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… zum Logos XXXVI

Tagesmail vom 23.02.2022

… zum Logos XXXVI,

„Wir haben die Wahl: Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten. Das Entstehen einer weltweiten Zivilgesellschaft schafft neue Möglichkeiten, eine demokratische und humane Weltordnung aufzubauen. Unsere ökologischen, sozialen und geistigen Herausforderungen sind miteinander verknüpft, und nur zusammen können wir umfassende Lösungen entwickeln. Wir sind Bürgerinnen und Bürger verschiedener Nationen und der Einen Welt, in der Lokales und Globales miteinander verknüpft sind. Jeder Mensch ist mitverantwortlich für das gegenwärtige und zukünftige Wohlergehen der Menschheitsfamilie und für das Leben auf der Erde.

Gerechte, partizipatorische, nachhaltige und friedliche demokratische Gesellschaften aufbauen. Soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit fördern, die es allen ermöglicht, ein materiell gesichertes und erfülltes Leben zu führen, ohne dabei ökologische Grenzen zu verletzen.
Alle Lebewesen rücksichtsvoll und mit Achtung behandeln.
Eine Kultur der Toleranz, der Gewaltlosigkeit und des Friedens fördern.

Wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit fordert uns unser gemeinsames Schicksal dazu auf, einen neuen Anfang zu wagen. Das erfordert einen Wandel in unserem Bewusstsein und in unseren Herzen. Lasst uns unsere Zeit so gestalten, dass man sich an sie erinnern wird als eine Zeit, in der eine neue nachhaltige Entwicklung entschlossen auf den Weg gebracht wurde, als eine Zeit, in der das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden neuen Auftrieb bekam und als eine Zeit der freudigen Feier des Lebens.“
(Mein Manifest für die Erde, Michail Gorbatschow)

„Um die Situation zu wenden, müssen wir die sowohl in Russland als auch in der EU vorhandenen realen Vorteile und Möglichkeiten nutzen. Dadurch könnte eine fürwahr harmonische Synthese der beiden Wirtschaften bewirkt werden. Wir sind gesegnet mit dem einmaligen Leistungsvermögen unserer Menschen. Was schlagen wir also vor? Die Gestaltung einer harmonischen Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok. Generell gilt es, alles, was mit der Ökologie, der fürsorglichen Nutzung der Naturressourcen und der Kontrolle des Klimawandels zusammenhängt, im Fokus der Aufmerksamkeit zu behalten. Es sei betont: Russland hat kein Interesse an einer schwachen oder zerstrittenen Europäischen Union. Mancher mag die in diesem Artikel geschilderten Überlegungen als zu anspruchsvoll bezeichnen. Doch in der heutigen Welt wird auch das möglich, was zuerst nur wie ein Traum anmutet. Gemeinsam konnten wir uns mehrmals davon überzeugen. Es gilt jetzt, schlicht und einfach die Ärmel hochzukrempeln und die Arbeit anzupacken.“
(Putin in Sueddeutsche.de)

Gorbatschows Manifest erschien im Jahre 2002, Putins Artikel im Jahre 2010.

Wo stehen wir heute? Kurz vor einem möglichen Krieg. Russische Truppen könnten jederzeit in die Ukraine einmarschieren.

Alleinschuldige des Debakels? Die Russen.

„Putin ist jetzt unser Feind!“ (Boie, BILD.de)

Was ist zu tun?

„Mit deutschem Pazifismus wird die Vermeidung eines schrecklichen Krieges nicht gelingen. Mit Appeasement und Pazifismus werden wir diese Wunden jetzt nicht heilen. Nie wieder Appeasement. Sie brauchen, so schwer es fällt, auch Waffen. Um Gewalt zu reduzieren oder sogar zu vermeiden.“ (Döpfner, WELT.de)

„Die deutsche Friedensbewegung ist erbärmlich. Sie ist feige und opportunistisch. Wenn jetzt ein blutiger, scheußlicher Krieg in Europa geführt wird, an dessen Ende ein Autokrat wie Putin sein Schreckensreich ausweitet, dann wird man sie daran erinnern müssen, dass sie nichts, aber auch gar nichts dagegen getan hat. Nichts. Null. Der Moralismus in Deutschland, zu dem sich der Vulgärpazifismus bekennt, ist nichts wert. Auf fast keinem gesellschaftlich-politisch relevanten Feld.“ (Poschardt, WELT.de)

Was also ist zu tun?

