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Erweckung

Hello, Freunde der Erweckung,

Religionen sind Krisengeschöpfe, kollektive Tröstungsbewegungen zur Linderung von übermäßiger Not und unfassbarem Elend, wenn alltägliche und bewährte Problemlösungsmethoden wie Erfahrung und Vernunft zu versagen scheinen.

Wenn das Bekannte und Bewährte überfordert ist, müssen die Menschen zum Außergewöhnlichen und Übernatürlichen greifen.

Der Mensch hat das Recht, getröstet zu werden. Doch wer soll ihn trösten, wenn er sich nicht selbst trösten kann? Er ist gezwungen, einen Über-Menschen zu erfinden, der ihn an Macht und Wissen überragt.

Zuerst ist Gott übernatürlicher Führer der Sippe, des Volkes, der Nation. Ist er als partieller Gott noch immer unfähig, die Leiden seiner Schützlinge zu lindern und das Böse zu verhindern, muss er zum allmächtigen Gott aller Völker und der gesamten Menschheit erweitert werden.

Gott wächst und wächst, der Mensch schrumpft. Zuerst zu einem Geschöpf, das von seinem Schöpfer aus Dreck geschaffen wurde – und nicht von der minderwertigen Natur oder anderen außergöttlichen Instanzen. Dann zum sündigen und bösen Menschen, der seinen Schöpfer nicht anerkennt, weshalb dieser ihn nicht retten kann und vernichten muss. Gott muss schuldlos bleiben, wie könnte er sonst allmächtig und allwissend sein?

Ist Gott als Allmächtiger ebenfalls nicht imstande, dem Unheil zu steuern, das Böse zu erklären oder zu vernichten, muss er sich mit der Zeit verbinden, die er zur Heilsgeschichte erklärt: jetzt ist meine Gottheit noch nicht erschienen. Noch müsst ihr an mich glauben, weil ihr von meiner Glorie nichts sehen könnt. Eines unbekannten Tages aber werde ich in voller Pracht und Herrlichkeit vor

der Türe stehen und meinen Geschöpfen die Leviten lesen. Dann wird ihr Glauben zum Sehen von Angesicht zu Angesicht. Die Treulosen werden bestraft, die Getreuen mit ewiger Freude belohnt.

Die Zeit wird zum Instrument des Heils. Gott erscheint in der Zeit, die sich wundersam in Geschichte des Gottwerdens verwandelt. Heilsgeschichte wird zur Geburtshelferin Gottes. Als unscheinbarer Menschensohn wird Gott geboren, als allmächtiger Erlöser und furchterregender Rächer wird er die Zeit beschließen.

Sprachen wir von Gott? Nein. Götter gibt es nicht. Wir sprachen vom Mann, der sich in Gott verwandelt und natürliche Zeit in die Geschichte seiner Gottwerdung verfälscht. Der Mann reißt sich die Geschichte unter den Nagel, um sie zum Schauplatz seiner Weltpolitik zu erklären. Weltgeschichte soll die politische Gottwerdung des Mannes in sukzessiven Epochen ans Licht bringen. Die Geschichte muss einen Sinn haben: den Sinn, den ein gottwerdender Mann ihr verleiht. Exemplarisch die Geschichtstheologie Augustins:

„Neben der Einteilung in sechs Epochen in Analogie zu den sechs Altersstufen des Menschen (erste Kindheit, zweite Kindheit, Jugend, Jünglingsalter, Mannesalter, Greisenalter) besteht noch eine andre in drei Epochen des geistigen Fortschritts: Erstens vor dem Gesetz (Kindheit), zweitens unter dem Gesetz (Mannesalter), drittens unter der Gnade (Greisenalter oder mundus senecens, Hegels „Greisenalter des Geistes“).“

Ganz analog zu Augustins Mannwerdung durch Heilsgeschichte entwirft Joachim di Fiore seine Geschichtstheorie als Lehre von der sich entwickelnden Trinität:

