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… zum Logos LII

Tagesmail vom 01.04.2022

… zum Logos LII,

Und nun zur wichtigsten Frage des Lebens.

Und die wäre?

Du da hinten in der letzten Reihe. Die Letzten werden die Ersten sein!

Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Die Antwort aber, die Sie hören wollen, ist falsch.

Oha, eine kühne Antwort. Dann lass uns mal teilhaben an deiner verwegenen Weisheit, du Oberschlauer!

Ich wette, dass Sie von uns hören wollen: die wichtigste Frage des Lebens ist die – nach dem Sinn des Lebens. Sagen sie jetzt bloß nicht, dass ich danebenliege!

Im Gegenteil, ich gratuliere. Eben das ist meine Meinung. Doch jetzt bin ich neugierig, warum sie falsch sein soll. Sprich, damit ich dich höre.

Das liegt doch auf der Hand. Hätten wir uns alle auf denselben Sinn des Lebens geeinigt, müssten wir uns nicht länger streiten, keine Kriege führen und uns nicht länger hassen …

Auf den Punkt getroffen. Klingt das nicht einleuchtend für alle Menschen? Was kann denn daran falsch sein?

Verzeihen Sie, Meister der Weltweisheit, dass ich Sie aus Ihrem Wolkenkuckucksheim mal wieder herunterholen muss.

Nichts lieber als das. Hast du noch nicht bemerkt, dass das mein Trick ist, um dich auf die richtige Spur zu verlocken, ohne dass du dich bevormundet fühlst?

Na klar, der große Meister muss immer das letzte Wort behalten. Ich lass Ihnen Ihre kindische Freude – wenn ich jetzt endlich zur Sache kommen kann.

Per favore!

Ist nicht jeder Mensch einzigartig und hat andere Vorstellungen über das beste Leben als seine Nachbarn?

Wenn ich jetzt hypothetisch ja sagen würde: was würdest du daraus schließen?

Das liegt doch auf der Hand. Wenn Menschen in der wichtigsten Frage ihres Leben ganz verschieden denken, wie könnten die sich auf eine einzige Antwort einigen? Stopp, nicht gleich unterbrechen! Würden die also versuchen, sich zu einigen, ginge das nur wie? Das werden Sie jetzt nicht gern hören wollen: das ginge nur mit Gewalt. Und genau das wollen Sie nicht wahrhaben, Sie Hans guck in die Luft. Ihre Generation verträgt es nicht, dass Menschen ganz verschieden sind und eine gemeinsame Wahrheit nicht nötig haben. Unsere Generation ist weiter gekommen als alle Zwangsbeglücker der Geschichte. Wir wollen unvergleichlich sein – und eben das sind wir. Unsere Einzigartigkeit ist unsere Freiheit. Frei, das sind wird auch. Wir ertragen es nicht mehr, denken zu müssen, was andere uns vorschreiben wollen. Eben das können Sie nicht vertragen.

Hier verlieren sich die Stimmen der Disputanten im weißen Rauschen des Universums. Wir müssen versuchen, sie auf anderen Wegen wieder zu finden.

Ein gemeinsamer Sinn des Lebens: wäre das nicht dasselbe wie ein Glaube, der es nicht erträgt, dass Abweichler denken, was sie wollen?

Könnte es Kriege geben wie den jetzigen um die Ukraine, wenn zwei Brüdernationen wirklich harmonisch nebeneinander lebten?

War es nicht so, dass es gewaltige Unterschiede gab, die aus den verschiedensten Gründen unterdrückt werden mussten – bis sie nicht länger gebändigt werden konnten und sich selbst in die Luft sprengten?

Teilten beide Nationen nicht denselben Glauben und dennoch war es genau dieser, der sie in Kain und Abel spaltete?

Versuchen wir es mal mit einer kühnen Vermutung, indem wir dreist behaupten, dass derselbe Glaube das sicherste Mittel sein kann, um die Gläubigen in die Luft zu sprengen. Und behaupten wir: auch der Westen hat denselben Glauben wie der Osten, Kleinigkeiten können wir vernachlässigen. Den stärksten Glauben aber hat Amerika, die Zentrale des Westens. Wie steht‘s mit dem Glauben der noch immer führenden Nation der Welt – in Bezug auf das Ende der Welt, woran sie alle glauben (ob die Deutschen da mitmachen oder nicht).

Gemeinsamer Glaube eint nicht, er spaltet bis auf die Knochen. Wetten, dass?