Keine Friedenspolitik, kein Pazifismus, kein Appeasement.

„Appeasement-Politik bezeichnet eine Politik der Zugeständnisse, der Zurückhaltung, der Beschwichtigung und des Entgegenkommens gegenüber Aggressionen zur Vermeidung eines Krieges.“

Keine Beschwichtigung, kein Entgegenkommen, keine wohlwollende Freundschaft. Sondern Bellizismus, Hass und Bereitschaft zum Dreinschlagen.

Einer der führenden Zeitungsverlage Deutschlands setzt auf den Zukunftskurs Feindschaft und Militanz.

Wie kam es, dass Putin seine ursprüngliche Kooperationsbereitschaft, ganz im Geist seines Vorbilds Gorbatschow, ins Gegenteil verkehrte und nun bereit zu sein scheint, die Welt ins Verderben zu stürzen?

In Deutschland wird diese Frage weder gestellt, geschweige beantwortet. Schurken und Gewalttäter werden nicht, sondern sind. Um das Entstehen von Übeltätern zu verhindern, muss man sie nicht verstehen. Verstehen des Bösen ist Rechtfertigung des Bösen.

Das Böse kann man nicht verstehen. Weshalb Reichelt, der Ex-Chef der guten Zeitung BILD die Verstehenskultur als Zeichen der Dekadenz verabscheute.

Mathias Döpfner, sein früherer Chef, war stolz auf die Tradition der liberalen Presse:

„Das Prinzip „Audiatur et altera pars“ ist nicht veraltet. Es ist und bleibt die Grundlage unserer Glaubwürdigkeit.“ (bdzv.de)

Zum Grundsatz der Toleranz „auch die andere Seite muss gehört werden“ gehört aber das Verstehen. Was ich nicht verstehe, kann ich nicht tolerieren.

Zur Wahrheitsfindung gehört das Verstehen, Wahrnehmen und Durchdenken aller Aspekte, auch der widersprechenden und widerlegenden. Wie wollen sie einer Sache gerecht werden, wenn sie der konträren Seite das Verstehen verweigern und sie somit verteufeln?

Döpfners Bellizistenkohorten verurteilen die Friedensfreunde als eitle Vertreter des Guten, während sie selbst das schlechte Gute durch ein weitaus Besseres ersetzen. Auch im Kampf gegen Antisemitismus helfe kein Friedensgeflunker, sondern Militanz:

„Es wurde wieder schlagartig deutlich, dass Teile der deutschen Politik immer noch die falsche Lektion aus der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust gelernt haben. Statt nie wieder militärische Intervention sollte es heißen: Nie wieder Völkermord. Nie wieder Rassismus. Nie wieder Appeasement. Sie brauchen, so schwer es fällt, auch Waffen. Um Gewalt zu reduzieren oder sogar zu vermeiden.“

Gehört die Bekämpfung der Judenfeindschaft nicht zum Besten, was die Deutschen leisten müssten? Ist das Beste keine Moral? Dieselbe Gazette, die sich ihrer hochmoralischen Loyalität mit Israel rühmt, empfiehlt Bellizismus als bestes Mittel des Kampfes gegen Antisemitismus und zur Bekräftigung des „Nie wieder“.

Waren Judenmörder keine Feinde der Humanität, der menschenfreundlichsten Moral der Weltgeschichte? Wäre demnach das beste Mittel, um eine Wiederholung zu verhindern, nicht eine kategorisch-humanistische Moral? Was hingegen zelebriert der Großmeister des Philosemitismus?