„Drei verschiedene Ordnungen entfalten sich in drei verschiedenen Epochen, in denen die drei Personen der Trinität nacheinander offenbar werden. Die erste ist die Ordnung des Vaters, die zweite die des Sohnes, die dritte die des Heiligen Geistes. Die letztere beginnt gerade jetzt (also zu Lebzeiten Joachims) und entwickelt sich zur vollkommenen „Freiheit des Geistes“. Die Juden waren Sklaven unter dem Gesetz des Vaters. Die Christen waren schon geistig und frei, verglichen mit der Gesetzesmoral der Juden; in der dritten werden sich die prophetischen Worte des Paulus erfüllen, dass unser Wissen und Weissagen jetzt nur Stückwerk ist. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Die erste Epoche wurde von Adam in Furcht und unter dem Zeichen des Gesetzes begonnen. Die zweite wurde von Usia gläubig und in Demut begründet unter dem Zeichen des Evangeliums. Die dritte wurde durch den heiligen Benedikt in Liebe und Freude unter dem Zeichen des Geistes eingeleitet und wird mit der Wiederkehr des Herrn am Ende der Welt erfüllt werden. Die erste Ordnung ist eine Ordnung der Verheirateten und beruht auf dem Vater. Die zweite ist eine Ordnung der Priester und beruht auf dem Sohn. Die dritte ist eine Ordnung der Mönche und beruht auf dem Geiste der Wahrheit. Im ersten Zeitalter herrschen Mühe und Arbeit; im zweiten Gelehrsamkeit und Zucht; im dritten Muße und Lobpreisung. Das Grundgesetz des Heilsgeschehens ist das ständige Fortschreiten von der Zeit des „Buchstabens“ des Alten und Neuen Testamentes bis zu der des „Geistes“, in Analogie zur wunderbaren Verwandlung von Wasser in Wein.“ (Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen)

Nun wissen wir, was Fortschritt ist: die Gottwerdung des Mannes in der Geschichte. Auf allen Ebenen der Wirtschaft, Technik, Erdherrschaft, Expansion ins Universum und Überwindung des Menschen in Supermaschinen (cyborgs).

Wasser – weibliche Natur – muss sich in Wein oder männlichen Geist verwandeln. Der Buchstabe der natürlichen Logik muss der phantasmagorischen Deutungsmacht der Männer weichen, die sie Geist zu nennen belieben. Die Logik des stringenten Buchstabens wird außer Kraft gesetzt. X wird beliebig zum U. Was ein Text bedeutet, was Natur ist, was Wirklichkeit und Wahrheit sind: das alles bestimmt der selbstherrliche Mann.

Der Mensch ist nicht mehr von der Realität abhängig, die Realität ist ein Blinddarmfortsatz des allesbestimmenden apriorischen Mannes. Die Supermaschine ist der Supermann, der die Frau überflüssig macht. Natürliches Zeugen und Gebären sind ebenso von gestern wie der natürliche Tod. Dem geistbegabten Mann steht Unsterblichkeit zu.

Alle Geschichts- oder Fortschrittstheorien der Moderne von Lessing über Hegel, Comte bis zur Fata Morgana der Todlosigkeit à la Silicon Valley sind Ableger der biblischen, augustinischen oder joachimitischen Heilsgeschichte, der exemplarischen Entwicklung des Mannes zum Übermenschen oder zum Gott. Das Weib ist etwas, was durch Fortschritt überwunden werden muss.

Das Weib ist Natur. Natur ist etwas, was durch männlichen Geist eliminiert wird. „Das erste – die Natur – ist vergangen, siehe, ich mache alles neu“, prophezeit der erste Supermann der Geschichte, Jesus, der Christus. Eben jener, der seiner Mutter ins Gesicht sagte: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“

Der Frauenhass des Männergottes kennt keine Grenzen. Eine kleine Weile noch ist das Weib geduldet – aber nur, wenn es sich männlich kostümiert wie Merkel oder das Kinderkriegen als Schmach und Schwäche überwindet, um sich dem Männerkosmos zu unterwerfen. Erfolgreiche Frauen sind die gefolgsamsten und unterwürfigsten unter den Weibern.

