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TV-Gemeinde

Hello, Freunde des Bürgertums,

es gibt bürgerliche Familien, die sich der Ehrlichkeit und Gradlinigkeit verpflichtet fühlen, als aufstiegsorientierte Mittelschicht aber den Höflichkeits- und Verschlagenheitsregeln der Gesellschaft nicht entsagen können. Höflichkeit muss nicht in allen Fällen gesellschaftlich anerkannte Lüge sein  gelegentlich erspart sie spontanes Lynchen , aber ohne dosierte Kunst der Verstellung geht es nicht. Man kann nicht immer schonungslos die Wahrheit aussprechen.

Und doch juckt es die Ehrlichen und Aufrechten, das anerkannte Maß an Schummeln und Schleimen zu reduzieren und die Sphären bedingungsloser Wahrhaftigkeit zu erweitern. Wie lösen zwiegespaltene Bürger ihren inneren Konflikt? Indem sie sich Kinder anschaffen.

Kinder schmettern beim nächsten Clantreffen: was ist das für eine komische Tante, Mami? Die trägt eine schwarz-rot-goldene Kette, guckt mich nie an und will kein Geld geben für unsere Kita, damit wir uns eine neue Schaukel anschaffen können, denn die alte ist schon lange futschikato, weil der blöde Sven immer zu wild schaukelt. Was ist überhaupt eine Kanzlerin, Papi? Steht die auf der Kanzel wie unser Religionslehrer und spricht von Hölle und Teufeln?
Die Eltern tun ein wenig peinlich berührt, versuchen das Kind unauffällig abzulenken  und sind doch stolz auf ihren kleinen Wahrheitspropheten, den sie zu Hause hochleben lassen. Nicht ohne den Zusatz: das nächste Mal flüsterst du uns das aber ins Ohr, du kesse Motte.

Kindermund tut Wahrheit kund. Diese Rolle im deutschen TV-Salon spielt gerade Klein-Stefan Raab, der nur einmal Scheiße in die hohe Runde rufen muss und

die verdruckste Journaille jauchzt vor Vergnügen. Wie marode muss die ganze Mischpoke sein, dass ein einziger Rawau-Charismatiker genügt und die Vierte Gewalt ist an Haupt und Gliedern rehabilitiert?

Ohnehin ist die Machart der Sendung ein ranziger Kompromiss der Parteien mit willfährigen TV-Kanälen. Die Parteien schreiben den Medien vor, wie eine exemplarische Disputation auszusehen hat. Dafür dürfen die Kanäle Horden an Gesprächs-Mäßigern einfliegen, die an einer echten Disputation nicht die Bohne interessiert sind und sich in bürgerlicher Frechheit überbieten dürfen, um die Duellanten zum Jagen zu tragen.

Das war eine Double-Bind-Situation. Die Parteien wollten den Klamauk ins Korsett stecken, die Kanäle wollten angeblich das genaue Gegenteil. Angeblich deshalb, weil sie im Ernstfall die Gouvernanten der Republik spielen. Das ist ihre Paraderolle. Hübsch gesittet bleiben im demokratischen Salon, den vor allem wir Medien aufgebaut haben.

Weder Parteien noch Medien haben die geringsten Vorstellungen, was ein Gespräch ist. Selbst Amerikaner wissen mehr davon, haben nur einen Moderator, der sich im Zweifel zurückhält und die Matadore streiten lässt, die sich Auge in Auge gegenüberstehen. Immer nach dem Motto: Blamiere jeder sich, so gut er kann.

Im Land der Denker werden die Kandidaten vor den Unberechenbarkeiten eines lebendigen Gesprächs geschützt. Um dies zu verbergen, müssen die Mäßiger tun, als wollten sie die Fighter zum Kampf anstacheln. Ein abgekartetes Spiel zwischen Politeliten und Vermittlern.

Die Parteien sind an Dekonstruktion nicht interessiert. Der Vierten Gewalt haben sie ihre Vorstellungen über Streiten auf dem Marktplatz aufgezwungen. Parteien haben die Medien voll im Griff. Sie tun, als sei das ihr Wahlkampf, als seien die Kandidaten ihre Kandidaten, die sie meistbietend und unter größten Vorsichtsmaßnahmen ans Wählervolk bringen müssen. Vorsicht: zerbrechlich, so müsste die von Werbepsychologen konzipierte Prozedur heißen.

