Kategorien
Tagesmail

Die ERDE und wir. II

Tagesmail vom 09.08.2024

Die ERDE und wir. II,

Hört, Naturzerstörer, und lasst euch sagen: unsere Glock hat zwölf geschlagen! Zwölf, das ist das Ziel der Zeit! Mensch bedenk die Ewigkeit!

Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm,
Der Regen durchrauschte die Straßen.
Und durch die Glocken und durch den Sturm,
Gellte des Urhorns blasen.
Aufrauschte die Flamme mit aller Kraft
Brach Balken, Bogen und Bande,
Ja, gnade dir Gott, du mephistophelische Räuberschaft
Der Arme stund auf im Lande!

Ziel der Zeit? Ewigkeit? Ach, lasst ab von diesem heiligen Getös.

Gibt es Menschen, die rechtzeitig klug werden?

Woran erkennt man, dass Völker „aufwachen“ und nicht länger den Tiefschlaf der Gehorsamen schlafen?

Wenn des Glöckners Horn unerträglich wird und die Braven ihre schrecklichen Träume nicht länger ertragen.

Aus allen Ecken und Enden der Welt tönen die Signale. Die Straßen füllen sich, die Raffgierigen werden von Furcht und Schrecken getrieben.

Was hat die Weltglock geschlagen? Das Ende?

Die Natur kennt kein Ende, nur die Frommen haben ihr eins verpasst, weil sie die Zeit der Menschen nicht ertragen.

Ende – und Ewigkeit: wie passen diese Ungetüme zusammen? Hätten sie ein Ende, wären sie nicht ewig; wären sie ewig, hätten sie nie ein Ende.

Also, was ist das Allererste und -notwendigste, das wir tun müssen, um unsere Erde zu retten?

Wir müssen Besen und Schaufel nehmen und das Unverträgliche, Widersprüchliche und sich Ausschließende unerbittlich aus dem Haus kehren.

Wir müssen wieder atmen können. Momentan kriegen wir keine Luft mehr, die schwellenden Ausdünstungen unseres Erfindens und Herstellens verstopfen unsere Sinnesorgane.

Hört, ihr Leut, und lasst euch sagen: unsere Glock hat acht geschlagen! Habet acht auf Feuer und das Licht, dass unserer Stadt kein Leids geschicht.

Ach was – Leids. Unser endloser Wohlstand erträgt kein Leid und trägt uns zuverlässig gen Himmel.

Hört, ihr Leut, und lasst euch sagen: unsere Glock hat elf geschlagen! Elf der Jünger blieben treu, einer trieb Verräterei.

Was für ein Unfug mit dem Verräter. Wir alle sind Verräter an Mutter Erde, halten uns für selbstherrliche Imitatoren perfekter Maschinen. Liebe KI, komm und erlöse uns von unserer schrecklichen Beschränktheit. Auf welche Knöpfe müssen wir drücken, damit wir endlich unfehlbar werden?

Hat Deutschland sich nach dem Weltkrieg verändert? Haben seine Propheten des Bösen ihre uralten Plätze am nationalen Altar zurückerobert?

Goethe war ein grimmiger Judenfeind und Freund des Bösen. Heute gibt es Goethegesellschaften in allen Völkern der Erde. Wie bitte, was hast du gesagt?

Ja, du hast richtig gehört, da muss ein Amerikaner daherkommen und uns auf etwas hinweisen, was die Nachkriegsdeutschen vorsichtshalber abgeschafft hatten: auf die Wahrheit.

„Aus Goethe, dem Gegner der Demokratie wurde nach 1945 ein Leuchtturm demokratischer Gesinnung, aus dem verspäteten, lavierenden Nationalisten wurde ein entschiedener Apostel der Völkerverständigung.“ (Wilson, Der Faustische Pakt)

„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“

Mephisto, der ordinäre Teufel, war das Prinzip des deutschen Guten, dessen Fortschritts und triumphalen Endsieges über alle Völker.

Der Teufel war ein Widerspruch in einer Person: Widersacher Gottes und zugleich dessen bester Knecht.

Goethe war nicht der Erfinder dieser Sünde, die Gottes Willen widerspricht und zugleich untertänig entspricht.

Das Prinzip der heiligen Sünde war keine Erfindung der Neuzeit, sondern ein Vermächtnis der christlichen Lehre. Streng genommen beherrscht dieses merkwürdige – dialektische – Ding noch immer die Gegenwart. Fortschritt mag so schrecklich klingen wie er will, wenn er kommt, wird er seine selbstgeschlagenen Sünden wieder heilen.

Warum sind Deutsche so begeisterte Dialektiker? Weil sie den Widerspruch lieben, der sie nach vorne treibt – zum Ende der Heilszeit, wenn sie vor allen Völkern selig gesprochen werden.

