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Die ERDE und wir. XXIX

Tagesmail vom 11.11.2024

Die ERDE und wir. XXIX,

„Sogar aus den alternativen Kommunen der Hippies kam bald die Klage:

Wir sind zu viele. Manche setzten sich nach dem Motto: „wird das Leben langweilig, riskiere es“, freiwillig Gefahren aus.

Neue Methoden zur Erregung von Angstlust wurden erfunden. Im kalifornischen Naturschutzpark Yosemite sprangen reihenweise junge Menschen mit Fallschirmen von steilen Kliffs und ließen sich auch nicht von den Leichen der Vorgänger abschrecken, die noch im Fels hingen.“ (Raeithel, Geschichte der Nordamerikanischen Kultur)

Das war vor einem halben Jahrhundert. Inzwischen ist die Menschheit, ebenso wie die Angstlust zur Selbstzerstörung, angeschwollen. Nahrungsmittel werden knapp, die fruchtbare Krume schwindet, die gute Atemluft wird zersetzt, die schönsten Landstriche werden vom Meer überspült.

Grenzen? Sollte der Mensch sich Grenzen setzen? Im Kinderzeugen? Im Verbrauch der Natur? In der Mobilität, die sich immer die besten Flecken der Erde sucht? Im Denken, das sich keine Grenzen setzt?

„Bei seiner zweiten Amtseinführung im Jahre 1985 sagte Ronald Reagan: »Dem menschlichen Denken sind keine Grenzen, dem Geist, der uns beflügelt, keine Schranken, unserm Fortschritt nur solche Barrieren gesetzt, die wir uns selbst errichten.«“ (ebenda)

Sollte Reagan das Gegenteil der Wahrheit gesagt haben, wären Fortschritt, die Flucht in die Zukunft, das Immer-mehr, die permanente Hetze, die Gier nach dem Endlosen, die ständig neuen Risiken, die Grenzenlosigkeit: die Totengräber der Menschheit.

Ist das denkbar? Worauf die Menschheit am stolzesten ist, das wird ihr am sichersten den Hals brechen?

Ist die Menschheit so grässlich dumm, dass sie ihre Selbstvernichtungsmethoden als Genieleistungen feiert?

Je mehr Menschen es gibt, je enger müssen sie zusammenrücken, um sich ein Stückchen Humus der Mutter Erde zu gönnen. Doch je enger sie zusammenrücken, je unleidlicher werden sie.

„Der Soziologe Lewis Coser vertrat die Maxime: je enger die Beziehung, desto größer der Konflikt. In keinem anderen Land verbringen Kinder so viel Zeit in vollständiger Isolation wie in Amerika. Ein Psychoanalytiker dokumentierte das Unbehagen an sozialer Nähe mit dem Satz: »Ich fürchte, wir lernen einander kennen.«“

Je näher wir einander kommen, desto furchterregender werden wir, je mehr reizt uns der Wunsch, die Nähe zu prügeln und in die Ferne zu fliehen.

In Deutschland verlassen jährlich immer mehr Einheimische das überfüllte Land, um sich in den Süden zu verabschieden. Es gibt kaum einen TV-Film, in dem es nicht heißt: He, Süße, wie wär’s mit uns beiden? Beginnen wir das neue Leben – auf den Kanaren?

„Die Mehrzahl der Amerikaner hegt nach wie vor den Wunsch, woanders zu leben als am gegenwärtigen Wohnort, und nach wie vor wird der Wunsch umgesetzt. Knapp ein Fünftel der Bevölkerung zieht um.“

Der amerikanische Exzeptionalismus ist lebendiger denn je.