Eine schleichende Erniedrigung und Desavouierung des Kosmopolitismus Gorbatschows und des jungen Putin – der erst nach jahrelanger Verachtung durch den Westen sich in den heutigen Revanche-Militaristen eines despotischen Russenherrschers verwandelt hat.

Das war der komplette Umschlag des veränderunsgswilligen Anfangs in sein Gegenteil – und niemand wunderte sich und stellte eine Frage. Der Westen ignoriert die Entwicklung des freien Russland und verleugnet die ganz anderen Anfänge Putins.

Deutschlands Debatten ersticken schon lange im nationalen Sektierergeist. In ihren trübsinnigen Talkshows findet man selten Ausländer, die die Weltsicht anderer Nationen vertreten würden.

Putin erlebte in seiner politischen Entwicklung, was die meisten Völker politisch erlebten: den Verrat an der universellen Ethik, die zur Gründung der UN geführt hatte. Nach der schrecklichen Lektion des Zweiten Weltkriegs hatten die Nationen die Schnauze voll von Intoleranz und Menschenfeindschaft und waren übergegangen zur Deklaration allgemeiner Menschenrechte.

Doch ein halbes Jahrhundert nach dieser erstaunlichen Wende hatte der Geist der allgemeinen Menschenwürde seine kraftvollen Anfangsimpulse verloren: die Nationen fielen zurück ins Mittelalter religiöser Intoleranz.

Bei Putin nicht anders. Der Westen nimmt nicht zur Kenntnis, dass seine unheilvolle Regression mit der Rückwendung zum orthodoxen Glauben zusammenhing. Die Wahrnehmung dieser Heimkehr in die Suprematie einer Erlöserreligion hätte die heutigen Fragen nach den Motiven seines reaktionären Verhaltens beantworten können.

„»Mit wem dieser Mann seine außenpolitischen Entscheidungen bespricht und wer Einfluss auf ihn ausübt, das ist nicht nur dem Ausland unklar – sondern auch der Moskauer Elite. Niemand weiß, was in Putins Kopf vorgeht. Und niemand kann Ihnen auch nur sagen, wer Putins einflussreichste Berater sind«, sagt Fjodor Lukjanow, ein kremlnaher Außenpolitikexperte. Sicher sei: Putin entscheide am Ende allein. »Für dieses System gibt einen schönen russischen Namen: ›Samoderschawije‹. »Selbstherrschaft«, so nannten die Zaren ihr System, in dem der Herrscher an keine Regeln gebunden war. »Wenn er sich mit irgendjemandem berät, dann mit Gott«, sagt Dmitrij Trenin, Chef des Moskauer Carnegie-Zentrums. »Schauen Sie sich die Bilder an, wie er das Weihnachtsfest allein in seiner Kapelle verbracht hat. Er ist im Gespräch mit Gott.«“ (SPIEGEL.de)

Putin war zurückgekehrt in den russischen Cäsaropapismus, jener innigen Verbindung von Zar und Kirche, die die Geschichte Russlands geprägt hatte. Während im mittelalterlichen Europa der Papst den Kaiser unter seine Herrschaft zwang, war es in Russland umgekehrt. Zaren waren Herrscher beider Reiche, des weltlichen und des geistigen.

„»Unter Wladimir Putin wird die Orthodoxie wieder zu einer Staatsreligion gemacht«, sagte Boris Reitschuster. Putin geht es nach Reitschusters Ansicht nicht um den Glauben, den die Kirche vertritt. Die unterbewusst vermittelte Grundstimmung sei: Putin hat Gottes Segen. Welche Positionen die Kirche sonst vertrete, sei für viele Russen nicht so wichtig. Reitschuster sprach von einer alten Tradition, dass die russisch-orthodoxe Kirche immer eine Art Unterstützungsverein für die Mächtigen gewesen sei.“ (Deutschlandfunk.de)

Auch diese Darstellung der christlichen Religion vermittelt noch die westdeutsche Schizophrenie, am christlichen Glauben festzuhalten, ohne ihn eigentlich zu kennen. Doch das Wesentliche ist tatsächlich nur das Eine: Gott ist der alleinige Herrscher der Welt und die Seinen haben der Obrigkeit bedingungslos zu folgen, denn sie ist immer zugleich die Stimme des Weltenherrschers.

