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… zum Logos XLVI

Tagesmail vom 18.03.2022

… zum Logos XLVI,

Die Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj vor dem Deutschen Bundestag:

„Sehr verehrte Frau Präsidentin Göring-Eckardt, sehr verehrter Herr Bundeskanzler Scholz. Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete, Gäste, anwesende Journalisten. Sehr verehrtes deutsches Volk. Ich wende mich an Sie nach drei Wochen des unerwarteten Angriffs der russischen Truppen auf die Ukraine. Nach acht Jahren Krieg im Osten unseres Landes, im Donbass. Ich wende mich an Sie. Russland bombardiert unsere Städte und zerstört alles in der Ukraine: Wohnviertel, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen – alles. Mit Raketen, mit Bomben, mit Artillerie. In drei Wochen sind sehr viele Ukrainer gestorben, Tausende. Die Besatzer haben 108 Kinder getötet – mitten in Europa, bei uns, im Jahr 2022. Ich wende mich an Sie nach vielen Treffen, Verhandlungen, Erklärungen und Bitten. Nach Schritten zur Unterstützung, von denen manche zu spät gekommen sind, und nach Sanktionen, die vielleicht zu gering sind, um diesen Krieg zu stoppen. Und nachdem wir gesehen haben, wie viele Ihrer Unternehmen noch in Russland geblieben sind – im Land, das euch und einige andere Länder einfach ausnutzt, um den Krieg zu finanzieren. In drei Wochen des Krieges für unser Leben, für unsere Freiheit haben wir uns davon überzeugt, was wir zuvor gespürt haben – und was Sie vielleicht nicht alle merken. Sie befinden sich wieder hinter einer Mauer. Nicht hinter der Berliner Mauer. Sondern mitten in Europa. Zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und diese Mauer wird mit jeder Bombe stärker, die auf unseren Boden fällt – auf die Ukraine. Bei jeder Entscheidung, die nicht für den Frieden getroffen wurde. Die nicht von Ihnen getroffen wurde, obwohl sie helfen könnte. Wann ist das geschehen? Sehr verehrte Politiker. Sehr verehrtes deutsches Volk. Warum ist das möglich? Wir haben gesagt, dass Nord Stream 2 eine Waffe und Vorbereitung auf den großen Krieg ist, und wir haben als Antwort bekommen: Das ist Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft. Und das war Zement für die neue Mauer. Als wir euch gefragt haben, was die Ukraine tun soll, um Mitglied der Nato zu werden, um Sicherheitsgarantien zu bekommen – haben wir die Antwort gehört: Es ist bislang keine solche Entscheidung auf dem Tisch und auch nicht in der nächsten Zeit. Das war traurig für uns. Und auch jetzt zögern Sie beim Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Offen gesagt: Für manche ist das Politik. In Wirklichkeit sind das Steine für die neue Mauer. Als wir um präventive Sanktionen gebeten haben, wandten wir uns an Europa, wandten wir uns an viele Länder. Wir wandten uns an euch. Damit der Aggressor spürte, dass ihr Macht habt. Aber wir spürten die Verzögerungen, den Widerstand. Wir haben kapiert, Sie wollen die Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft weiter fortführen. Und auch jetzt sind die Handelsrouten zwischen euch und dem Land, das Europa wieder einmal einen brutalen Krieg gebracht hat, Stacheldraht über der Mauer. Und Sie sehen nicht, was sich hinter dieser Mauer verbirgt. Das ist eine Mauer zwischen den Menschen in Europa. Und deswegen verstehen nicht alle, was wir gerade erleben. Ich wende mich an euch im Namen aller Ukrainer. Ich wende mich an euch im Namen der Einwohner von Mariupol – Zivilisten einer Stadt, die von russischen Truppen blockiert und praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sie vernichten alles dort. Alles und alle, die dort sind. Hunderttausende Menschen stehen rund um die Uhr unter Beschuss. 24 Stunden am Tag ohne Essen, ohne Wasser, ohne Strom. 