„Noam Chomsky weist darauf hin, dass bereits 1630 John Winthrop in seiner Predigt Model of Christian Charity die den Evangelien entlehnte Formulierung „Stadt auf dem Hügel“ verwandte, als er die Zukunft einer neuen, „von Gott bestimmten“ Nation entwarf. „Wir müssen davon ausgehen, dass wir wie eine Stadt auf einem Hügel sein sollen. Die Blicke aller Menschen richten sich auf uns.“ „Über die Doktrin des Manifest Destiny („offensichtliche Bestimmung“) des 19. Jahrhunderts habe sich das Sendungsbewusstsein für Christentum, Demokratie und Menschenrechte nach amerikanischer Prägung entwickelt, das der Rechtfertigung eines skrupellosen Imperialismus diene.“

Die Auserwähltheit der Amerikaner hat vor allem das Ziel, ihren „skrupellosen Imperialismus“, ihren Beherrschungswillen über die ganze Welt zu rechtfertigen.

Moment, sind die Amerikaner nicht fromm? Heißt fromm-sein nicht die Fähigkeit, seinen Nächsten nicht nur zu akzeptieren, sondern zu lieben?

Wer so redet, hat vom christlichen Glauben nichts verstanden.

In ihrer langen Geschichte wurden die Frommen endlos von ihren apokalyptischen Ängsten geplagt. Keine Generation, die nicht glaubte, zu ihren Lebzeiten würde der Herr wiederkommen und dem ganzen Schöpfungsspektakel ein Ende bereiten. Ein schreckliches Ende für die Mehrheit der Verworfenen, ein paradiesisches für die winzige Minderheit der Erwählten.

Dieses Ziel haben wir schon längst erreicht: Musk, der reichste aller Menschen, Sprecher der Multimilliardäre und der Genies von Silicon Valley, musste nicht gewählt werden, um bei Trump mitreden zu können.

Während sich bei wenigen ungeheurer Reichtum und immense Macht anhäufen, verrecken Millionen Menschen im Elend. Die wenigen Staaten, denen es, wie Deutschland, noch einigermaßen gut geht, schlagen sich gegenseitig den Schädel ein, weil sie nicht willens sind, die Flüchtlinge der Armen aufzunehmen.

Dabei gäbe es nur eine Lösung dieses Flüchtlingsproblems: die wohlhabenden Länder müssten sich global zusammentun, um den darbenden Völkern bereits in ihrer Heimat zu helfen. Da jaulen alle „Rechten“ und Kanaren-Liebhaber. Ferne Landschaften lieben sie, deren Bewohner würden sie am liebsten im Meer versenken. Sie bevorzugen die wunderbare „Aussicht in die Ferne“, die Probleme der Nähe hassen sie wie die Pest.

Dabei sollten die Christen sich um die ganze Erde kümmern:

„Augustin hatte an Matthäus 24, 14 erinnert, dass das Evangelium der ganzen Welt und allen Völkern verkündet sein muss, bevor das Ende käme. Die entfernteste Insel, so der Kirchenvater, müsse die Heilsbotschaft vernommen haben, bevor das Untergangsdrama beginne. Der Weltuntergang erfordere Welterkundung, verlange nach Menschen- und Seelenrettung durch die Taufe. Diese Forderung wird bis zu Kolumbus und darüber hinaus wirksam bleiben. Amerikas Entdeckung war ein Gebot der Weltuntergangserwartung.“ (Fried, Dies irae)

Die ganze Welt sollte missioniert werden – zu welchem Zweck? Um die ganze Welt zu beherrschen. Das Evangelium war ein Machtmittel, um die Erde in den Griff zu kriegen.

Sind herrschen und predigen dasselbe? Zeugt es von Nächstenliebe, den Völkern das Evangelium zu predigen, um sie an die Kette zu legen?

Bereits hier sehen wir, wie die Apokalypse zustande kommt:
durch unlösbare Widersprüche, die von den Gläubigen als vereinbare und somit lösbare Widersprüche betrachtet werden.

Kanzler Scholz kritisiert seine Gegner, weil sie nicht pragmatisch denken und handeln, sondern ideologisch. In einer Koalition aber müsse man Kompromisse schließen können. Und das könne man nur, wenn man nicht ideologisch denkt, sondern pragmatisch.