Was der westliche Narzissmus nicht wahrhaben will: Ost und West sind vereinigt im selben Glauben, der sie aber nicht zusammenführt, sondern sie in feindliche Brüder spaltet.

Putin und Merkel teilen denselben Glauben, weshalb sie sich so vertraut waren: seid untertan der Obrigkeit. Christliche Herrscher haben nur die Pflicht, sich in heiliger Amoral durchs weltliche Getriebe durchzumogeln. Der wahre Herrscher der Geschichte bleibt hingegen der Allmächtige.

Erst jetzt, in den akkumulierenden Krisen der Welt und nach ihrer Abwahl beginnen die lange herrschenden Christdemokraten nach ihren ursprünglichen Werten Ausschau zu halten. Offensichtlich werden sie von schleichender Glaubensunsicherheit heimgesucht.

Was sind die christlichen Grundwerte der CDU? Sind sie durch Schrift und kirchliche Dogmatik begründbar? Sind sie vereinbar mit der strikten Trennung von Staat und Religion?

„Kürzlich hat der Mainzer Historiker Andreas Rödder das christliche »C« im Kürzel der Union infrage gestellt – viele Parteimitglieder waren entsetzt. Doch falsch lag Rödder nicht. Der göttliche Auftrag, die Schöpfung zu bewahren, mag zwar in der Bibel festgehalten sein, Parteiprogramme hat dieser Auftrag bisher aber noch nicht dominiert.“ schreibt der SPIEGEL:

„Sowohl das konservative als auch das christliche Menschenbild gehen von der Fehlbarkeit des Menschen aus, der nicht die vollständige Wahrheit erkennt. Sowohl christliche als auch konservative Politik nimmt Abstand von Ideologien, von geglaubten Gewissheiten und einfachen Wahrheiten. Das »C« ist keine eindeutige inhaltliche Konstante. Es steht nicht für Seenotrettung im Mittelmeer oder möglichst umfangreiche Sozialpolitik, vielmehr fordert es die Union zu immer neuen politischen Abwägungsleistungen heraus. Ein Christdemokrat setzt zunächst auf die Eigenverantwortung der Einzelnen. Erst dann, wenn die Einzelnen diese Eigenverantwortung nicht mehr wahrnehmen können, wird die nächsthöhere Einheit aktiviert, dann setzt der Staat mit seiner Solidarität ein. Das unterscheidet sich sowohl von marktliberalen als auch von sozialdemokratischen oder anderen staatsinterventionistischen Konzepten. Das C ist kein einfaches Schwarz oder Weiß.“ (SPIEGEL.de)

Mit den Werten des Glaubens hat dieser Artikel nichts zu tun. Das Vermischen von „konservativen“ und „christlichen“ Werten ist fahrlässig. Der sündige Mensch ist fehlbar, aber im Glauben unfehlbar, weil er den Direktiven Gottes folgt. Simul justus et peccator, gerecht und Sünder zugleich. Wie solche Unvereinbarkeiten zusammenpassen, bleibt das Geheimnis des Glaubens.

„Einfache Wahrheiten“ sind das keineswegs, sondern dem irdischen Verstand unzugänglich, „geglaubte Gewissheiten“ aber sehr wohl. Konstante Gewissheiten sind die geglaubten Wahrheiten auf jeden Fall, denn sie beruhen auf Aussagen einer unfehlbaren Offenbarung. Interessant, dass die Gebote der Nächstenliebe – mit denen die Kirchen am meisten paradieren – vom Tisch gewischt werden. Humbug, dass die Rettung der Flüchtlinge christliche Pflicht wäre.