Parteien beherrschen das Land. Die Medien lassen sie gewähren, um gelegentliche Blicke hinter die Kulissen zu erhaschen.

Das Duell war ein Ringkampf mit gefesselten Athleten, die unter Baldrian standen. Raab war die Kinderrolle zugedacht, die durch schonungslose Wahrheit den Täuschungscharakter der ganzen Veranstaltung verheimlichen und beglaubigen sollte. Er merkte gar nicht, dass er der Hofnarr vom Dienst war. Er trat als Erfolgstitan und unabhängiger Geist an und tat, als spiele er den advocatus diaboli. Dabei warb er nur für die Große Koalition. Seine subkutane Botschaft lautete: vertragt euch, Kinder. Ihr mögt euch doch alle. Macht wieder eine Große Koalition, in Notzeiten muss das Vaterland zusammenstehen.

Raab hat selbst erfolgreich die Große Koalition unter den Kanälen eingeführt. Im Song-Contest waren private und öffentlich-rechtliche Sender friedlich vereinigt. Der unerbittliche Fighter wird die zerklüftete Nation noch zusammenführen und versöhnen. Von diesem finalen Sieg träumt der Dauersieger. Raab for President.

Die deutsche Gesellschaft, in den 68ern in Bourgeoisie und Proletariat, Gesellschaft und Staat, gespalten, hat sich in ihrer öffentlichen Präsentation  einer Mixtur aus TV und Politprominenz  auf den Typus „aufstiegsorientierte Mittelschicht“ geeinigt. Die Kanäle offenbaren ihre bevorzugte Gesellschaftsschicht am Wochenende, wenn die immer gleichen Sympathieträger, rotierend von Sender zu Sender, die Quizmaster, Befragte, Dauerclowns, Blödelheinis, Juxkanonen und Comedians spielen. Die TV-Kanäle werden zum Wohnzimmer der gehobenen Mittelschicht, in dem nach Goethes Devise: saure Wochen, frohe Feste, die coole Großfamilie Unterhaltung mit Wissensbeilage exekutiert.

Wir sind alle eine Große Familie, ein einig Volk von Brüdern. Frohsinn bis zum Erbrechen oder bis der Arzt kommt, wenn er nicht ohnehin präsent ist und auf den adligen Namen von Hirschhausen hört. Das Volk soll angesteckt werden von störresistentem Frohsinn, Marke Barbara Schöneberger oder Jörg Pilawa, der das saturierte Gesicht eines geborenen Quizmasters vor sich her trägt wie eine Monstranz. Ein ausgebranntes Volk soll sich am Wochenende regenerieren und sich fit machen für die nächsten Runden im Existenzkampf Mensch gegen Mensch, Nation gegen Nation.

Von wenigen Alibisendungen der seriösen Art gleich am harten Montag im Spätprogramm abgesehen, sind alle Kanäle, nicht nur die privaten, zu Unterhaltungssendungen degeneriert. Nichts gegen Unterhaltung, nichts gegen Spiele. Erst im Spiel ist der Mensch ganz Mensch, gell, Friedrich Schiller? Gewiss. Doch bestimmt nicht im passiven Zugucken von Spielen, sondern im selber Spielen.

TV wird zum Geselligkeitsersatz, zum Spieleersatz, zum Erosersatz, zum Freundschaftsersatz, zum Gemeinschaftsersatz. Jeder sitzt in seiner allseits isolierten Monade und fühlt sich dennoch als integriertes Mitglied eines Ganzen. Das Ganze ist die Illusion, die der Kapitalismus benötigt, damit jeder Malocher am Montagmorgen seinen vaterländischen Pflichten nachkommt.

Heike Göbel von der FAZ macht sich immer Sorgen, dass Väterchen Staat sich beim leichtsinnigen Verteilen des schwer erarbeiteten Wohlstands an die verwöhnten Bälger übernimmt:

„Wieso hat sich im TV-Duell eigentlich niemand für die Wirtschaft und ihr Wohlergehen interessiert? Schließlich muss das viele Geld, das die Parteien umverteilen wollen, erst einmal erwirtschaftet werden.“

Wirtschaft ist für Frau Göbel allein das Werteschaffen der Wirtschaftsbosse. Kleinvieh macht in ihrem besorgten Mütterchen-Weltbild nicht mal Mist. Den Bonzen frisst es nur die Haare vom Kopf.

