sondern der ganzen Erschaffung der Kultur und Zivilisation.

Ironie soll darin bestehen, dass „alles, was sich als schön, edel anlässt, hintennach sich zerstöre und aufs Gegenteil ausgehe.“ Das war Hegels Kritik an den hallodrihaften Romantikern, die das Schöne und Edle wie beim Zauberkünstler nach Belieben imaginieren und wieder verschwinden lassen konnten.

Doch nicht Hegel, sondern die Romantiker hatten die wahre Genialität auf den Punkt gebracht: das Geheimnis der modernen Kreativität, die aus dem Nichts erschafft und wieder dort verschwinden lässt. Haben die Romantiker Recht, ist die ganze Moderne ein Gaukelspiel. Abrakadabra: die schöne neue Welt ist da. Simsalabim: sie ist wieder dahin.

Bei Kant ist Genie nur auf die Kunst beschränkt. Genie ist für ihn das Talent, „welches der Kunst die Regel gibt“. Genie lasse sich nicht erlernen, entweder man hat‘s oder hat‘s nicht. Ganz anders in der Wissenschaft. „Der große Mann der Wissenschaft ist vom Genie spezifisch verschieden, denn ihre Leistungen lassen sich erlernen.“

Ein Wissenschaftler muss nichts Neues aus dem Zylinder zaubern wie der Künstler. Er muss der Natur ablauschen, was uralt oder zeitlos ist. Doch hier widerspricht sich Kant. Die Vernunft bezeichnet er an anderer Stelle als Vermögen, der Natur die Regeln vorzuschreiben, nicht, sie aus ihr zu schöpfen. Hier schwankt er zwischen Erfinden und Finden.

Ein Wissenschaftler kann nichts Neues erfinden, denn die Gesetze der Natur sind zeitlos. Nur für die Menschen sind sie neu, die sie neu entdecken.

Wenn der Künstler etwas Neues aus dem Nichts zaubert, hat er noch nie Dagewesenes erschaffen. Das kann keine Erkenntnis eines Vorhandenen sein: es kann nichts weniger als eine Offenbarung sein. Versteht der Mensch sich als Natur, ist seine Offenbarung eine der Natur.

In der Neuzeit wird Gott zur Natur oder Natur zu Gott (deus sive natura). Aber nicht immer zu einem rational-allgemeinen Gott, sondern zu einem religiösen Gott der Willkür. Im strengen Sinn offenbart Natur nichts, nur Gott offenbart überprüfungslos nach Lust und Laune. Die Natur ent-hüllt sich und zeigt Fragmente ihrer Wahrheit, die stets überprüfbar sein müssen.

Kein Galileo kann sich auf Offenbarungen berufen, Hildegard von Bingen sehr wohl. Bei den Deutschen vermischt sich Gott und Natur in einer gefährlichen Weise. Insofern das Genie die Offenbarungen der Natur verkündet, sind seine Erfindungen Abdrücke der Natur. Wohlgemerkt einer Natur, wie man sie damals sah, als irrationales Gegenteil zur berechenbaren Vernunft.

Das höchste Ideal der genialen Kreativität ist im Sturm und Drang der natürliche Mensch: „der ungebildete, unverbildete, unmoralische, lebensvolle, der geschmacklose, ungeschminkte, kurz, der naive, kraftstrotzende, urwüchsige Mensch, der nicht vernunftgeformt ist, sondern unmittelbar aus der Fülle des Herzens handelt.“ Nur da liegt Kunst und Kreativität vor, wo die Einfalt der Natur über den Aberwitz der Vernunft und die Künstlichkeit der Moral triumphiert.

Wenn Natur unsittlich und unberechenbar ist, müssen die Offenbarungen der Natur unsittlich, unberechenbar, berserkerhaft, vital und von keiner Vernunftmoral eingeschränkt sein.

Wir stehen am Beginn der Deutschen Bewegung und des deutschen Sonderwegs. Die Natur der Deutschen ist anders als die der Franzosen. Eine allgemeine Natur gibt es nicht.

Bei den Griechen gab es nur den natürlichen Kosmos der allgemeinen Gesetze. Die Deutschen vermengen Natur mit dem Gott des Christentums, der keine allgemeinen Gesetze kennt, sondern nach Belieben erwählt und verdammt. Die Deutschen verchristlichen und individualisieren die Natur. Es gibt keine allgemeinen, sondern nur noch besondere Gesetze. Alles Natürliche muss irrational sein.

Die Deutschen definierten sich als unvergleichlich und verhöhnten die westliche Vernunft des Allgemeinen. „Dem übernationalen Kunstideal der Aufklärung tritt in der Sturm-und-Drang-Bewegung die Forderung nach echter deutscher Art und Kunst gegenüber.“ Es blieb nicht bei Art und Kunst. Die Deutschen wollten sein, was es kein zweites Mal gab. Das war der Ursprung des germanischen Rassismus.

Am Anfang gab‘s unendlich Verschiedenes. Doch das Verschiedene verwandelte sich in eine Hierarchie der Wertigkeiten. Am Schluss war das deutsche Wesen allen andern überlegen.

Fichtes Nationalismus war zuerst einer unter vielen, am Ende war er der Heiland der Welt. Die nordische Rasse wurde zur einzig lebens-werten Rasse, neben der alle andern zur Unterwerfung oder zum Tode bestimmt waren.

Fazit: Wer Kreativität als Fähigkeit betrachtet, immer etwas Neues zu erfinden, landet bei göttlich-natürlichen Offenbarungen. Natur aber, die – bei allen neuen Mischungen – immer die Alte ist und bleibt, wird hier zum göttlichen Offenbarungsinstrument verfälscht.

Vernunft als Fähigkeit des Allgemeinen kann Natur nur erkennen, weil sie den allgemeinen Gesetzen der Natur auf die Spur kommen kann. In der Natur gibt’s nichts Neues.

Wer darauf beharrt, in kreativer Weise ständig Neues aus seinem unvergleichlichen Ingenium zu offenbaren, entzieht sich der rationalen Prüfung und überhöht sich zur irrtumsfreien Stimme Gottes, die nach Belieben alles inszenieren kann: erschaffen und zertrümmern, schöpfen und vernichten.

Kreativität wird zur Imperialistin der Welt, die als Neuland erobert, was schon immer da war, ist und sein wird. Obgleich sie vollständig von der Natur abhängig ist, tut sie, als ob sie nach Belieben neue Naturen aus Nichts erschaffen könne.

Vor dieser Kreativität ist kein Lebewesen sicher.