Überhaupt ist das Soziale ZUERST die Pflicht des Einzelnen, erst am Schluss kommt der Staat an die Reihe. Katholisches Subsidiaritätsprinzip: alle Verantwortlichkeiten werden zu Almosenleistungen der Einzelnen. Erst wenn die Einzelnen versagen, muss der Staat ran.

Mit Demokratie haben diese Überlegungen nichts zu tun. Denn in der Polis gibt’s keinen Staat, der den Einzelnen gegenüberstünde. Regierungen sind die Gewählten des Volkes, die den Auftrag haben, den Willen der Einzelnen gesetzmäßig zu erfüllen. Was bedeutet: nicht willkürlich nach dem Zufallsprinzip – wie im Gleichnis vom Samariter -, sondern nach allgemeinen und gerechten Gesetzen.

Dem christlichen Glauben sind Staaten nur irrelevante, schnell vorübergehende irdische Ereignisse, ihr Ziel ist die Polis im Himmel. „Das „C“ ist kein einfaches Schwarz oder Weiß“? In der Tat, jeder Erleuchtete kann die Schrift deuten wie ihm der Geist einflößt. Verbindlich ist das für niemanden. Streng genommen wäre das der Sturz aller unfehlbaren Priester, doch wer nimmt heute die theologischen Streitigkeiten noch ernst?

Christliche Werte sollen weder neoliberal, noch sozialdemokratisch oder kommunistisch sein. Hat der selbstherrliche Historiker noch nicht bemerkt, dass schon immer das Chaos in den rivalisierenden Kirchen und Sekten herrschte? Keine einzige politische Doktrin, die nicht biblisch begründet worden wäre.

Hayek fühlte sich ebenso als Christ, wie sozialdemokratische Gerechtigkeits-„Fanatiker“, amerikanische Milliardäre oder kommunistische Lutheraner – wie Merkels Vater, der den Sozialismus für christlicher hielt als das korrupte westdeutsche System. Versteht sich, dass seine ehrgeizige Tochter sich aus all diesen „ideologischen“ Raufereien raushielt. Als Physikerin steht man oberhalb aller privaten Meinungen und Überzeugungen.

Historiker Rödder ist ein wahrhaft freier Interpret christlicher Werte, die er nach dem postmodernen Prinzip deutet: wo ich stehe, steht der Heilige Geist.

Nicht nur fromme Sozis, auch die Grünen lassen sich in ihrem Glauben an die Schöpfungsbewahrung von niemandem übertreffen. Kaum werden erste Forderungen nach Trennung von Staat und Kirche laut, kommt die Gegenwehr eines grünen Abgeordneten:

„Die Kirchen haben in unserer Gesellschaft ganz zentrale Aufgaben und Verpflichtungen – vor allem im sozialen Bereich. Denen müssen sie weiterhin nachkommen können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche leisten einen sehr wichtigen Beitrag. Aber es ist auch für die Kirchen eine emanzipatorische Frage, nicht bis in alle Ewigkeit abhängig zu sein und sich alle paar Jahre mit den Landesfinanzministern zusammensetzen zu müssen, um alles wieder neu auszuhandeln. Die Kirchensteuer ist hiervon gänzlich unberührt. Das deutsche kooperative Staats-Kirchen-Recht ist ein sehr erfolgreiches Modell. Es geht darum, im Dialog miteinander zu kooperieren. Es gibt eine Trennung von Staat und Kirche, aber keine Laizität, die die Kirche ja auch aus der Pflicht nehmen würde. Die Annahme ist, dass der Urzustand des Menschen ein nicht religiöser sei, ein neutraler. Das würde ich ernsthaft bestreiten. Neutralität bedeutet nicht die Abwesenheit von Religion. Die Verbannung von Religiosität ins Private wäre ein massiver Einschnitt in die Freiheitsrechte und ist mit unserer Verfassung nicht zu machen. Ich halte solche Forderungen auch für abwegig.“ (Berliner-Zeitung.de)

Kein einzig prüfender Satz zur Gefährlichkeit der christlichen Dogmatik. Die Deutschen tun, als seien sie unfehlbare Interpreten des Christentums. Dass diese Religion vereinbar war mit allen Verbrechen der Weltgeschichte, weil sie nach Belieben deutbar ist, nehmen Wohlstandsdeutsche nicht zur Kenntnis.