Hegel ist der Denker der Deutschen, der keine Angst vor dem Widerspruch hatte, sondern ihn als Prinzip der fortschreitenden Zeit liebte.

„Der Begriff des Bösen ist der Widerspruch selbst.“ „Was in der Welt seit Adam Böses geschehen ist, ist durch gute Gründe gerechtfertigt.“ (Hegel)

Die Griechen hatten den Widerspruch einst zu eliminieren versucht, weil sie nicht einsehen wollten, dass widersprüchliche Aussagen etwas Sinnvolles zustande bringen. Im Gegenteil: wenn sich ein gleichgroßes Plus und Minus gegenüberstanden, ergaben sie zusammen Nullkommanichts.

Das echte Gute in der Welt ist stets widerspruchsfrei. Einen echten Fortschritt erreicht man nur durch Beseitigen undurchdachter Widersprüche. Nur wer undialektisch denkt und handelt, kann sich jener Wahrheit der Verhältnisse nähern, in denen sich der Mensch als Mensch wohlfühlen kann.

Der gelungene und harmonische Mensch ist ein Wesen ohne Widersprüche.

Warum hat die Moderne so viele Probleme, ihre Widersprüche peu a peu auszurotten? Weil sie nicht mehr griechisch, sondern nur noch religiös denken und handeln kann.

Conrad F. Meyer war ein überzeugter Goetheaner und Abendländer mit seinem markanten Spruch:

„Ich bin kein ausgeklügelt Buch.
Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch“. („Huttens letzte Tage“)

Kommen wir zum Schluss, die Menschheit wird nicht böser von Tag zu Tag, sondern frömmer.

Das Logische reduziert die Moderne auf Naturwissenschaften, auf die sie stolz ist. Doch das wirklich nach vorne Treibende sind jene Disziplinen, die morgens dies und abends das genaue Gegenteil sagen.

Weshalb wir sagen müssen: die Moderne ist im Wesen gespalten. Die Natur ist für sie keine vollkommene Einheit, sondern ein ewiger und unerbittlicher Kampf um das Rechthaben – wobei sie gar nicht rechthaben darf. Das Ziel ihres Tuns – die Widerspruchslosigkeit – muss sie in gleichem Augenblick zu erreichen wie zu vermeiden suchen.

Das führt zum ständigen Wirrwarr der politischen Analyse. Warum wird alles immer „rechter“ und chaotischer? Weil die Moderne in einer Ermüdungsphase angekommen ist: sie hat immer weniger Kraft, die rationalen – widerspruchsfreien – Fortschritte der Aufklärung festzuhalten und weiter auszubauen.

Warum? Weil sie das Gefühl der steigenden Sündhaftigkeit empfinden: dürfen sie im demokratischen Streit den Gegner in dessen unerkannten Widersprüchen immer mehr übertrumpfen? Ist das kein Vergehen gegen die Gleichwertigkeit aller Menschen?

Gibt es die Möglichkeit, politische Debatten als mäeutische Gespräche zu führen, also mit dem Versuch, den Gegner zu verstehen und ihn dennoch logisch zu übertrumpfen?

„Auf der Bühne steigen zwei publizistische Schwergewichte in den Ring, es gilt der zwanglose Zwang des besseren Arguments.“ (SPIEGEL.de)

Ist das bessere Argument – wenn es denn von beiden Kontrahenten anerkannt wird – kein Zwang, es als besser und wertvoller anzuerkennen? Wenn das Bessere immer nur als Zwang empfunden wird und nie als Besseres, wären mäeutische Gespräche ausgeschlossen.

Sokrates wäre ein hinterlistiger Rechthaber gewesen, der seine Rechthaberei durch „Hebammentechnik“ vertuschen wollte. Dabei weiß jede Mutter, dass die Geburt ihres Kindes eine Mischung aus schmerzlicher Gewalt und natürlicher Leichtigkeit war.

Kinder kennen noch keine Probleme mit mäeutischen Methoden. Haben sie doch nicht das erwachsene Ich, das sein Andersdenken gegen die überlegene Argumentation der Erwachsenen auf Biegen und Brechen verteidigen muss.

Ist das Rechthaben noch nicht mit Vorteilen verbunden, kann es beliebig verteidigt werden. Jeder kann selbst herausfinden, ob seine Argumente sein Leben verbessern oder verschlechtern.

Ein machtfreies Debattieren kann es in religiösen Dingen nie geben. Denn hier bestimmt der allwissende Gott, der Selbstdenken als Sünde betrachtet. In religiösen Disputen gibt es nur Streit zwischen autoritären Kommentatoren der Heiligen Schrift.

