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Weltdorfs LXX

Hello, Freunde des Weltdorfs LXX,

die zwei mächtigsten Menschen der Welt geben sich äußerlich komplementär – doch ihr Politstil ist identisch. Selbstkritik ist ihnen unbekannt. Identisch ist auch der Inhalt ihrer Politik: sie betreiben eine von keinen Selbstzweifeln angekränkelte Weltpolitik der Grenzenlosigkeit. Einer grenzenlosen Macht, eines grenzenlos technischen Fortschritts, eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums, einer grenzenlosen Kluft zwischen Arm und Reich, einer grenzenlos zerstörbaren Natur und einer grenzenlosen Geschichte, deren Erwählungsdespotie sich niemand entziehen kann. Der eine mit offenem Visier, höhnisch und in selbstvernarrter Brutalität. Die andere in der Attitüde der leisen, höflichen Magd – die weiß, dass sie zur Herrin auserwählt wurde.

Regeln der Demokratie sind für beide Anmaßungen derer, die das Spiel der Moderne verloren haben. Der eine spuckt auf sie, die andere erstickt sie mit Hohlformeln.

Der eine traktiert die Vierte Macht, als sei sie eine Räuberhorde, spaltet sie in Lieblinge und Feinde, bevorzugt die ersten und deklassiert die Unbotmäßigen. Die andere erklärt nichts, lässt sich auf keine öffentliche Debatte ein und fertigt die vorlaute Meute mit rhetorischem Schall und Rauch ab.

Der eine spricht nur mit Lobrednern seiner Macht und überfährt die Frechen mit Beleidigungen:

„Bei seinen vergangenen Auftritten hatte er nur Fragen von konservativen und christlich-rechten Medien zugelassen und den Rest der US-Medien ignoriert. Als ein Reporter einer jüdisch-orthodoxen Publikation ihn nach dem wachsenden Trend des Antisemitismus in den USA befragte, nahm Trump dies erst mal als persönliche Attacke. „Ich bin die am wenigsten antisemitische Person, die Sie je in ihrem Leben sehen werden“, sagte er. Als ein Reporter nachhaken wollte, raunzte er ihn an:

„Seien Sie still.“ Dann forderte er ihn auf, sich hinzusetzen und erklärte: „Seht Ihr, er hat gelogen. Er wollte mir eine nette Frage stellen. Willkommen in der Welt der Medien. Ich hasse solche Fragen.“ (BILD.de)

Die andere weiß von nichts und ist an allem unschuldig.

„Wer kennt es nicht, das Bild von den drei Affen, die sich die Augen, die Ohren und den Mund zuhalten und mit diesen Gebärden zu verstehen geben, dass sie nichts sehen, nichts hören und nichts sagen wollen. Das Bild lässt sich geradezu perfekt übertragen auf das Verhalten der Bundeskanzlerin.“ (TAZ.de)

Zuerst weiß sie nichts von der Überwachung durch Freunde, dann schimpft sie darüber und verspricht Aufklärung und Abhilfe. Heute leugnet sie alles, weiß wieder von nichts und hat das Abhören ausweiten und legalisieren lassen. Heute wird die Gesellschaft mehr denn je abgehört und auf Schritt und Tritt überwacht. Für Snowdens mutige Tat hat sie nur ein verächtliches Nö.

Europa liegt am Boden. Ist Merkel, die dienstälteste und mächtigste Regierungschefin, an dem Desaster mitschuldig? NÖ.

Die Reichen werden immer reicher, leben in eigenen Welten, die mit Faulenzern und Tunichtguten nichts zu tun haben. Ist Merkel mitschuldig? NÖ.

Die Hartz-4-Leute werden mit Entzug des Lebensnotwendigen immer härter bestraft – auch wenn Kinder in der Familie sind und die Sozialgerichte die Diskriminierungen für ungesetzlich verurteilen. Ist Merkel mitschuldig? NÖ. Sie liebt ihre Nächsten wie sich selbst.

Berliner Schüler können nicht mehr in ihre Schule, weil die Toiletten ruiniert sind. Ist Merkel mitschuldig? NÖÖÖÖ. Was hat sie mit defekten Klos zu tun?

Den Fischen im Meer bleibt die Luft weg. Ist Merkel mitschuldig. NÖ. Kann sie überhaupt tauchen?

Das Meereis in der Antarktis schwindet dramatisch. Ist Merkel mitschuldig? NÖ.

