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Welt retten! Aber subito! XCV

Tagesmail vom 07.07.2023

Welt retten! Aber subito! XCV,

Suizid heißt Selbst-Mord.

Die Deutschen – ohne Angst vor dem kollektiven Untergang, geschützt durch Mauern des Wohlstands – debattieren den Mord an sich selbst.

Nein, nicht die Deutschen debattieren, sondern allein ihre Mächtigen. Sie selbst bleiben merkwürdig stumm:  kein Thema für eine Nation mit abendländischen Wurzeln.

Tod ist der Sünde Sold. Ein Gottessohn muss kommen, um den Tod zu besiegen. Wer dürfte sich da für einen freiwilligen Tod entscheiden, wenn die Gottheit selbst ihr Leben einsetzen muss, um jenen zu überwinden?

Seit Christus gilt: die Macht des Todes ist überwunden. Dies muss ein Christenvolk der Welt bezeugen.
Durch Sünde wird Leben zum Tod, der Tod durch die Heilstat Christi zum Leben. Die Frommen erwachen zu ewigem Leben, den Ungläubigen droht nach der Apokalypse ein zweiter Tod, der ihr Dasein vor Gott auslöscht; die ewige Verdammnis.

Für Kirchenvater Augustin ist Selbsttötung wie Mord, da sie gegen das Tötungsverbot verstößt wie etwa die Tötung eines andern. Befiehlt Gott allerdings die Selbsttötung, ist sie natürlich erlaubt. Doppelmoral wird zum heiligen Signum des Abendlands.

Befiehlt Gott selbst die Doppelmoral, ist sie abgesegnet, befiehlt sie ein gottloser Tyrann, ist sie doppelte Moral – die Ergänzung der doppelten Wahrheit am Ausgang des Mittelalters.

Die Moderne erwuchs auf den Grundlagen der doppelten Moral und der doppelten Wahrheit – für die Ungläubigen: und der dennoch einigen Wahrheit und der einigen Moral, die nur durch Glauben erkennbar ist – für die Frommen.

Im heutigen Dauerprotest gegen Moral schlummert noch immer ein Körnchen Protest gegen die einstige Spaltung der abendländischen Moral in Moral Gottes und Moral der heidnischen Welt.

„Credo, quia absurdum“ ist die Protestformel der Gläubigen gegen die Einheit der heidnischen Logik. Was müsste man denn glauben, wenn es problemlos logisch erkennbar wäre?

Hegels Dialektik vollbringt das Kunststück, doppelte Wahrheit und doppelte Moral durch Versöhnung des Unversöhnbaren zur Einheit zu bringen. An Hegels logischen Versöhnungsformeln hängt die Verklammerung der zwei Welten: der doppelten Welt des alogischen Glaubens – und der Eindeutigkeit des logischen Denkens.

Die doppelte Moral gehört zum Standard der westlichen Welt, die sich einerseits  der heidnisch geprägten Demokratie verpflichtet fühlt, andererseits ganz selbstverständlich dem widerlogischen Standard der doppelten Moral.

So erleben wir den doppelten Ruf an die nichtchristliche Welt, einerseits eine menschheitsverbindende eindeutige Moral zu predigen, andererseits aber – ohne es klar und deutlich auszusprechen – die Möglichkeit, diese Eindeutigkeit nach Belieben zu unterlaufen: was man predigt, muss man nicht unbedingt tun.

Das lässt sich an vielen Beispielen der amerikanischen Außenpolitik beweisen, weshalb in der nichtchristlichen Welt der Westen zum Inbegriff der doppelten Moral geworden ist.

Dieser offene Verstoß gegen die humane Ethik der UNO-Charta wurde zum verschwiegensten Geheimnis der Politik des Westens.
Russland ist auch eine christliche Nation, allerdings sind die Besonderheiten der schon lange vom Westen getrennten ultraorthodoxen Kirche dem Westen kaum bekannt, weshalb Putins doppelte Moral den westlichen Politikern wie ein Rätsel erscheint.

Die Moral der UNO-Charta ist die generelle Menschenliebe der Spätantike – die inzwischen vom Westen als Frucht des Christentums bezeichnet wird: eine historische Fälschung. Die Menschheitsliebe des Erlösers ergeht zwar an alle Menschen, gilt aber nicht für alle: viele sind berufen, wenige sind auserwählt.

Im Prinzip gilt im Westen: du sollst nicht töten, auch dich nicht. Abeer … wenn Gottes Befehl ergeht: tötet die Heiden, um meinen Willen zu erfüllen, dann ist der kategorisch klingende Imperativ des Dekalogs gestorben. Töten als Gottes Befehl ist so unerbittlich wie das Gegenteil in den  Zehn Geboten.

Da die Frommen keine heidnische Logik anerkennen, empfinden sie die doppelte Moral der göttlichen Anrede nicht mehr.
Du sollst nicht töten, auch dich nicht, das ist der Geist des gegenwärtigen deutschen Rechts – von unklaren Ausnahmen abgesehen.