24 Stunden ohne Kommunikation. Wochenlang. Die russischen Truppen unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Militär. Es interessiert sie nicht, wo zivile Objekte sind, sie betrachten alles als Zielscheibe. Ein Theater, das Hunderten Menschen Schutz bot und das gestern gesprengt wurde, eine Geburtsklinik, ein Kinderkrankenhaus, Wohngebiete ohne irgendwelche militärische Einrichtungen – sie zerstören alles – rund um die Uhr. Und sie lassen keine humanitären Güter in die blockierte Stadt. Fünf Tage lang haben die russischen Truppen nicht aufgehört zu bombardieren, um die Rettung unserer Menschen zu verhindern. Sie können das alles sehen. Wenn Sie über die Mauer schauen. Wenn Sie sich daran erinnern, was die Berliner Luftbrücke damals bedeutete. Die möglich war, weil der Himmel sicher war. Sie wurden nicht wie jetzt in unserem Land vom Himmel getötet, da wir nicht einmal eine Luftbrücke einrichten können. Vom Himmel kommen nur russische Bomben und russische Raketen. Ich spreche Sie an – im Namen der älteren Ukrainer, die den Zweiten Weltkrieg erfahren haben, die überlebt haben, unter Besetzung. Die vor 80 Jahren auch Babyn Jar überlebt haben. Letztes Jahr war Bundespräsident Steinmeier in Babyn Jar, um dieser Tragödie zu gedenken – ich bin sehr dankbar dafür. Und dieser Ort wurde auch von russischen Raketen getroffen – und eine Familie wurde getötet, die dort war, um der Opfer zu gedenken. Nach 80 Jahren passiert so etwas. Ich spreche Sie an. Jedes Jahr wiederholen die Politiker „Nie wieder“. Jetzt sehen wir, dass diese Worte nichts wert sind. In Europa wird ein Volk vernichtet. Es wird versucht, alles zu vernichten, wofür wir leben. Ich spreche Sie an – im Namen unserer Armee, unserer Soldaten, die unser Land und die Werte verteidigen, von denen so oft in Europa gesprochen wird: Freiheit, Gleichheit und die Möglichkeit, frei zu leben. Und sich nicht einem anderen Land zu unterwerfen, das Ansprüche stellt auf unser Gebiet. Wir versuchen es zu verteidigen – ohne Ihre tatkräftige Unterstützung. Warum ist ein Land, das über dem Ozean liegt, etwas näher an uns, was Hilfe angeht? Weil es eine Mauer ist, die wir anscheinend noch nicht sehen. Aber wir kämpfen dafür, unser Volk zu bewahren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebes deutsches Volk, ich bin sehr dankbar für alle, die uns unterstützen: einfache Deutsche, die den Ukrainern helfen. Die Journalisten, die ehrlich und aufrichtig das ganze Böse zeigen, was Russland über uns gebracht hat. Die deutschen Firmen, die Moral über Profit gestellt und diesen Schritt getan haben und nicht nur Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft sehen. Wir sind auch den Politikern dankbar, die versuchen, diese Mauer zu durchbrechen, die Schritte unternehmen, die sich zwischen dem russischen Geld und den toten ukrainischen Kindern für das Leben aussprechen und für Sanktionen gegen Russland, die uns Frieden bringen können. Wir sind die Ukraine, wir sind in Europa. Ich bin denen dankbar, die sich auch dafür ausgesprochen haben, Russland von Swift auszuschließen. Die wissen, dass ein Embargo nötig ist auf alles, was diesen Krieg finanziert. Und für diejenigen, die dafür einstehen, dass die Ukraine ein Mitglied der EU wird. Sie sind schon viele und es werden mehr. Ich bin denen dankbar, die über Mauern schauen können und die wissen, dass die Verantwortung über allem steht, wenn es um Menschen geht. Es ist schwierig für uns, das ohne ihre Hilfe, ohne die Hilfe der Welt, zu überstehen und die Ukraine, Europa zu verteidigen. Das, was sie noch für uns tun können, damit man sich nicht hinterher fragt, nach diesem Krieg, nach den zerstörten Städten. Nach der Zerstörung Charkiws, das zweite Mal in 80 Jahren, nach der Bombardierung von Donbass, Tschernihiw, Sumy – damit man sich nach 80 Jahren, nach so vielen gefallenen Menschen, nicht fragt: Was ist mit der historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine, die es immer noch gibt? Damit man jetzt keine neue Mauer aufbaut und nicht etwas passiert, wofür man wieder diese lange Aufarbeitung braucht. Deshalb spreche ich Sie an und sage: Wir brauchen Hilfe, auch für Europa. Europa kann nicht überleben und seine Werte bewahren. Ein ehemaliger Schauspieler, ein Präsident der Vereinigten Staaten, Ronald Reagan, hat mal in Berlin gesagt: „Mister Gorbatschow, tear down this wall!“ Zerstören Sie diese Mauer! Und das sage ich Ihnen: Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient. Damit ihre Nachfahren stolz auf Sie sind. Unterstützen Sie den Frieden, unterstützen Sie die Ukrainer, stoppen Sie diesen Krieg. Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen. Es lebe die Ukraine!“ (ZEIT.de)