„Mit der Endzeiterwartung und der Vorfreude auf die kommende Rückkehr von Jesus ist auch eine ungeheure Angst verbunden, denn dann wird Gott entscheiden, wer wirklich ein guter Christ war, wer im Rahmen der Rapture (Entrückung) in den Himmel kommt und wer nicht. Wer mit diesem Glauben aufwächst, fürchtet ständig, nicht gläubig genug zu sein und im schlimmsten Fall allein auf der Erde zurückgelassen zu werden.“ (A. Brockschmidt, Amerikas Gotteskrieger)

Gerade in Deutschland – einer nationalen Mischung aus gläubig und „was haben wir noch mit dem Glauben zu tun“ – muss man an die Symptome der Endzeit erinnern:
„Es gibt Hinweise, an denen die Gläubigen erkennen können, dass das Ende naht. Zu diesen Anzeichen gehören Naturkatastrophen und der Rückgang des christlichen Glaubens. Die vier apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung sind Hunger, Krieg, Tod und Krankheit. Die evangelische Paranoia wird begreifbar, wenn man sich verdeutlicht, dass nach ihrer Perspektive bis heute nicht klar ist, ob die USA in ihrer Auslegung der Bibel zu den Nationen gehören werden, die im Angesicht der Apokalypse auf Gottes Seite bleiben oder den Bund mit dem Teufel eingehen. „Evangelikale hoffen auf Ersteres, aber fürchten, dass, wenn sie nicht entschieden agieren, die USA im zweiten Lager landen könnten. Also handeln sie. Auf diese Art verschmelzen sie christlichen Universalismus mit amerikanischem Nationalismus und gestalten Glauben als nationalistische Bewegung.“ (ebenda)

Abgesehen davon, dass christlicher Glaube kein Universalismus sein kann, trifft die Analyse Brockschmidts den Nagel auf den Kopf. Viele sind berufen, wenige auserwählt. Amerikanischer Universalismus kommt vom Glauben der USA an universelle Menschen- und Völkerrechte, ihr Partikularismus hingegen vom Glauben an ihre Erwählung.

Diese Antagonismen in ihrem Schaukelstatus repräsentieren die wechselnde Oberherrschaft der Frommen oder ihrer weltlichen Gegner.

Kommt es wieder einmal zur Regression der Endzeitnation in ihre religiöse Paranoia, sind die Erwählten nicht mehr imstande, das Gleichgewicht zu wahren. Das geschah, rein zufällig, zeitgleich mit dem Aufkommen des Neoliberalismus – einer religiösen Gegenaufklärung, die Vernunft verachtete und alles Marktgeschehen einem gottgelenkten Zeit-und Zufallsprinzip überließ.

Zufällig kam es zur Kooperation ultraorthodoxer Juden mit fundamentalistischen Christen, die sich Neokonservative nannten, zumeist die Schüler des Carl Schmidt-Schülers Leo Strauss waren. Die politische Großwetterlage begann sich zu ändern:

„Die Abneigung vieler US-Amerikaner gegenüber den Vereinten Nationen hing zwar auch mit dem isolationistischen Kurs der Außenpolitik Trumps zusammen, doch die Verortung derselben spricht eindeutig Menschen an, die sich in einem religiös-verschwörungsideologischen Umfeld befinden.“

Amerika begann sich von der UNO zurückzuziehen, etwa zeitgleich mit Israels Bekämpfung der universalen Menschenrechte, das sein Versagen gegenüber den Palästinensern verharmlosen wollte.

Abschied vom Universalismus griechischer Vernunftrechte: das ist der Beweggrund jeder Regression ins Dunkel des Erwählungsglaubens.

Um die aufkommende Ökobewegung zu bekämpfen, betonten die frommen Superstars die „feindliche Haltung des Neuen Testaments gegen jegliche Vernunft, wider alle Besserwisserei profaner Wissenschaften.“

Abkehr von der UN, vom Universalismus humaner Grundrechte und von der Objektivität der Wissenschaft: das sind die Grundpfeiler der immer stärker werdenden Rückkehr der Weststaaten in Richtung eines absoluten Denkverbots.