Hat hierzulande niemand verstanden, denn abstrakte Begriffe kennt hier niemand. Ideologie ist für Scholz eine Idee, die niemand realisieren kann – schon gar nicht zwei Ideen, die niemals vereinbar sind – und dennoch als realisierbare propagiert werden.

Pragmatiker hingegen sind hemdsärmelige Praktiker, die glauben, alles Kollidierende und sich Widersprechende in einer Kompromiss-Lösung zu entschärfen.

Die Deutschen sind – noch immer – Christen. Sie glauben an einen Gott, der die Erde erschaffen hat und ergo keine unlösbare Probleme kennt. Denn solche wären Inbegriff des Bösen, das sich der Allmacht des Gottes entzöge. Doch solches gibt es nicht.

Wahrlich, es gibt Probleme, die dem Menschen erhebliche Schwierigkeiten bereiten, doch letzten Endes ist der Schöpfer so allmächtig, dass sein Knecht, der Teufel, alles zum Guten wenden kann. Der Teufel hat eine Doppelfunktion, er schafft das Böse und er beherrscht das Böse – wie der Schöpfer es will.

Man könnte sagen: Gott lebt in einer Ampelkoalition mit dem Teufel. Da gibt es allweil viel Tumult, Hass, Krieg und Grausamkeiten, doch letzten Endes sind Gott und sein Knecht durchaus fähig, alle gefährlichen Krisen der Erde in göttliche Harmonie zu verwandeln.

Die apokalyptischen Ängste nahmen wohl in der Moderne ab, besonders in der Aufklärung. Was aber nicht bedeutet, es gäbe sie heute nicht mehr. Sie haben sich nur in kulturelle Fähigkeiten wie Literatur, Musik, Filme oder Philosophie verändert.

„Über 2000 Vertonungen – darunter von W. A. Mozart, Hector Berlioz, Guiseppe Verdi, oder Krzysztof Penderecki – liegen vor. Auch in der Filmmusik fand der Hymnus Eingang, von Heavy oder Death Metal ganz zu schweigen. Bis zur Gegenwart bewahrt er das Muster des Weltuntergangs und der Hoffnung auf ewiges Heil.“

Hier ein Beispiel:

„Nach Luft schnappen, die nicht da ist
Spüren, wie die Quelle des Lebens versiegt
Du betest, indem du langsam zu Gott gleitest
Die Augen treten hervor, während das Gesicht blau wird
Zerquetschte Luftröhre, Schlucken im Blut
Hoffnungslose Gedanken, Atemnot
Verlust des Lebens, erdrosselt
Grabe das Grab, in dem du liegen wirst
Kopftief begraben und dem Sterben überlassen
Körper gelähmt unter dem Sand
Die Flut kommt … Erstickung“
(„Gasping for Air“ von „Autopsy“, in Album „Severed Survival“, 1990)

Die Angst vor dem Weltuntergang wurde Unterhaltung und Ästhetik. Man bewundert die Weltuntergangsästhetik Hollywoods, preist die Schauspieler – und freut sich auf die nächsten Dämonen aus dem Weltall, die die Erde bedrohen und von mutigen Amerikanern in Stücke geschlagen werden.

Mit der Macht künstlicher Bilder kann die rhetorische Kraft der Prediger nicht mithalten. Doch inzwischen haben sich die Bewunderer des Untergangs so satt an Science Fictions gesehen, dass sie eine höhere Gefahrenlage erwarten.

Und an dieser Stelle befinden wir uns, indem wir die ganze Welt virtuell in Schutt und Asche legen.

Aus welcher Zeit stammen folgende Prophezeiungen?

„Das Meer werde die Erde überfluten, Meer und Wasser werden brennen, Blutregen werde auf die Erde herniederprasseln, Beben würden sie aufwühlen, Berge und Tal verschwinden, Wahnsinn werde die Menschheit ergreifen, die Sterne würden vom Himmel fallen, der Weltbrand werde Himmel und Erde vernichten.“

Ist es heute schon so weit? Nicht ganz, Musk & Co arbeiten daran, die alte Erde in ein einziges Lebensrisiko zu verwandeln, damit ihr Ausflug ins Universum realistisch, notwendig und pragmatisch erscheint. Die Intelligenz des Menschen lässt keine Langeweile mehr zu. Kein Tag ohne unerhörte Neuigkeiten in den Fächern Miserabilität und Untergangsszenarien.