In Afrika drohen neue Hungerepidemien. Tunesien, der einzige nordafrikanische Staat, der sich die Demokratie erobern konnte, wird von Merkel negiert. Wenn der Frühling kommt, werden sich neue Flüchtlingsmassen auf den Weg nach Europa machen. Ist Merkel mitschuldig? NÖ. Hat sie nicht schon diverse Staaten besucht und getan, als ob sie helfen wollte?

Im Mittelmeer ertrinken immer mehr Flüchtende in seeuntüchtigen Booten. Ist Merkel mitschuldig? NÖ. Hat sie nicht längst ihre Samaritanergeste abgelegt und mitgeholfen, die europäischen Grenzen luftdicht abzuschließen? Was kann sie dafür, dass die Menschen Europa überschwemmen wollen, obgleich sie ihnen die rote Dauerkarte zeigt?

Merkel hat keine Sprache, keinen Überblick, keine Analyse, kein Ziel. Sie versteht nichts, erklärt nichts, begründet nichts. Sie kennt nur die Parole: allet jut. Durchboxen ist alles, Aufklärung ist nüscht.

Der eine soll dringlich zum Psychiater, die andere will ein weiteres Mal gewählt werden, um die Welt vor dem ersten zu retten. Im Rededuell zwischen ihr und Schulz werden vier Talkmatadore der TV-Kanäle bleierne Fragen stellen, die sie mit Null-Sprech abwimmeln wird. Was ein logisches Streitgespräch ist, ist ihr unbekannt.

„Trump lebt offenbar in einer Parallelwelt, deren Grenzzäune zur Wirklichkeit deutlich höher scheinen als jene Mauer, die er gegen Mexiko plant. Während seine Regierung implodiert, spricht Trump davon, sie arbeite wie eine „fein eingestellte Maschine“. Während die Arbeitslosenquote auf einem historisch niedrigen Stand ist, beklagt er, einen wirtschaftspolitischen „Scherbenhaufen“ geerbt zu haben. Während er einen Wall-Street-Manager nach dem anderen in sein Kabinett holt, lobt er sich dafür, Washington endlich vom Lobbyismus befreit zu haben.“ (SPIEGEL.de)

Dasselbe wäre über Merkel zu sagen. Warum sprechen deutsche Edelschreiber nicht von den grassierenden Widersprüchen der Kanzlerin?

Gegen Trumps entwürdigende Paschagesten wehren sich die Journalisten nicht dadurch, dass sie seinen Lügenauftritten fern bleiben. Sie dürfen sich mit nichts gemein machen. Auch nicht mit moralischer Empörung gegen Trumps Pseudologie phantastica.

„Mit dem Begriff Pseudologia phantastica bezeichnet die Psychiatrie den Drang zum krankhaften Lügen und Übertreiben. Häufiger wird heute der Begriff pathologisches Lügen verwendet.“ Die Lügen sind „Folgen einer frühkindlichen Verwahrlosung. Menschen, die schon in der Säuglingszeit auf idealisierbare Eltern hätten verzichten müssen, ersetzten diesen Verlust durch die Phantasie der eigenen Allmacht (Größen-Selbst). Die zur Schau gestellte Verachtung für alle Werte und Ideale diene der Abwehr und Verleugnung einer Sehnsucht nach einer idealisierbaren Elternfigur.“

Die Zunft der professionellen Seelenkenner hat sich zur Schutzgarde einer lügenhaften Epoche entwickelt und damit die Theologen abgelöst, die alle Mängel der Obrigkeit durch die Sündhaftigkeit der Untertanen erklärten. Die führenden Schichten waren nie an den Wunden der Untertanen schuldig. Die psychotherapeutischen Diagnosen schweben im luftleeren Raum der Vergangenheitsverleugnung. Individuelle Biografien – sofern sie überhaupt noch erhoben werden – haben bei ihnen nichts mit der kollektiven Biografie einer ganzen Kultur zu tun.

Vergessen ist Fromms Einsicht, psychisch Kranke seien Opfer einer Gesellschaft, die ihre Kollektivneurosen den Schwächsten der Gesellschaft aufbürdet, um sich von jeder Schuld reinzuwaschen. Kranke spiegeln den verkrümmten Charakter einer Gesellschaft wahrhaftiger als die erfolgreichen Normalos, die mit ihren nationalen Vorzügen prahlen wollen. Der Sünder ist an seinen Mängeln immer selbst schuld. Selbst der Schöpfer aller Dinge ist schuldlos, auch wenn er der Urheber alles Bösen ist.