Und nun der Blick in den Osten, der keineswegs das Gegenteil des Westkurses bedeutet. Ost und West spiegeln sich gegenseitig. Schauen wir auf die Worte Alexander Dugins, des Vordenkers von Putin:

„Den Ersteinsatz von Atomwaffen werde es von Seiten Russlands nicht geben, so Dugin, nur die Vereinigten Staaten könnten beschließen, den „Weltuntergang“ herbeizuführen. Davor allerdings fürchtet sich der Denker bei weitem nicht so sehr wie Durchschnittsbürger: „Wir alle haben vergessen, dass das Christentum die Religion der Endzeit ist.“ Einem Christen sei die „Apokalypse“ immer sehr nah: „Es wäre sehr richtig, sehr verantwortungsbewusst, sehr russisch, das, was heute passiert, in der apokalyptischen Dimension zu betrachten und alles zu tun, damit es nicht zu unvermeidlichen Konsequenzen kommt. Und wenn es unmöglich ist, das Schicksal zu vermeiden, ist es in der Zeit des Weltuntergangs wichtig, auf der richtigen Seite zu stehen. Auf unserer.“ (BR.de)

„Selbstredend sieht sich Dugin gern als Prophet und Putin als „lichtbringenden“ Messias, Vergleiche mit dem Alten Testament sind bei ihm üblich.“ (BR.de)

Nicht nur Dugin ist Apokalyptiker, auch die Bewunderung für Dostojewski kommt plötzlich wieder zum Vorschein. Literaten sind keine weltanschaulich neutralen Schöngeister, mit ihrer Sprachgewalt verbreiten sie politische Stimmungen.

„Dostojewski ist ein Risikomensch, das gehört zu seinem Habitus. Er selbst reflektiert das auch: »Das Risiko gehört für mich dazu. Ich kann nicht anders: ohne Risiko, ohne Druck, ohne den Abgrund vor mir zu haben, kann ich überhaupt nicht produktiv sein.«“

„Aus der Erniedrigung, aus dem Elend, aus den Schmerzen, aus der ganzen grausamen vierjährigen Einsamkeit und Isolation kann und muss Literatur werden. Russland und der Westen. Der rationale, wurzellose, auf Gewinn und Individualität bedachte Mensch der Moderne und sein Gegenüber: der Mensch, der in der Gemeinschaft ruht, in Traditionen und im Glauben. Den Inbegriff dieser modernen Lebensweise fand Dostojewski auf der Zweiten Weltausstellung in London, die im Mai 1862 eröffnet wurde, mehr als 28.000 Aussteller aus 36 Länder versammelte und sechs Millionen Besucher anzog. Die Ausstellung war, kurz gesagt, eine Leistungsschau des modernen Kapitalismus und der industriellen Revolution, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, und in seinen Augen der Beginn der Apokalypse: »Sollte das schon das erreichte Ideal sein? fragen Sie sich. Ist das nicht das Ende? Ist das nicht die der Tat schon die ,eine Herde’? Wird man das hier nicht tatsächlich für die volle Wahrheit halten und für immer verstummen müssen? (…) Es ist wie ein biblisches Bild, etwas Babylonisches, eine Prophezeiung der Apokalypse, die vor unseren Augen Wirklichkeit wird.«“ (Deutschlandfunkkultur.de)

Das sind die antagonistischen und doch spiegelgleichen Seiten von Ost und West.

Im Westen: der religiöse Glaube an Kapitalismus, Wohlfahrt und an das Ende der Welt, im Osten der Glaube an das Ende der Welt, aber mit gebrochenem Vertrauen in weltlichen Luxus und sündige Prasserei.

Hätte der Westen Putin als gleichberechtigten Partner akzeptiert, wäre Russland dem westlichen Lebenssinn gefolgt. Aber die Verachtung des Westens veranlasste Putin, seinen anfänglichen Kurs des Wandels zu beenden und sich zurückzuwenden zum apokalyptischen Geist der großen Schriftsteller und philosophischen Weltuntergangsdenker. Putin geht es um Sein oder Nichts. Bevor er selbst zu Nichts wird, muss er die Konkurrenten mit Ver-nichtung bedrohen.

Der Westen hat Angst, eben doch nicht zu den Auserwählten zu gehören. In Calvins Vorherbestimmungslehre, der Basis des amerikanischen Fundamentalismus, kann kein Mensch genau wissen, ob er zu den Prädestinierten gehört oder nicht. Es bleibt nur ein Mittel, dem Himmel das Geheimnis zu entreißen: indem er sich so viel wie möglich bereichert. Reichtum ist ein Zeichen, das den Erwähltenzustand des Gläubigen entziffern kann. Dennoch bleibt stets ein Zustand der Unsicherheit.

Amerikas Siegeszug, mit Geld und Fortschritt sich immer mehr der Gewissheit des Erwähltseins zu versichern, veranlasst die Rivalen aus Russland, ihre unsichere Erwählung mit einem Paukenschlag in verzweifelte Sicherheit umzuwandeln.