Sind diese Schriftausleger gleich mächtig, gibt es keine Möglichkeit, den Streit durch Macht zu schlichten. Sind sie es nicht, müssen endlose Schriften geschrieben und gelesen werden, um ein theokratisch reguliertes Ende herbeizuzwingen.

Moderne Demokratien haben noch ein zusätzliches Problem: sie betrachten sich nicht als Früchte logischer Widerspruchsfreiheit, sondern als Früchte von widersprüchlichen Aussagen eines allmächtigen Gottes.

Historisch ist das falsch, weshalb es notwendig wäre, zuerst mal die Herkunft der Demokratie festzustellen. Nicht die Dialektik eines aus Gott und Teufel bestehenden „Übergottes“ bestimmt die Regeln eines Disputs, sondern überhaupt keine personelle Unfehlbarkeitsinstanz: es gelten ausschließlich die Gesetze der Logik, die gleichermaßen für alle gültig sind.

Im Streit der Moderne sind diese Punkte ungeklärt und müssten zuvor grundlegend beseitigt werden. Das aber trifft auf den Widerstand der beteiligten Erlöserreligionen.

Religiöse Grundsatzprobleme gibt es nicht nur in Europa, sondern auch im einst besonders frommen Amerika.

Auf der einen Seite dominieren universale Prinzipien der weltbürgerlichen Gleichheit wie in der Stoa, auf der anderen Seite aber die Erwähltheitsdoktrin einer von Gott erwählten Lieblingsnation.

Das klingt etwa so: wir vertreten, besonders in der von uns gegründeten UNO, das unverletzbare Prinzip der Gleichheit aller Völker, gleichzeitig aber ist unser Land die Heimat einer von Gott besonders geliebten Nation. Also müssen wir situativ bestimmen, welche universellen Gesetze gelten oder nicht.

Das amerikanische Grundmodell ähnelt dem jüdischen: mögen die Staaten der Welt noch so gleichberechtigt sein mit allen anderen: der Status ihrer himmlischen Bevorzugung begründet ihre partikulare Überlegenheit. Durch ihre Religion übertrumpfen sie alle „heidnischen“ Nationen.

Universalismus und Partikularismus, Gleichberechtigung und Auserwähltheit schließen einander aus – nur nicht in religiösen Staaten des Westens. Für logisch denkende „heidnische“ Staaten ist der Widerspruch zwischen universeller und partikularer Ethik eine schreiende Bigotterie. Für die erwählten Staaten nicht, denn der Widerspruch zwischen den verschiedenen Logiken ist ihnen selten bewusst.

Bislang war amerikanische Politik ein radikaler Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel. Dieser unversöhnliche Graben hat das politische Weltklima in hohem Maß unerträglich gemacht.

Doch plötzlich hat sich ein kleines Wunder ereignet: der klaffende Widerspruch zwischen Gut und Böse hat sich über Nacht erniedrigt zu einem Widerspruch zwischen Gut und Weird, also Gut und Seltsam. Dieser Widerspruch ist nicht klaftertief, sondern ist mit gutem Willen überbrückbar.

„In den vergangenen Wochen war eine regelrechte »Weird«-Kampagne gegen Donald Trump und die Republikaner ins Rollen geraten. Losgetreten wurde diese von niemand anderem als Tim Walz. In einem Interview bezeichnete er Trump als »weird«, auf Deutsch etwa komisch oder merkwürdig.“ (SPIEGEL.de)

Damit wäre der scheußliche Mephisto besiegt und der Kampf gegen ihn wäre ein Konflikt mit dem Komischen. Der Graben zwischen den Parteien wäre nicht unüberbrückbar, sondern bei gutem Willen zu überwinden.

Trump hat das Faß des Bösen überlaufen lassen. Seine Herausforderer sind dabei, lachenden Angesichts die alten bewährten Eigenschaften der Demokratie wiederzubeleben.

Damit hätte sich ein außerordentlicher Epochenwechsel ereignet. Nicht mehr der unfehlbare biblische Gott mit seinem unfehlbar bösen Teufel hätten das Sagen, sondern die immer logischer werdenden griechischen Diskursparteien würden Einzug halten in Washington.

Amerika hätte bewiesen, dass es nicht mehr doktrinär und unveränderlich ist, sondern dass es sich immer mehr von rationalen Prinzipien bewegen lässt. Die Macht der Religion schwindet, die Macht der Aufklärung erweitert sich.

Das trübsinnige Deutschland hingegen verharrt lethargisch in seiner Unfähigkeit, die Gegenwart wahrzunehmen, zu verstehen und in vitale Politik zu verwandeln. Der Westen driftet immer weiter auseinander.

Fortsetzung folgt.