Ungeheures geschieht. Ein Krieg, mitten in Europa, bringt es an den Tag. Ein ausländischer Staatsmann, Präsident einer grausam dahin geopferten Nation, bringt das wankende Gerüst der deutschen Vergangenheitsbewältigung zum endgültigen und schmählichen Zusammenbruch.

Womit? Mit dem untrüglichen Test der Wahrheit – die in Deutschland jedes Ansehen verloren hat. Flüstert es leise von Haus zu Haus oder brüllt es hemmungslos in den Tag, meine Schwestern und Brüder: Wahrheit ist die einzige Methode, um Lug und Trug der Mächtigen zu enttarnen und die Fundamente unserer Demokratie zu schützen.

Die unscheinbar heidnische, niemals göttliche Formel der Wahrheit – überprüft in hunderten Kitas – lautet (gute Deutsche, bitte überlesen):

„Denn zu behaupten, dass Seiende sei nicht oder das Nichtseiende sei, ist falsch. Aber zu behaupten, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr.“

Prüfinstrument der Wahrheit ist die Logik. Logik – von LOGOS – ist das vernünftige Denken und Schließen, das von wahren Voraussetzungen stets zu wahren Schlussfolgerungen führt. Klassisches Beispiel: „Alle Menschen sind sterblich“ – „Sokrates ist ein Mensch“, ergo: „Sokrates ist sterblich“.

Die Methode ist unfehlbar, nicht aber wir Menschen, die wir sie fehlerhaft benutzen. Woraus folgt: je mehr Menschen den Test benutzen, um ihre Ergebnisse gegenseitig zu überprüfen, desto wahrscheinlicher werden Wahrheiten gefunden.

Demokratie ist jene Gemeinschaftsform, in der die regelmäßige Überprüfung aller Behauptungen politische Wirklichkeit sein sollte. Dort sind Menschen frei und können unbehindert die Wahrheit suchen. Es gibt keine bevorzugten Schichten und Stände, die der Wahrheit per Geburt oder Erziehung näher stünden, wie es Kasten- oder adlige Machtstaaten behaupten.

Eine Polis freier und gleicher Bürgerinnen und Bürger ist die psychisch stabilste, wahrheitsgemäßeste und lebensfreudigste Gesellschaft, die man auf Erden gestalten kann.

Westliche Gesellschaften sind nur der Form nach demokratisch, in Wirklichkeit werden die autonomen Wahrheiten durchdrungen von religiösen, die man glauben muss – oder man wird verflucht. Glaube ist ein unverdientes Geschenk des Himmels und kann von der eigenen Vernunft nicht überprüft werden. Aus gleichen Gesellschaften wurden längst Kastengesellschaften, die von himmlischen Erwählten beherrscht werden.

An Stelle demokratischer Beschlüsse über Art und Weise, wie die Menschen miteinander leben wollen, herrschen religiöse Dogmen, die ins Technische und Wissenschaftliche übersetzt wurden – sodass jeder „moderne Mensch“ sie übernehmen kann, scheinbar unabhängig von seinem traditionellen Glauben. Ein wüster Irrtum, der die Menschheit ins Verderben bringen wird.

Zwei der herrschenden Dogmen der Moderne, die fast kritiklos das globale Leben der Menschheit bestimmen, sind Fortschritt und grenzenlose Naturbeherrschung.

Grenzenlose Naturbeherrschung führte längst zur entgrenzten Naturverwüstung. Technischer Fortschritt, der als Verbesserung des humanen Zusammenlebens begann, entartete längst zur Chimäre einer gottgleichen Weltbeherrschung, die ihr futurisches Ziel im Universum sucht und die alte missbrauchte Erde hinter sich verkommen lässt.