(Für Interessierte: heute abend kommt in ARTE ein Bericht über eines der neoliberalsten Länder der Welt: Chile. Friedrich von Hayek, Milton Friedman, unter freundlicher Assistenz der amerikanischen CIA, haben das sozialistische Allende-Land ins pure Gegenteil verwandelt. Alles privatisiert: Vom Wasser bis zu den Schulen. Hier wird ein Land zur Minna gemacht, ganz im Gegensatz zu anderen linken Völkern Südamerikas.  (Eva Völpel in der TAZ)

Was haben Franz Müntefering und Stefan Raab gemeinsam  außer ihrer innigen katholischen Gläubigkeit? Richtig, sie kennen keine Klassenkämpfe mehr, denn sie kennen keine Klassen. Sei es in der versöhnten Realität, sei es in der versöhnten Medienwelt, kämpft der Generaldirektor neben der Aldiverkäuferin gegen Mannschaften aus Holland und Österreich. Hier sind Deutsche wieder zum Volk vereint.

Ein Volk, eine Unterhaltung, ein Stefan Raab, der alle Chancen hat, zum binnendeutschen Obama zu werden, wenn er sich entscheiden sollte, mit seinem Urmotto: Keiner schlägt den Raab, in die Politik zu gehen. Das Motto ist die Übersetzung des Yes, we can, des ersten schwarzen Präsidenten in Washington.
Raab ist die leibgewordene Übersetzung des neoliberalen Prinzips: jeder kann es schaffen. Jeder kann nach oben kommen, wenn er nur will. Alles hängt vom unerschütterlichen Willen des Individuums ab. Was tun jene, die Gott nicht ausreichend mit eisernem Willen versorgte?

Im Fernsehen ist die zerklüftete moderne Gesellschaft, die Atomisierung der Einzelnen, die Isolierung der Alleinerziehenden, auf wunderbare telekinetische Art geheilt. Hier, nicht in dumpfen Kirchen, ist die Gemeinde Christi und des Mammons zusammengewachsen. Samstagabends das Wort zum Sonntag, sonntags diverse lustige Gottesdienste  mit Ranga Yogeshwar oder anderen Quantenphysikern  dann kann in der folgenden Woche nichts mehr passieren.
Denn wie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, eine TV-Gemeinde bildet, so ist es mit Christus. Wir Deutsche sind zu einem mystischen Publikum getauft und zusammengeschweißt worden. Ob Öffentlich-Rechtliche oder Private, ob Fußball- oder Tierliebhaber, ob Türken oder Kosovaren, ob Werteschöpfer oder Wertevernichter: alle sind wir mit einem Geist getränkt. Wenn der Knetebezieher sagt: weil ich nicht Häuslebesitzer bin, gehöre ich nicht zu den Schwaben, so gehört er dennoch zu den schwäbischen Häuslebesitzern. Und wenn der Habenichts sagt: weil ich keine Aktien besitze, gehöre ich nicht zum edlen Kreis der Aktienbesitzer, so gehört er doch zu den Aktienbesitzern. Der Aktienbesitzer kann nicht zum Hartz4ler sagen: Ich bedarf deiner nicht. Gott hat die deutsche Gemeinde so zusammengefügt, dass er dem benachteiligten Glied desto größere Ehre gab, damit keine Spaltung in der Gesellschaft wäre.“

Nein, die TV-Kanäle machen keinen Unterschied zwischen Oben und Unten  solange alle ihre TV-Steuern zahlen. Zahlen sie nicht, wird den Schurken der Strom abgestellt und sie können im Dunkeln zur Ruhe kommen.
Vor der Glotze und vor Gott sind alle Menschen gleich. Anders kann man nicht erklären, warum im Fernsehen diejenigen die größten Unterhaltungskanonen sind, die einst die heilige Messe ministrierten. Heute tun Jauch und Gottschalk just das, was sie in ihrer Jugend taten: sie zelebrieren das Sakrament der Gemeinschaft im Geist einheitlicher Berieselung. Es ist eine Predigt mit weltlichen Mitteln, die von Gott genehmigt wurden, den Mitteln der Belustigung und unterhaltsamer Erbauung.