Fortschrittler sind perfekte Seelentröster, indem sie der Menschheit predigen: was wollt ihr eigentlich: wie oft wart ihr in höchsten Schwierigkeiten – und habt sie überstanden!? Denkt an die Nazis, an die Atomphysik.

Das eine war grauenhaft, das zweite höchst genial: alles haben wir überstanden, weil Fortschritt alle Gefahren der Geschichte übersteht. Ebenso wird der jetzige Fortschritt die heutigen Krisen mit links bewältigen.

Lasst eure Hoffnung nicht erlahmen, denkt stets daran: das „Goldene Jahrhundert“ steht erst bevor. Der Hoffnungsbringer heißt – Trump. Er wird euch retten und in eine prächtige Zukunft bringen.

Wisset ihr Ungläubigen denn nicht, was euch in Zukunft bevorsteht?

„Gewiss, Himmel und Erde werden vergehen, in einem endzeitliche Feuer vernichtet werden. Doch dann erheben sich ein neuer Himmel und eine neue Erde – für die Gerechten, die Erlösten, die Einwohner der civitas dei, die Heiligen. Sie dürfen in höchster Seligkeit die Qualen der Verworfenen schauen. (Nietzsche hatte sich geweigert, die entsprechenden lateinischen Verse ins Deutsche zu übersetzen – weil sie ihm zu grausam waren).

Die Welt der meisten Menschen war dem endgültigen Untergang geweiht, rettungslos dem ewigen Höllenfeuer ausgeliefert. Das war die Lehre, die das folgende Jahrtausend verkraften musste.“

Inzwischen ist das biblische Amerika emotional stark genug geworden, um die Grausamkeiten und Verheißungen des Christ-Antichrists namens Donald Trump erleben zu können. Hollywood is over. Das nationale Risikospiel muss noch gefährlicher werden.

Doch wenn die drohenden Gefahren für die Menschheit so teuflisch werden: muss man dann nicht sagen: die auserwählte Nation ist faschistisch geworden?

„Damals, vor acht Jahren, hatte man das Gefühl, das Wort „Faschist“ sei zu hysterisch. Historische Vergleiche, vor allem mit den 1930er Jahren und mit dem Nationalsozialismus, beunruhigen viele Menschen – US-Amerikaner*innen, Deutsche, Jüd*innen, aus unterschiedlichen Gründen. Jedenfalls arbeiteten wir hart daran, dem amerikanischen Bewusstsein ein Verständnis davon zu geben, was der Faschismus war, wie er funktioniert, wie er in verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Formen vorkommt und warum wir Amerikaner*innen, genau wie alle anderen, für ihn anfällig waren. Andererseits sieht etwa die Hälfte der US-Amerikaner den Faschismus überhaupt nicht als etwas Schlechtes an. Vor acht Jahren glaubte ich, dass so viele Trump-Anhänger einfach nicht verstanden haben, was passiert ist. Heute habe ich ein viel schlechteres Gefühl: Ich denke, sie verstehen sehr wohl, wer Trump ist und wofür er steht. Und das ist genau das, was sie wollen. Wir können nicht sagen, dass wir Amerikaner nicht verstanden haben, wer er ist: Er hat uns jeden Tag genau gesagt, wer er ist. Heute schäme ich mich dafür, Amerikanerin und Mensch zugleich zu sein.“ (TAZ.de)

Verstehen wir mittlerweilen, was in Amerika, unserer einstigen demokratischen Erzieherin, wirklich geschehen ist?

Wir müssen in kritischer Dankbarkeit erwachsen werden.

Fortsetzung folgt.