Die Deutschen, die als letzten Akt ihrer völkischen Selbstbestimmung mit aller Gewalt zur herrschenden messianischen Nation der Welt aufsteigen wollten, mussten sich, zum Wohl aller Menschen, den gemeinsamen Kräften des Westens und Ostens ergeben. Sie wurden überwältigt und gezwungen, die politische Lebensweise des Westens zu übernehmen.

Ein Aufatmen ging durch die Völker, die noch mal von vorne beginnen wollten – mittels der Gründung des UN-Völkerparlaments und der Einigung auf universelle Menschen- und Völkerrechte. Fast ein halbes Jahrhundert ging das gut und das Zusammenleben der Völker wurde entscheidend besser.

Doch jedes moralische Fortschreiten unterliegt dem Gesetz eines primär freudigen Vorauseilens – und der störrischen Beharrung der alten Kräfte, die nicht gleich überwunden werden können und alles unternehmen, um das Progressive mit List und Tücke zurückzudrehen. Der Kampf der Welt gegen die Überwelt ist der entscheidende in der Geschichte und bestimmt das Schicksal der Menschheit.

Dieses Gesetz scheint die Moderne nicht mehr zu kennen. In hybrider Mächtigkeit glaubt sie, ungehemmt ihren endlosen Zielen entgegeneilen zu können. Kommt sie zum ersten Mal ins Stolpern, sind ihre reaktionären Kräfte sofort zur Stelle, verfluchen alle Humanitätsziele und verweisen auf die prophezeiten Endpunkte der Heilszeit: Apokalypse, Jüngstes Gericht, ewige Seligkeit und Verdammung.

Putins Krieg ist ein Aufstand der orthodoxen Reaktion gegen die westliche Humanität – und Putin der Prophet dieses apokalyptischen Kampfes gegen den „Antichrist“, den Inbegriff des Bösen in der Endzeit. Putins Glaube ist identisch mit dem amerikanischer Biblizisten. Kein Wunder, dass deren Galionsfigur, eine Herrenerscheinung namens Trump, den wesensverwandten Putin sehr sympathisch fand. Freilich, käme Trump wieder ganz nach oben, müsste er als Führer der amerikanischen Erwählten den der russisch-orthodoxen Frommen gnadenlos von der Tenne fegen.

Dass Deutschland nach der Niederlage sich zur Demokratie bekannte, war eine der besten, wenn auch nicht ganz freiwilligen, Entscheidungen in der deutschen Geschichte. Zugleich wurde diese Entscheidung umgarnt von verhängnisvollen Fehlentscheidungen wie der Rehabilitierung der Kirchen als unschuldige hochdemokratische Gebilde, die Hitlers Regime widerstanden hätten und nun zum geistlichen Fundament des neuen Staates werden könnten.

Dass die amerikanischen Befreier selbst hochreligiöse Menschen waren, unterstützte nur diese Fehlentscheidung. Mit dieser bis heute nie debattierten Fehlentscheidung ging einher die kritiklose Übernahme der ganzen fortschrittsblinden Technik und Wissenschaft. Deutschland hätte ganz von vorne beginnen müssen, wurde aber zur blindäugigen Imitation von Gods own country.

Wozu die immer stärker werdende Macht der Wirtschaft gehörte, einer religiösen Wirtschaft, für die Erfolg das Zeichen der Prädestination, Misserfolg das Zeichen der Verdammung wurde. Die notwendigen Debatten über Religion, Ökonomie und technischen Fortschritt unterblieben bis zum heutigen Tag. Der daraus resultierende Politstil der deutschen Regierungen war hündische Treue gegenüber Washington, die man sich bezahlen ließ durch militärischen Schutz des Großen Bruders.

Eigene Ziele der Politik, die man als utopie- oder ideologiefreien, sachlich-rationalen Pragmatismus begriff, gab es nicht. Mit anderen Worten: Berlin kannte keine Politik, sondern nur eine Verwaltung amerikanisch-vorprogrammierter Heilspolitik. Im Unterschied jedoch zu Amerika mit Vernachlässigung des religiös-apokalyptischen Moments, über den man sich hierzulande nur lustig machen konnte.