Dieses Schema hat sich auf alle Autoritäten einer religiösen Kultur übertragen. Ihre Ungerechtigkeiten, Repressionen und Kränkungen sind niemals am Unglück ihrer Mitglieder schuld. Kollektive Neurosen schützen vor Einzelneurose und individueller Selbsterkenntnis. Hier ereignet sich die Ur-spaltung der Gesellschaft in Eliten, die alle Mängel von sich weisen – und den Unterschichten, die keine Mittel haben, sich die Neurosen und Psychosen der Vornehmen vom Leibe zu halten.

In theokratischen Gesellschaften sind es die Priester, die alle Sündendefekte den gottlosen Massen aufbürden können. Sie selbst definieren sich als Kaste der Wiedergeborenen und Erleuchteten, die zur Sünde gar nicht mehr fähig sind. Eliten benötigen Unterschichten, um ihre Defekte durch Übertragung elegant loszuwerden.

In der 68er-Revolution gab es kurzlebige Therapie– und Pädagogikbewegungen. Die Psychiatrien wurden reformiert. In den Gefängnissen entstanden sozialtherapeutische Anstalten, um den Insassen die Möglichkeit zu geben, ihre kriminellen Taten zu verstehen und zu korrigieren. Die Bewegungen hielten nicht lange. Marx verschlang sie alle.

Sozialistische Gesellschaften konnten keine individuellen Seelenerkrankungen erzeugen, denn sie waren perfekt. Auch pädagogische Fragen waren fehl am Platz, denn eine vollkommene Gesellschaft konnte keine fehlerhaften Charaktere ausbrüten. Im Kapitalismus waren solche Bemühungen ohnehin sinnlos, denn nur eine vollständige Revolution konnte die kranken Effekte eines Kapitalismus überwinden. Überflüssig zu erwähnen, dass auch der kämpferische Feminismus als manieriert empfunden wurde. Der Nebenwiderspruch konnte nur beseitigt werden durch Eliminierung des Hauptwiderspruchs.

Eine psychoanalytische Behandlung konnte nur die individuelle Biografie durcharbeiten. Wer sich damit nicht zufrieden gab, konnte dem Rat „linker“ Analytiker folgen, die auf den Zusammenhang der privaten Biographie mit dem Zustand der Gesellschaft verwiesen. Ja, es gab Therapeuten, die nicht davor zurückschreckten, den malignen Einfluss der Religion zu erörtern.

Heute alles undenkbar. Die therapeutische Methode ist zu einer kritiklosen Selbstoptimierungsmethode verkommen. Der Kranke soll fähig werden, seine entfremdete Maloche ohne Murren zu vollbringen. Freuds Nachfolger wurden – wie alle intellektuellen Disziplinen – zu Einheizern steigender Wirtschaftskurven.

Gegenwärtige Empörungswellen, die man rechts- oder linkspopulistisch abzuwerten beliebt – werden von den Führungsklassen als Arbeitsverweigerung und Demontage unseres geölten Exportlandes verstanden. Der Widerstand der Abgehängten ist nichts als … als was? Als Unfähigkeit, die eigene Leistungsunterlegenheit anzuerkennen. Die notorisch Unzufriedenen wollen immer mehr vom allgemeinen Kuchen, als ihnen gerechterweise zustünde. Ihre Argumente sind nicht ernst zu nehmen, sie sind nichts als dumpfe Ressentiments der Überflüssigen und Versager.

Erfolgreiche Menschen kann man daran erkennen, dass sie den Begriff Kritik nicht mehr ertragen. Da es keine seriöse Kritik mehr gibt, kann es auch keine ernst zu nehmenden Debatten mit scharfkantigen Alternativen geben. Gab es je eine Talkshow mit begrifflichen Diskussionen über Gerechtigkeit, Ungleichheit, in der die Teilnehmer aufgefordert wurden, ihre Vorstellungen zu definieren – um sie gegen andere in messerscharfer Analyse zu verteidigen?

Man glaubt es nicht: sokratische Dialoge würden hierzulande den Aufstand – nicht der Massen –, sondern der Intellektuellen entzünden. Beim Agon mit Fäusten ist die persönliche Niederlage des Einzelnen erwünscht. Wehe, es gibt keine Loser. Im Wettkampf der Geister besteht die Moderne nur aus Mimosen, die eine intellektuelle Niederlage als irreparablen Gesichtsverlust erleben würden.