Besitzt  der deutsche „Staat“ überhaupt das  Recht, sich in das Leben und Sterben seiner „Untertanen“ einzumischen? Gehört es nicht zur unantastbaren Würde des Menschen, über seine persönlichen Dinge ganz allein zu bestimmen? Kommt das deutsche Recht nicht in der angemaßten Kutte eines fast-göttlichen Rechts daher?

Während die Deutschen sich anmaßen, in den stetig anwachsenden Klimagefahren  unterzugehen – wir könnten von kollektiver Selbstauslöschung sprechen -, wird dem Einzelnen kaum gestattet, selbst Hand an sich zu legen.

Widerspruch? Na klar, wie viele andere Widersprüche dieser Art in einem Land der doppelten Wahrheit. Wer seinen Sinn für logische Eindeutigkeit seit der Kita ablegen musste, der kann ihn nicht mehr haben, wenn er in die Politik der Erwachsenen hineingerät.

Das nationale Kollektiv darf – oder sollen wir sagen: es muss? –, der Einzelne hingegen darf auf keinen Fall sein Leben aufs Spiel setzen?
Der freiwillige Tod ist den Deutschen nicht unbekannt: „Stirb zur rechten Zeit!“, blaffte ein Pastorensohn die Deutschen an.

„Die rechte Zeit für eine kollektive Selbstvernichtung der gesamten Menschheit zum Zwecke einer allgemeinen Welterlösung zu ermitteln, macht sich E. von Hartmann zur Aufgabe.“

Kann es sein, dass die abendländische Bevölkerung schon seit längerem, zuerst unterschwellig, dann immer offener, an kollektiven Selbstauslöschungsbedürfnissen leidet? Unter Masken der Literatur, Kunst und Philosophie?

Setzen die Auswanderungsbedürfnisse der Suprareichen auf den Mars nicht voraus, dass die Menschheit auf Erden es nicht mehr lange schaffen wird und das Leben auf Erden bedroht ist?

Könnte der Unernst der Menschheit, ihre anschwellenden Klimaprobleme zu lösen, damit zusammengehören, dass sie es jetzt darauf ankommen lassen?

Zumindest bei den Deutschen, die derart in ihrem Überfluss schwimmen, dass sie sich eine andere Art des Lebens  gar nicht mehr vorstellen können? Haben sie nicht die selbstverschuldete Katastrophe des Dritten Reichs einigermaßen überstanden, warum sollten sie nicht Kinkerlitzchen wie die Müllverschmutzung der Erde überstehen?

Der französische Soziologe E. Durkheim hat ein bedeutendes Buch über den Suizid geschrieben:
„Nun ist der …der Suizid… eine jener Formen, in denen sich die kollektive Krankheit ausdrückt, an der wir leiden: er wird uns daher helfen, sie zu verstehen.“

Waren die beiden Weltkriege nicht gewaltige Mittel, um die Wunde unserer untergründigen Untergangsängste mit Feuer und Schwert auszutilgen? Obgleich der Westen seit Jahrhunderten nichts anderes tut, als den Fortschritt auf Kosten der Natur zu organisieren, kommt niemand auf die Idee, diese Fremdbeschädigung als Kehrseite einer kollektiven Selbstbeschädigung zu betrachten. Entleiben wir uns selbst, wenn wir die Natur entleiben?

Eine Krankheit, an der wir leiden? – fragt Durkheim? Solche Fragen gibt es heute nicht mehr. Es gibt nur noch individuell Leidende, die man isoliert behandeln sollte, damit die Menschheit davon kommen kann.

„In einem Gespräch können Fachleute erkennen, ob ein Mensch psychisch krank ist. Freudlosigkeit, eine gedrückte Stimmung, aber auch Schlafstörungen oder Appetitlosigkeit können für eine Depression sprechen, wenn die Symptome über einen längeren Zeitraum anhalten. Mit systematisch aufeinander aufbauenden Fragen tasten Experten ab, wann die Symptome eingesetzt haben, wie lange sie anhalten, ob es einen Auslöser gab, nach dem sie losgingen.“ (SPIEGEL.de)

Moderne Psychoanalytiker kennen nur Einzelfälle, kollektive Erkrankungen halten sie für Illusionen. Dass  Individualkranke nichts anderes sind als Früchte eines Kollektivs, solche politischen Einschätzungen sind Einzeltherapeuten kaum vermittelbar.
Fromm war die Ausnahme unter den Freudianern, der auch weltpolitisch denken konnte. Freud hingegen hielt nichts von Politik.

Dass Einzel- und Kollektiv-Therapie sich nicht ausschließen, das sollte sich inzwischen ökologisch herumgesprochen haben. Die einzelne Pflanze ist Frucht der Natur wie Natur die Frucht aller Einzelpflanzen: das weiß jeder Gärtner.