Motto: eine echt aufgeklärte Nation – das versteht sich von selbst – ist eine christliche. Diese Gedankengänge wurden vor allem in der Weizsäcker-Picht-Schule entwickelt. Für Picht war Aufklärung nicht weit genug gekommen und musste über sich selbst aufgeklärt werden. Aufklärung aber, die über sich selbst aufgeklärt war, war eine – Rückkehr zum christlichen Glauben.

Was wirft Selenskyj den Deutschen vor? Dass sie allzu unterwürfig den Kurs des arroganten Westens übernommen und keinen eigenständigen und offenen gegenüber der Ukraine entwickelt hätten. Er spricht von einer neuen Mauer:

„Als wir euch gefragt haben, was die Ukraine tun soll, um Mitglied der Nato zu werden, um Sicherheitsgarantien zu bekommen – haben wir die Antwort gehört: Es ist bislang keine solche Entscheidung auf dem Tisch und auch nicht in der nächsten Zeit. Das war traurig für uns. Und auch jetzt zögern Sie beim Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Offen gesagt: Für manche ist das Politik. In Wirklichkeit sind das Steine für die neue Mauer.“

Deutschland habe sich eingemauert mit der westlichen Ideologie: economy first, westliche Weltdominanz zuerst. Der Ost-West-Graben müsse blieben, es sei, der Osten ergäbe sich der Dominanz des Westens.

Bei allen Bitten um deutsche Hilfe in Form schärferer Kritik an Moskau und wirtschaftlich-politischer Unterstützung Kiews, wurde den Bittstellern ein Nein signalisiert.

„Wir wandten uns an euch. Damit der Aggressor spürte, dass ihr Macht habt. Aber wir spürten die Verzögerungen, den Widerstand. Wir haben kapiert, Sie wollen die Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft weiter fortführen. Und auch jetzt sind die Handelsrouten zwischen euch und dem Land, das Europa wieder einmal einen brutalen Krieg gebracht hat, Stacheldraht über der Mauer. Und Sie sehen nicht, was sich hinter dieser Mauer verbirgt. Das ist eine Mauer zwischen den Menschen in Europa. Und deswegen verstehen nicht alle, was wir gerade erleben.“

Die Verkommenheit der westlichen Demokratie zu einer Wirtschaftsdiktatur, im Westen oft als ewige Kapitalismuskritik verhöhnt, wird jetzt aus einer ganz anderen Ecke wiederholt. Deutschland läuft gehorsam an der Leine des Mammons und der Superreichen. Wirtschaftliche Vorteile wurden zur neuen Religion, über welche die verbohrten Wirtschaftsgläubigen nicht mit sich sprechen ließen. Wenn zwischen Moral und ökonomischen Interessen gewählt werden soll, hat Moral immer das Nachsehen.

Die deutsche Springerpresse, welche Moral in jeder Form nicht genug verhöhnen kann, beklagt plötzlich, dass die deutsche Politik das Gute nicht genug verteidigt habe:

„Ausgerechnet Göring-Eckardt, die vom eigenen „Gutsein“ so bewegt ist. Neulich wollte sie noch einen „Parlamentspoeten“ einstellen! Jetzt, da es ein einziges Mal darum ging, wirklich das Gute zu tun, nämlich der Ukraine zu helfen: nichts.“ (BILD.de)

Selenskyj hat noch weitaus stärkere Anklagen in seiner Rede:

„Jedes Jahr wiederholen die Politiker „Nie wieder“. Jetzt sehen wir, dass diese Worte nichts wert sind. In Europa wird ein Volk vernichtet. Und das sage ich Ihnen: Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient. Damit ihre Nachfahren stolz auf Sie sind. Unterstützen Sie den Frieden, unterstützen Sie die Ukrainer, stoppen Sie diesen Krieg. Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen. Es lebe die Ukraine.“

Nach deutschen Maßstäben hätte Selenskyj sofort mit der Anklage des Antisemitismus rechnen müssen. Denn das Gelöbnis „Nie wieder“ betrifft die Nichtwiederholung des Holocaust. Selenskyj vergleicht also die Vernichtung der Juden durch Hitler mit der gegenwärtigen Vernichtung der Ukrainer. Ein eminenter Verstoß gegen das Dogma der Unvergleichbarkeit des Holocaust.