„Die Geschichte der Religionen fällt mit der Weltgeschichte zusammen. Der innere Werkmeister der Geschichte ist die ewige absolute Idee, die sich in der Menschheit realisiert. Geschichte der Religion ist Fortgang vom Endlichen zum Unendlichen. (Wie Messner und andere Abenteurer muss Geschichte ihre Grenzen austesten und überwinden. Kindern allerdings muss man Grenzen „setzen“. Erst in der Pubertät scheiden sich die Geister der Geschlechter: Jünglinge müssen lernen, die Gesetze ihrer Kinderstube abzuschütteln; die Mädchen müssen sich entweder kapitalistischen Männern unterordnen – oder auf niederem Niveau der Natur Kinder zur Welt bringen.) Geist ist die göttliche Geschichte in den drei Formen der göttlichen Idee. Die Idee Gottes muss vorgestellt sein als Geschichtliches, damit sie gewiss ist. In der Geschichte soll die Idee vollbracht werden: Gott regiert in der Welt.“ (Hegel)

Für Schelling, Hegels Rivalen, ist Weltgeschichte nichts anderes als Gottwerdung. „Gott wird sein“ – am Ende der Geschichte.

Nach dem jesuitischen Paläontologen Teilhard de Chardin entwickelt sich die Geschichte aus natürlicher Minderwertigkeit des Punktes Alpha zur Vollendung des Punktes Omega, an dem der „kosmische Christus“ die absolute Herrschaft übernehmen wird. Gemäß der Aussage des Paulus:

„Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen […] Alles hat durch ihn seinen Bestand.“ (Kol 1.16)

Selbst Nietzsche, der die lineare Geschichte des Christentums durch Rückkehr zu den Naturzyklen der Griechen überwinden wollte, bemerkt nicht, dass sein Übermensch die poetische Umschreibung des kosmischen Christus oder Supermannes ist.

„Die neuen Tugenden des „Übermenschen“ sind vor allem:

 das Schaffen, die Tat. Der Übermensch ist ein schaffender Mensch. Zum Schaffen gehört jedoch immer auch das Vernichten.

Selbstliebe, die Knechtsein und Wehmut verhindert

• Liebe zum Leben und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten

• der (männliche) Wille des Übermenschen, der sein einziger Handlungsmaßstab ist

Mut, Härte und Kompromisslosigkeit in der Durchsetzung seiner Ziele“

Hier haben wir das ganze psychologische Portefeuille des neoliberalen He-Mans beisammen: grenzenlose Kreativität (Schaffen, die Tat); zur Kreativität gehört das vollständige Vernichten des Alten und Rückständigen (Schöpferische Vernichtung; der IS ist nur ein Pfuscher im Vernichten des Alten); Egoismus (Selbstliebe); blinder Glaube an die männliche Allmacht (Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten); Supermann misst sich nur an sich selbst (sein einziger Handlungsmaßstab); bedenkenlose Brutalität im Durchsetzen seines Zieles der Erdherrschaft (Mut, Härte und Kompromisslosigkeit).

Welch ungeheurer Aufwand des Mannes, um seine Überlegenheit über das bedrohliche Weib mit allen Mitteln seines Ingeniums zu beweisen. Seit seiner Erfindung der Hochkultur wird der Mann seiner selbstproduzierten Probleme nicht anders Herr als sich zum werdenden Gott zu stilisieren, der die Nöte der Menschheit mit links heilt und kuriert.

Doch die verheißenen Tröstungen der Religion durch den allmächtigen Gott-Mann müssen leere Versprechungen bleiben. Der Mann kann durch seine wachsende Macht nur wachsende Probleme schaffen. Macht löst überhaupt keine Probleme, nur Verständigung auf gleicher Augenhöhe kann nachhaltig lindern und heilen. Der Mann kann keine Probleme lösen. Er kann nur verheißen und nichterfüllen, versprechen und an den Sankt Nimmerleinstag verschieben.