„Der Poststrukturalist Roland Barthes wendet sich im Rahmen seiner Kritik am Logozentrismus auch gegen die sokratische Mäeutik; er sieht in der Vorgehensweise des Sokrates das Bestreben, „den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen“. (Wiki)

Woraus wir entnehmen, dass die Postideologien in der Wolle gefärbte Theologien sind, die den strengen Logos der Aufklärung verabscheuen. Im Dunkeln wachsweicher Begriffe ist gut munkeln. Trump wird als verrückt empfunden, weil er sich ständig widerspricht. Dabei ist er nur ein emotionaler Barthianer, dem die Eindeutigkeit seiner Rede schnurzpiepegal ist. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern: die wahren Sympathisanten einer Bewegung verstehen sich ohne Worte.

Auch Merkel widerspricht sich von Tag zu Tag. Noch immer lehnt sie eine Obergrenze der Flüchtlingszahlen ab – doch gleichzeitig verschließt sie Europa luftdicht – und schiebt nicht anerkannte Asylbewerber in lebensgefährliche Länder ab.

Verstehen ohne Anstrengung des Begriffs ist die Spitzenleistung der christlichen Sprachtheorie. Da Gott nach dem Sündenfall die Sprache der Menschen verwirrte, konnten sie sich au fond nicht mehr verstehen. Das Böse bestand in der Übertölpelung des Konkurrenten durch gefällige Schleimreden. Die Erleuchtung geschah im Medium einer der menschlichen Vernunft entzogenen Über- oder Zungensprache:

„Und sie wurden alle voll des Heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen. Sie entsetzten sich aber alle und wurden irre und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? Die andern aber hatten’s ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.“

Christen benötigen keine scharfkantigen Begriffe. Logische Schlussfolgerungen zur Selbstüberprüfung einer Rede finden sie verabscheuenswert. Sie verständigen sich im Seeleneinklang ekstatischer Erleuchtungsreden. Von den Seinen wird Trump emotional verstanden. Nur die Intellektuellen von der Ostküste, diese gottlosen Pfennigfuchser der Begriffe, legen den Maßstab der Widerspruchslosigkeit an. Wer sich aber im Geist befindet, spricht von Herz zu Herz.

Goethes Mephisto, der einen Studenten mit logischen Dressurkünsten die Liebe zum heidnischen Logos austreiben will, könnte heute Trump heißen – wenn der auf solchen Schnickschnack überhaupt Wert legte.

„Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen,
Doch Ordnung lehrt Euch Zeit gewinnen.
Mein teurer Freund, ich rat Euch drum
Zuerst Collegium Logicum.
Da wird der Geist Euch wohl dressiert,
In spanische Stiefeln eingeschnürt,
Daß er bedächtiger so fortan
Hinschleiche die Gedankenbahn
,
Und nicht etwa, die Kreuz und Quer,
Irrlichteliere hin und her.

Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist Euch, es müßt so sein:
Das Erst wär so, das Zweite so,
Und drum das Dritt und Vierte so;
Und wenn das Erst und Zweit nicht wär,
Das Dritt und Viert wär nimmermehr“.

Machthaber brauchen keine klar denkenden Köpfe, die ihren Schlamassel auseinandernehmen. Sie brauchen Dummköpfe, die einsehen, dass die politischen Abläufe in den höheren Etagen ihren Horizont übersteigen. Widersprüche vermeiden? Wie simpel! Logische Folgerungen ziehen? Wie einfach! Köpfe müssen schäumen, damit die benebelten Sinne alles absegnen, was ihnen die Eliten in den Becher kippten.

Im Matriarchat gab es keine Eliten, die ihre Defekte an Untergeordnete weiterleiteten. Die erste Schuldzuweisung begründete die Herrschaft des Mannes über die Frau. Die Frau musste schuldig werden, um die Herrschaft des Mannes über sie mit heiligem Abrakadabra zu rechtfertigen.

Adam war die erste Oberschicht, Eva die erste Unterschicht, die am Elend des Mannes schuldig sein musste. Die Schuldige musste durch lebenslange Minderwertigkeit bestraft werden. Nicht durch eigene Kraft gelang es dem Mann, sich seiner Schuld zu entledigen. Nur Gott-Vater konnte den Mann von oben erleuchten. An der Allwissenheit des Mannes konnte die Frau nur sekundär teilnehmen – durch stummes Lauschen auf die göttlichen Worte des Mannes. Die Frau aber schweige in der Gemeinde. Nur gehorsames Hören auf die Reden genialer Männer wird sie zur Erleuchtung bringen:

„Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viele Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.”