Das Fernsehen sorgt dafür, dass es keine Klassenkämpfe mehr gibt, indem es prophylaktisch alle Klassen abschafft. Unter der Woche kann es schon noch passieren, dass die Privaten den Trash live aus Namibia übertragen, wo leichtbekleidete A3-VIPs den Eingeborenen das Gruseln vor der westlichen Moderne beibringen  wofür sie geehrt werden sollten , am Wochenende aber sind alle Ober- und Unterschichten wieder vereinigt im geistbegabten Entertainment. „Hier gibt’s kein Jude, kein Grieche, kein Sklave, kein Freier. Alle sind mit einem Geist getränkt worden.“
„Ihr kennt mich“, wagt die unbekannteste Frau der Republik den Wählern zuzurufen, um ihre familiäre Vertrautheit zu suggerieren.

Unterhalten ist kein Kinderspiel, es muss nur so wirken. Unterhalten ist härteste Arbeit, wie überhaupt man sagen muss, dass Arbeit und Unterhaltung nur verschiedene Seiten des Lebens sind. In der WELT ist der Artikel eines Philosophen erschienen, der das Gerede von Burnout nicht mehr hören kann. Der Schreiber liebt seine Arbeit so innig, dass er sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen kann.

„Meine Arbeit fordert mich heraus. Sie erweitert meine Fähigkeiten, sie führt mich an meine Grenzen. Der Job bringt mich mit interessanten Menschen zusammen, die ich sonst nie kennenlernen würde. Meine Arbeit bildet mich, sie formt meinen Charakter, meine Persönlichkeit. Sie macht mich zu dem, der ich bin.“
Eine Trennung von Arbeit und Leben gibt es gar nicht. Arbeit macht Spass und Spass soll das ganze Leben erfüllen.

„Ein Leben, eine Welt ohne Arbeit ist nichts, was wir wünschen sollten. Es wäre eine langweilige Welt, reich an verfügbarer Zeit, doch arm an Herausforderungen. Mir graut vor einer Gesellschaft, in der die Menschen vor lauter Zeit nicht wissen, wo sie hinsollen mit ihrem Leben. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft von Müßiggängern leben, in der jeder nur das tut, wonach ihm der Sinn steht. Wer von einer Welt ohne Arbeit schwärmt, der muss erst einmal erklären, was die Menschen dann mit ihrer Zeit anfangen werden.“  (Thomas Vašek in der WELT)

Solch leichtsinnige Auffassungen von Leben und Arbeit als rauschende Symbiose wären ohne die Vorarbeiten des Fernsehens nicht denkbar. Wer sich abrackert, ist selbst dran schuld. Würde er doch einen modischen Kurs in der VHS belegen, wo er sich suggestiv beibringen kann, dass alles Spiel und Spaß sein kann. „Das ganze Leben ist ein Spiel und wir sind Kandidaten“, singt Raabs Bruder im Geist Hape Kerkeling. Den Spaßvögeln und dem Schreiber scheint der paulinische Satz unbekannt: wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.

Nach biblischer Tradition ist harte Arbeit im Schweiß des Angesichts die Frucht der Sünde. Doch Bibel und Christentum scheinen dem Philosophen unbekannt. Weg mit protestantischem Malocherethos, sprach Thomas Vašek aus Wien  und der protestantische Muffelgeist war verschwunden.
Herr Vašek scheint ein glückliches Temperament zu besitzen. Lange kann es nicht dauern und er wird in RTL eine Talkshow für die heitere Einheit von Leben & Arbeit erhalten.
Muße und Müßiggang sind für ihn grauenhaft. Immer diese schrecklichen Stunden mit Frau und Kind, in denen man sich überlegen muss, wie man den Spaßbremsen ständig Neues bieten muss.

Doch seltsam, dass der Verfasser überhaupt nicht über Arbeit schreibt. Sondern allein über Muße. Muße ist  bei Aristoteles nachzulesen  jene selbstbestimmte Betätigung, die den Menschen restlos erfüllt. Aristoteles vollbrachte das Kunststück, in bloßer Muße eines der größten wissenschaftlichen Werke der gesamten Menschheit zu verfassen.
So leid es uns tut: Herr Vašek arbeitet nicht. Er tut, was er verabscheut. Er führt ein lustvolles Leben in selbstbestimmter Muße.

Man sollte nicht glauben, dass der Artikel von einem Philosophen stammt. Vermutlich ist der Name des Schreibers das Pseudonym für Stefan Raab.