Weil das Individuum zur Krone der Gattung erklärt wurde, ernannte der Neoliberalismus nach demselben Gesetz die wenigen Superstarken zu Alleinherrschern der Weltwirtschaft.

Weg von der Masse, hin zu den Unvergleichlichen: das soll das Gesetz der Evolution sein. Dann könnten wir uns auch die Demokratie, die „Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit“  (ohne die letzteren total zu übergehen) ersparen.

Warum sollte man einzelne Gefährdete mit Hilfe des Gesetzes überwachen? Das Volk als Ganzes aber muss die wachsenden Schäden des Klimas freiwillig auf sich nehmen?

Gefährdete Jugendliche sollten mit Hilfe der Polizei aufgespürt und unter Androhung von Strafen gerettet werden? Abwegig!
Natürlich sollte man sich in einer Gesellschaft um jeden Einzelnen kümmern – durch intakte Familien und Nachbarschaften. Das wäre eine Individualtherapie, die zugleich eine Sozialtherapie wäre.

Da der Kapitalismus nichts Besseres zu tun hat, als die Familien voneinander zu lösen, darf er sich nicht wundern, dass die Abgesprengten sich vereinzeln und innerlich isolieren. Jeder für sich, Gott gegen alle.

Wer sich unter heftigem Streit von seiner Familie losreißt, hat kaum Chancen, sich psychisch gesund von ihr zu trennen. Innerlich wird er unter dem Verlust seiner Ex-Lieben mehr leiden, als wenn er noch mitten unter ihnen wäre.

Der herrschende Neoliberalismus kennt nur Wirtschaft und wirtschaftliche Vorgänge mit Profitaussichten. Einzelne Individuen außerhalb von Money und Erfolg sind ihm unbekannt. Als ob Menschen nur Individuen  mitten unter kollektiven Umständen sein könnten. Gewiss, das sind sie auch, aber nicht nur: sie können auch Außenseiter und Eremiten sein.

Noch verheerender ist der Anspruch von Hayek, keine Vernunft zu benötigen beim Vermehren seines Kapitals. Alles ist Zeit und Zufall, sagte er beim Zitieren eines alttestamentlichen Worts.

Unsere Gesellschaft ist krank und benötigt eine tiefschürfende Gesamttherapie der Einzelnen und des Ganzen.

„Die Ideen der Aufklärung lehrten den Menschen, dass er seiner eigenen Vernunft vertrauen und dass diese ihm bei der Aufstellung gültiger ethischer Normen Führer sein könne. Er konnte sich auf sich selbst verlassen. Um zu wissen, was gut und böse war, bedurfte er keiner Offenbarung und keiner kirchlichen Autorität. (Auch keiner wirtschaftlichen, die den Platz der Priester übernommen hat). Der wachsende Zweifel an der menschlichen Vernunft und Autonomie schuf jedoch einen Zustand moralischer Verworrenheit. Ohne Werte und Normen kann der Mensch nicht mehr leben und wird zur Beute der Systeme, die sich auf irrationale Werte gründen.“ (Fromm, Psychoanalyse und Ethik)

Über all diese Punkte, über die man einst heftig stritt, wird heute mit keinem Wort gesprochen. Die Politik ist verstummt und streitet nur noch über Heizungsgesetze. Das Große und Ganze wird verkommen lassen. Dann wundern sie sich, wenn die Verwirrung der Einzelheiten ihnen die Hälse zudreht.

Je mehr die Menschen gefordert werden, sich an der Gesamttherapie der Gesellschaft zu beteiligen, desto weniger werden sie individuell krank. Krank sein heißt abgetrennt sein vom Gesamtleben der Gesellschaft.

Die Gefahren des Selbst-Mords werden umso geringer, je mehr jeder Einzelne sich als  wichtiges und notwendiges Mitglied der Gesellschaft fühlen kann.

Über wirklich individuelle Sorgen, die dem Einzelnen das Gefühl geben, er müsse seinem Leben ein Ende bereiten – kann nur er selbst entscheiden. Kein Priester und kein Experte. Menschen müssen als autonome Wesen akzeptiert werden.

„Das Recht, selbst sein Leben zu beenden, entspricht dem sittlichen Empfinden der Hellenen. Wohlerwogener Freitod ist ihr sittliches Recht. Auf der Unabhängigkeit von der Außenwelt beruht ihre innere Freiheit. Der Mensch ist frei, gleichviel wie seine äußere Lebenslage ist. Er kennt den Weltlauf und will nur, was er kann. Darum kann er auch, was er will.“  (Max Pohlenz, Die Stoa)

Autonomie lernt man nur, wenn man autonom lernen kann. Stürzt die defekten Schulen und lasst die Kinder frei ihr Leben gestalten. Das wäre das beste Mittel zur vorbeugenden Therapie gegen irrationale Selbsttötung.  

(Fortsetzung folgt)