Persönlich freilich sehr verständlich, denn man lese in der Biografie Selenskyjs die folgende Passage:

„Selenskyj kam in der Industriestadt Krywyj Rih (russisch Kriwoi Rog) im Südosten der damals noch sowjetischen Ukraine (Oblast Dnipropetrowsk) in einer russischsprachigen jüdischen Familie zur Welt. Alle drei Brüder Semen Selenskyjs und sein Vater wurden während des Holocaust ermordet.“ (WIKI)

In der Ukraine soll es zudem viele Juden geben. Sollte das Motto Nie wieder etwa nicht für ukrainische Juden gelten? Dagegen wehrt sich Selenskyj zu Recht. Ohnehin wäre die Unvergleichbarkeitsformel des Holocaust verwerflich, wenn sie bedeuten würde: die Leiden anderer Menschen gelten nichts im Vergleich mit denen, die von Hitlerdeutschland begangen wurden.

In Sachen existentieller Leiden und Völkerverbrechen zählen keine quantitativen Vergleiche oder Nichtvergleiche kühler Historiker. Hier zählen nur die unendlich subjektiven Leiden der Opfer und Betroffenen.

Jede Doktrin, die Inhumanität bekämpft, indem sie inhumane Folgerungen zulässt oder provoziert, ist selbst inhuman.

Man kann nur froh sein, dass es einige Kommentatoren gibt, die die schändliche Reaktion des Deutschen Parlaments auf Selenskyjs Rede schonungslos zu Papier brachten:

„Noch nie hat ein Gast das politische Versagen der Deutschen in ihrem Parlament so hart und schonungslos benannt. Und was macht der amtierende Kanzler? Er sitzt da und schweigt. Stattdessen gab es peinliches Parteiengezänk darüber, ob eine Debatte notwendig sei, wer wann wo der Tagesordnung zugestimmt habe, es gab Zwischenrufe und Gelächter. Man mochte sich fremdschämen, bis einem einfiel, dass es ja das eigene Parlament war. Es war ein Tag der Würdelosigkeit. Das politische Selbstverständnis der Deutschen ist durch den russischen Überfall auf die Ukraine im Kern erschüttert worden. Es wird lange dauern, bis klar ist, was daraus folgt. Wir stehen gerade erst am Anfang dieses Prozesses.“ (SPIEGEL.de)

Baerbocks Kommentar sollte wohl weise sein, in Wirklichkeit verriet er ihre lutherische Bodenlosigkeit:

„»Ich glaube, in so einem Moment ist Zuhören eine echte Stärke«, hatte Außenministerin Annalena Baerbock vor der Rede gesagt. »Zuhören, das Wort stehen lassen.«“

„Das Wort, sie sollen lassen stahn“ hatte den Sinn, das von Gott geoffenbarte Wort in der Heiligen Schrift in seiner Urbedeutung stehen zu lassen und wortwörtlich zu verstehen.

Doch Baerbock meint – in bester Untertanenmentalität des von Merkel dressierten Parlaments: zuhören, Klappe halten und kommentarlos passieren lassen.

Deutschland, vernarrt in alle Widersprüche, in die Aversion gegen alle Wahrheitsfindung und Moral, in die Unfähigkeit zu jedem erkenntnisbringenden Dialog, versinkt in der Gülle seiner Geistesabwesenheit. Schon jetzt wanken und schwanken alle maroden Pfeiler seiner Gesellschaft. Das Ende einer Denker-Dichter-Nation ist nahe herbeigekommen. Die Wurzeln dieser wahrheitshassenden amoralischen Nation freilich sind nicht von gestern:

„Es ist wunderbar …, dass der Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. … Es ist an Mord und Totschlag noch nicht genug, an Brand und Untergang; die Bänkelsänger müssen es an jeder Ecke wiederholen. Die guten Menschen wollen eingeschüchtert sein, um hinterdrein erst recht zu fühlen, wie schön und löblich es sei, frei Atem zu holen.“ (Goethe)

Sie fühlen sich nur frei, wenn es an jeder Ecke nicht genug an Mord und Totschlag geben kann. Nicht mehr lange und in den Knoten ihrer Widersprüche knüpfen sie sich selber auf.

Doch keine Angst, ihr Rechtgläubigen, ihr werdet alle wiedergeboren werden.

Fortsetzung folgt.