Mit Erschrecken müssten sie sehen, dass Ost und West ihre Rivalitäten mit den gleichen unfehlbaren Offenbarungen begründen wie ihre Feinde. Sie ignorieren die nichts ausschließende Beliebigkeit der grundsätzlichen Überzeugungen, die Augustin und sein Schüler Luther formuliert hatten: „Liebe – und tue, was du willst!“ (Augustin) und: „Sündige tapfer – wenn du nur glaubst.“ (Luther)

Was sich in Russland, aber auch in Amerika, in frommen Kreisen tut, juckt keinen deutschen Christen, der im gottgeschenkten Mercedes über gottgesegnete Autobahnen brettert. Weshalb wir noch kurz nach Amerika schalten, um einen intimen Blick auf Gottes eigenes Land zu werfen:

„Denn die Rhetorik der Christlichen Nationalisten ist im vergangenen Jahr noch aggressiver geworden: Auf ihren Konferenzen werden politische Gegner mehr und mehr entmenschlicht dargestellt. Eine solche Sprache, betont Seidel, „ist einer der Vorläufer von Genozid“. Trotzdem sei noch nicht alles verloren: „Wir können Christlichen Nationalismus besiegen. Wir können ihn an den äußersten Rand zurückdrängen. Das bedeutet: den Mythos bekämpfen, und es braucht eine nationale Bewegung, die die Trennung von Kirche und Staat hochhält. Es kann keine Religionsfreiheit geben, ohne dass es Freiheit von Religion gibt.“ Amerika als Demokratie und Christlicher Nationalismus können nicht friedlich koexistieren, eines von beiden wird gewinnen müssen. Wir können nicht beides haben. Die Rhetorik der Christlichen Nationalisten, so Seidel, sei eine kriegerische: „Man dankte Gott für die ‚Kriegswaffen‘, mit denen er einen gesegnet hat“, berichtet er. Bischöfe, ehemalige Soldaten und Kongressabgeordnete hielten Reden, bei denen wortwörtlich „zu den Waffen“ gerufen wurde, der Anführer der Miliz „Oath Keepers“ rief zum „blutigen Krieg auf“ – alles in Gottes Namen.“ (Frankfurter Rundschau.de)

Das sind die Biblizisten Amerikas, die sich am meisten an das Prinzip Luthers halten und subjektive Deutungen verabscheuen: das Wort, sie sollen lassen stahn und kein Dank dafür haben.

Eben diese Wortwörtlichen haben jene Wende in Amerika vollbracht, sich von allem humanistischen Heidentum zu lösen und alle menschheitsverbindenden Werte dem Teufel zu übergeben. Die Frommen vollbrachten die Abkehr Amerikas vom Kurs, die UN-Charta wortwörtlich zu befolgen und die Welt in ein friedliches Dorf zu verwandeln.

Heute ist der Westen so bigott und selbstgerecht geworden, dass er die Schuld der Kriegsgefahr nur bei Anderen sieht und jede Mitschuld von sich weist.

Wenn Putin, mit dem Segen orthodoxer Popen, die Ukraine bedroht und die Gefahr eines Weltenbrandes heraufbeschwört, begeht er ein Verbrechen an der Menschheit. Was im Westen aber unterdrückt wird, ist die Frage: wie konnte der junge Putin, überzeugt vom Humanismus eines Gorbatschow, sich einem solch Rückfall in das blanke Gegenteil hingeben?

Deutschland ist dabei, alle Grundsätze einer menschheitsverbindenden Vernunft in die Luft zu jagen:

’s ist Krieg! ’s ist Krieg!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?
Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?
Was hülf mir Wirtschaftswachstum, Fortschritt und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!

Fortsetzung folgt.