Ost und West müssen sich übertrumpfen, sei es durch wirtschaftlich-technischen Erfolg, sei es durch Vernichtung des Gegners.

Nicht zufällig sind die wichtigsten Parolen der beiden Staaten absolut identisch: Amerika zuerst, Russland zuerst.

In Amerika grassiert die „Apokalypse-Sehnsucht“. Ihre fundamentalistischen Frommen „träumen davon, Amerika für Gott zurückzugewinnen, christliche und amerikanische Identität sind für sie untrennbar verbunden. Die religiösen Rechten streben – mit Trump, ja mit dem Sünder Trump – eine Gesellschaftsordnung an, in der Gott nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in Gesetzen und Institutionen präsent ist.“

Wer sprach das Wort: „Das Christentum wird Macht haben. Wenn ich da bin, habt ihr viel Macht, ihr braucht niemand anderen. Ihr werdet jemanden haben, der euch sehr, sehr gut repräsentiert. Merkt euch das.“ Also sprach Donald Trump.

Trumps fanatische Klientel hat ein unüberwindbares Dogma:

„Der Erfolg der USA ist Teil von Gottes Plan.“ (alle Zitate in Brockschmidt)

Wer in Deutschland den Vorschlag macht, sich von den ideologischen Grundlagen Amerikas zu lösen, der muss mit dem Hackebeilchen rechnen. Ist es nicht makaber, dass ausgerechnet die Linkesten der Linken, die eifrigsten Kritiker Amerikas, sich vom christlichen Glauben des wiedergeborenen Kontinents nie übertreffen lassen wollen?

Oskar Lafontaine hielt eine Abschiedspredigt über das Gebot der Nächstenliebe. Genau so sprach er bei Maischberger, um die Heuchelei der christlichen Parteien – zu denen mittlerweilen fast alle Ampelparteien gehören – anzuklagen. Was erwiderte Norbert Röttgen, sein Gesprächspartner von der CDU? Es war die stereotype Antwort aller CDUler seit Adam und Eva. Ja, die Weisheit des Evangeliums könne man nur bestaunen, doch was habe eine Berg-Predigt mit Politik zu tun?

Da nennt sich eine Partei christlich, doch christliche Politik lehnt sie schaudernd ab. Oskar hatte nichts mehr zu sagen, von der Plaudertasche Maischberger gar nicht zu reden. Höchste Zeit, dass man jener Zunft, die den „Politikern auf die Schliche kommen will“, selbst auf die Schliche kommt.

Deutschlands Trümmerglaube schleicht verschämt hinter dem aggressiven Endzeitglauben seiner Befreier hinterher. Niemand denkt daran, dass die Profillosigkeit deutscher Politiker mit ihrer religiösen Duckmäuserei zu tun haben könnte.

Der Anführer der Stürmer auf das Kapitol betete am Anfang ihres Terrors:

„Danke, dass du den Vereinigten Staaten erlaubt hast, wiedergeboren zu werden. Danke, dass du uns erlaubt hast, uns der Kommunisten, Globalisten und der Verräter in unserer Regierung zu entledigen.“

Kann man sich vorstellen, dass eine Pastorentochter eine politische Aktion mit einem persönlichen Gebet unterstützt hätte?

Pazifismus ist kein Warten auf Godot, bis man sich wieder mal zwischen Pest und Cholera entscheiden muss. Sondern permanente Friedenspolitik, die alle Kriegsrisiken möglichst vermeidet und nur einem Punkt zusteuert: dem Frieden. Eben der wird bei uns als Utopie zur Schnecke gemacht.

Deutschland ist weder pazifistisch noch kriegslüstern. Es betet nur scheinbar harmlose Begriffe an:

Wirtschaft, Wirtschaftswachstum, Globalisierung, Konjunktur, Inflation und Deflation, ein strafendes und verachtendes Hartz4-System, harte Arbeit (für die Kleinen), touristische Eroberung der ganzen Welt – und sollte dies alles kollabieren: Abschied von der degenerierten Heimat.

Nun ade, du mein lieb Heimatland,
lieb Heimatland, ade.
Es geht jetzt fort zum fernen Strand,
lieb Heimatland, ade.

Ach, beinahe vergessen: Echte Verständigung ginge nur mit Argumenten. Verständigung durch Gewalt wäre Vergewaltigung, aber keine Verständigung. Argumente sind der Schmuck der Vernunft.

Fortsetzung folgt.