Die Männer haben fertig. Jeder Tag, den die Natur werden lässt, entlarven sie sich mehr als Maulhelden und Aufschneider der Geschichte. Merkel konnte ihre männlichen Rivalen nur wegbeißen, weil sie ohnehin nichts mehr auf die Waage brachten. Die Phallokraten wollen nicht mehr, das geben sie nur nicht zu. Sie produzieren Problemhalden, die zum Himmel stinken und wundern sich, dass ihre Frauen sie noch immer nicht aus dem Verkehr gezogen haben. Wäre Merkel eine emanzipierte Frau, würde sie die Probleme der Menschheit klar und deutlich ansprechen – und nicht tabuisieren,

• ihre Lösungsvorschläge unterbreiten – und nicht in Stummheit begraben,

• mit der Gesellschaft debattieren – und nicht jeden Streit par ordre de mutti beenden,

• die Mehrheit über ihre Zukunft entscheiden lassen – und nicht einsame Nachtentschlüsse ihrem Volk vor den Latz knallen: friss oder stirb.

Warum kostümiert sich Merkel mit der Uniform der Männer? Weil sie ein Mann sein will. Dem göttlichen Mann und Vater hat sie sich bedingungslos unterworfen. Eine emanzipierte Frau wäre eine Urmutter: die Verteidigerin der Natur, die Verkörperung der Daseinsfreude und der Feier des Lebens, die logisch-empathische Symbiose von Denken, Reden und Tun.

Warum zögern die Frauen noch immer, die sinnlos wütenden Muskelmännlein vom Hofe zu jagen? Weil sie ein schlechtes Gewissen haben, diese Wüteriche überhaupt geboren zu haben. Noch können sie das Rätsel nicht lösen: diese Fehlgeburten der Menschheit sollen wir neun Monate unter dem Herzen getragen und viele Jahre unter Tränen und Mühe erzogen haben?

Merkel predigt. Sie macht Worte. Das genügt ihren frömmelnden Fans, die nur die Gewalt des Wortes anbeten. Zur rechten Zeit muss sie das rechte Wort finden. Und Merkel sprach das Wort – und das Wort blieb ohne Folgen. Die Umsetzung des Wortes in Taten interessiert keinen ihrer medialen Söhne, die sich daran gewöhnt haben, dass Gott nur folgenlose Versprechungen macht. Wer die rechte Gesinnung hat, die richtige heiligmäßige Motivation besitzt, der hat alles getan, was er tun konnte. Ein Bundespräsident muss über die Macht des Wortes gebieten. Sonst nichts. Was er tut, interessiert keinen Edelschreiber mehr.

Vorgestern sprach Merkel vollmundig wie ein amerikanischer Präsident: wir schaffen das. Gestern ließ sie die Grenzen schließen. Heute werden alle Asylbestimmungen aufs schärfste verkürzt. Alles kein Grund, die Kanzlerin zu schelten. Hauptsache, sie sprach zur rechten Zeit das rechte Wort. Ein guter Baum bringt gute Früchte, selbst wenn sie am Ast verfaulen – und Merkel ist ein guter Baum mit faulen Früchten.

Symbol-und Gesinnungsethik nennt man das Plappern hohler Worte, denen keine Taten folgen. Zwischen Innerlichkeit und realer Tat hat der Teufel einen Abgrund gegraben. Dass keine Taten folgen, verzeiht jeder Christ. Weiß er doch, dass er selbst ein Sünder ist und zuerst vor der eigenen Türe kehren soll.

Warum haben die obrigkeitlichen Kirchen Splitter und Balken erfunden? Damit niemand die Obrigkeit zu kritisieren wagt – bevor er nicht ein perfekter Heiliger geworden ist. Wer kann schon behaupten, ohne Fehl zu sein? Wer kann schon sagen: dein weltprägender Splitter, oh Merkel, ist verhängnisvoller als mein bedeutungsloser privater Balken?

Politische Wirkungen sind der Frohen Botschaft ein Ärgernis, denn ihr Ziel ist nicht die Verbesserung des Diesseits, sondern der erbettelte Unterschlupf im Jenseits. Wer im Kleinsten treu ist, der ist es auch in der großen Politik. Merkel ist im Kleinen und Privaten sittsam und von unerbittlicher Höflichkeit, mit der sie alle Menschen auf Distanz hält. Im Großen erdrückt sie mit gnadenloser Wirtschaft Völker und Millionen von Menschen.