Das ist die besondere Attraktivität der christlichen Lehre, dass Gott alle Dinge erschaffen hat, der Mensch dennoch an der Fehlerhaftigkeit aller Dinge und Taten schuldig sein muss. Wie sich das reimt, kann nur wissen, wer in Zungen redet. Am schärfsten ist das Debakel im Calvinismus ausgebildet, der Urtheologie amerikanischer Puritaner. Bereits vor Erschaffung der Welt hat Gott jeden Menschen zur Seligkeit oder Unseligkeit bestimmt. Und dennoch konnten die Determinierten an ihrem Schicksal nur selbst schuldig sein.

Das bedeutet ökonomisch: die Unterklassen sind allein an ihrer Armut schuldig. In den Worten Max Webers: „Sein Glaube an die Prädestination gab dem Kapitalisten die beruhigende Versicherung, dass die ungleiche Verteilung der Güter dieser Welt ein ganz spezielles Werk von Gottes Vorsehung sei, der mit diesen Unterschieden seine geheimen, uns unbekannten Ziele verfolge. Calvin hatte den oft zitierten Ausspruch getan, dass nur, wenn das Volk – die Masse der Arbeiter und Handwerker – arm erhalten werde, es Gott gehorsam bleibe. Diese Erkenntnis wurde später ökonomisiert zur ewigen Minderwertigkeit der Armen: dass die Masse der Menschen nur arbeite, wenn die Not sie dazu treibe. Dies führte zum Leitmotiv kapitalistischer Wirtschaft von der schlechthinnigen Produktivität niederer Löhne.“

Nur wenn die Arbeiter sich durch lebensbedrohliche Armut gezwungen sehen, nach Arbeit nachzusuchen, werden sie sich der Maloche nicht entziehen. Dies führte zur harten englischen Armengesetzgebung. Einem Bettler sollte man nicht das geringste Almosen geben. Denn das würde ihn in seiner Faulheit nur bestärken.

Auch in Deutschland müssen die Arbeitslosen bestraft werden. Gerade die SPD fühlt sich innerlich genötigt, ihre einstigen Kollegen und jetzigen Versager mit Hartz-4 zu bestrafen. Es waren keine wirtschaftlichen Gründe, die Schröder zur Diskriminierung seiner Herkunftsklasse führten. Es waren theologische.

In Deutschland hält sich das hartnäckige Vorurteil, christliche Sozialpolitik müsse armenfreundlich sein. Dabei wird übersehen, dass die Seligpreisung der Armen den Zweck hat, der Armut zu entfliehen und am Reichtum der Seligen teilzunehmen. Das Sammeln von Schätzen wird nicht grundsätzlich verboten. Sondern nur das Sammeln von Schätzen, „die Motte und Rost zunichte machen und wo Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmelreich, wo weder Motte noch Rost sie zunichte machen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen.“

Der Christ muss sein Kapital in unvergänglichen Werten anlegen und mit seinen Pfunden wuchern. Das ist der Unterschied zwischen amerikanischer ecclesia triumphans und deutscher Kopfnickerkirche. Amerikaner sehen keinen Grund, sich in Demut zu übertreffen, wie es die Deutschen taten, solange sie kein nationales Selbstbewusstsein entwickelt hatten. Also bis zum heutigen Tag. Im Dritten Reich schlug ihre ecclesia-patiens-Demut ins furchtbare Gegenteil um. Um nach der Niederlage einen Kompromiss aus bußfertiger Demut und neugermanischer Wirtschaftsüberlegenheit zu finden.

Die Arten der Selbstdarstellung sind in Amerika und Deutschland komplementär. Von Anfang an witterten die Besiedler Amerikas die ätherischen Lüfte von Neu-Kanaan. Das ist die unbesiegbar scheinende Siegerpose des Präsidenten, der vor Kraft des Geistes nicht mehr laufen kann.

Auch seine deutsche Schwester, obgleich demütig im Geiste, fühlte sich lange unbesiegbar. Das Auftreten eines neuen potenten Gegners aber scheint sie ins Schwanken zu bringen. Oft wirkt sie grau und ausgebrannt. Ihre Anhänger werden eifrig für sie beten müssen.

Nach vielen langweiligen Urnengängen verspricht die bevorstehende Wahl mal wieder spannend zu werden. Doch stopp: können wir uns – in unserer behaglichen Konsensgesellschaft – noch trumpistische Kampfabstimmungen leisten?

 

Fortsetzung folgt.