Für solche Amoralität haben alle deutschen Maul-Machiavellisten volles Verständnis. Draußen muss Mutter die Kalaschnikow bedienen können, wir leben schließlich nicht im Garten Eden. Hauptsache, zu Hause ist sie nett und lieb. Pardonnez moi, meine Geschwister, auch der Führer war zu Hause nett und lieb. Die KZ-Schergen waren sentimentale Väter.

Wir nähern uns mit Riesenschritten der deutschen Mandeville-Version: habe private Tugenden, dann darfst du im Öffentlichen und Politischen die Sau rauslassen. Worte sind sakrosankt: Was aber aus dem Munde herauskommt, das kommt aus dem Herzen und verunreinigt den Menschen – wenn er nicht glaubt. Ist er aber fromm, genügen bloße Worte. Gelingen und Misslingen liegen allein bei Gott.

Mit großem Pomp eröffnete Pastor Gauck die Luther-Feierlichkeiten. Kein Wort der Kritik fiel über den Reformator, den angeblichen Begründer der Neuzeit. Dass er ein Feind der Bauern, der Juden, ein Knecht der Obrigkeit, ein Befürworter der Arbeit als Religion war: einerlei. Luther war ein Meister des Worts, ein „Sprachmagier“.

„Wir verbeugen uns vor einem Sprachmagier. Und: Wir stehen noch heute vor dem Werk staunend darüber, was ein Einzelner geschaffen hat.“ Die Bibel, für Gauck ein magisches Werk: „Sie ist zur unerschöpflichen Quelle unserer Kultur geworden. Zu unser aller Glück. Zum Glück. Oder, um es mit Luthers Worten zu sagen: Gott sei Dank!“ (BILD.de)

In gleicher Verherrlichungsmanier berichtete die ARD von Luthers Wortgewalt. „Die Deutschen haben lesen gelernt anhand der Bibel.“ Welch schreckliche Wirkungen dieses Bibellesen nach sich zog – dazu keine einzige kritische Anmerkung. Luther wird zum Paradedeutschen in Goldrand.

„Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
wie sau’r er sich stellt,
tut er uns doch nicht;
das macht, er ist gericht’:
ein Wörtlein kann ihn fällen“

Oh, es gibt genug Teufel um uns her: radikale Systemfeinde, parasitäre Fremde, terroristische Muslime, faule Griechen, böse Russen, ökonomische Konkurrenten in aller Welt. Macht nichts, Luthers Gott wird sie niedermachen. Der Fürst dieser Welt ist der überhebliche Heide, der aus eigener Kraft sein irdisches Leben führen will: schon ist er gericht.

Merkels Politik ist Fällen der Fürsten dieser Welt. Mit eigenen Waffen sollen sie niedergestreckt werden und zum Teufel fahren. Nur vor Gott will die Kanzlerin die unbefleckte Moralistin spielen.

Authentisch sei sie gewesen, als sie den „legendären Satz“ sagte, ein fremdenfeindliches Land sei nicht ihr Land. So schrieben unisono ihre medialen Muttersöhnchen. Vor allem diejenigen, die psychologische Kategorien bislang als Humbug abgelehnt hatten. Bemerkten sie auch Merkels Nicht-Authentizität, als sie Griechen und Italiener brüskierte und mit dem Flüchtlingsproblem alleine ließ, Quoten und gemeinsame Verteilungsregeln hartnäckig blockierte?

Woher der plötzliche Merkel-Enthusiasmus der Edelschreiber ob der Mutter-Theresa-Heiligkeit ihrer Kanzlerin? Die bürgerlichen Karrieresöhnchen, gefördert von ihren ehrgeizigen Müttern, begannen diese zu verachten – als sie das Urteil ihrer erfolgreichen Väter hörten und verinnerlichten: Mutter ist gut, aber doof. Warum können Frauen Männern kein Paroli bieten? Doch dann überkam sie das notorisch schlechte Gewissen, just jenen Menschen in die Pfanne gehauen zu haben, dem sie am meisten auf der Welt verdanken. Seitdem lauern sie auf jede Gelegenheit, ihr Unrecht wieder gut zu machen und Mütterchen zu rehabilitieren.

Das war der springende Punkt, als Merkel einen unvermuteten humanen Satz sagte – den vor kurzem die meisten Schreiber mit Häme vom Tisch gewischt hätten. Ein einziges, sorgfältig inszeniertes spontanes Wort – und die elitären Bürschchen lagen auf dem Bauch. Die leidende Mutter wurde zur siegenden Mutter erklärt, alle Sünden ihrer arroganten Bengel schienen getilgt.

Das provinziell verbarrikadierte Deutschland ist zum gruppendynamischen Familienlabor geschrumpft. Wie es die Romantiker voraussahen und wünschten, wurden die Regierenden zu Elternfiguren, ihre Untertanen zu elitär-tüchtigen oder jämmerlich versagenden Kindern. Mit Politik der nüchternen und verständigen Art hat Deutschland in der Epoche Merkel nichts mehr zu tun.

Aufgeführt wird der deutsche Familienstadl. Mit verschwindenden Vätern, die mit ihrer Macht übertreiben und einer ehrgeizigen Antimutter, die typische Männerpolitik betreibt, indem sie das ausdruckslose Pokergesicht der Männer besser aufzusetzen weiß als die Erfinder.

„Religion ist genau, was eine Frau braucht, denn sie verleiht ihr die Würde, die sich für ihre Abhängigkeit geziemt.“ Schrieb ein amerikanischer Journalist im Jahre 1820. Das gilt auch noch für das Jahr 2015. Merkels religiöse Standfestigkeit ist das, was kirchenferne, aber glaubenswillige Burschen benötigen. Auch hier gilt das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der die heidnische Fremde nicht erträgt und in die geschützten Gefilde der Familie zurück strebt. Es muss nicht der gütige Vater, es kann auch die anfangs belächelte Mutter sein, derer man sich geradezu geschämt hat – wenn sie nur der Familie Lob und Bewunderung für die Tüchtigkeit der Ihren einzutragen weiß.

Leidenszeiten sind Geburtszeiten der Religion. Erweckungsbewegungen sind emotionale Wiederholungen der Religionsgründung, um durch Wiedergeburt das akkumulierte Elend der Gegenwart, nein, nicht zu lösen, sondern mit drogenhaften Phrasen vergessen zu machen.

Amerika erlebte verschiedene Great Awakenings. Der religiöse Kollektivbazillus vieler neuer frömmelnder Einwanderer sollte dem kräftigen, urdemokratischen Geist der Pioniere den Kampf ansagen. „Das zweite Great Awakening nach 1800 war ein Kreuzzug von Methodisten, Baptisten Shakers gegen die aufklärerische Haltung, wie sie die Unitarier verkörperten.“ (Gert Raeithel, Geschichte der nordamerikanischen Kultur, Bd. 1)

Das naturnahe Leben der ersten Pioniere und Indianerfreunde musste mit der angsterregenden Sorge um die eigene Seligkeit zerstört werden. „Es gibt keinen Platz für Untätigkeit oder Erholung. Zum Ausruhen wird im Himmel genug Zeit sein.“ So ein Wanderprediger aus jener Zeit. Noch heute könnte der Satz von neoliberalen Wirtschaftsjournalisten unverändert niedergeschrieben werden.

Deutschland in politischer Macht und wirtschaftlicher Blüte, aber in einem unübersehbar moralischen Desaster und wachsenden futurischen Ängsten, erlebt eine plötzliche emotionale Hilfsbewegung von Nord bis Süd, von West bis Ost.

Was ist das für eine Bewegung? Eine Erweckungsbewegung verlorener Söhne und Töchter, die sich rückwärtsschauend des Heils ihrer Seele vergewissern wollen – oder eine aufgeklärte Suche nach Humanität, die es schaffen wird, ihre religiösen Eierschalen abzuwerfen und sich demokratisch weiterzuentwickeln? Wait and see.