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Weltdorf XXXIX

Hello, Freunde des Weltdorfs XXXIX,

liebe Kinder, lasst euch nicht alles gefallen, schlagt zurück! Testet die Intelligenz der Erwachsenen mit der hinterfotzigen Frage, die da lautet:

Solltet ihr Erwachsene weiterhin – in eurer bekannt dynamischen Zerstörungsbeschleunigung – die Natur und die ganze Menschheit ruinieren: wie lange noch kann sich homo stupidus auf Erden halten?

a) dumme Frage: fortschrittsfeindlich und ohne Mut zum Risikooo,

b) gottlose Frage: die Menschheit muss untergehen, weil es in heiligen Schriften prophezeit wurde,

c) dämliche Frage: der Untergang der Menschheit wird von außen kommen, die Menschheit ist unschuldig,

d) hysterische Frage: schon immer gab es Untergangsprophetien – die Menschheit hat noch alle überlebt,

e) überhebliche Frage: Mensch bestimmt nicht das Sein. Der Sozialismus kennt keine Untergangsideologie – und der siegreiche Kapitalismus vertraut blindlings einer unsichtbaren Hand, die ihn auf allen Wegen schützt und leitet.

Die Gemeinde singt: „Danke für diesen guten Morgen. Danke für unendlich viele visionäre Morgen, die noch kommen werden.“

Mächtige Stimme aus dem Off: „Bitte, danichfür – jetzt aber schleunigst an die Arbeit! Und vor allem: Mathe pauken! Sonst rangiert ihr bald hinter Marokko und Kuwait.“

(Die Redaktion kennt das postfaktische Ergebnis der Studie a priori. Veröffentlicht das Geheimwissen der Kinder aber so wenig wie die ESSPEDEE den Namen ihres Kanzlerkandidaten, – um populistischen Untergangspropheten keine

 Steilvorlage zu bieten. Eingeweihte wissen, wann Armageddon angesagt ist.)

Oliver Kahn kannte das prophetische Geheimnis: ohne Eier – nichts los. Was ist ein Test? Ein Verfahren, das sich wissenschaftlich gibt, wenn es Hodenumfang und Potenz der Wettbewerber misst, um die Siegeschancen der Matadore zu ermitteln (mangels Naturanlagen müssen Frauen leider in die Röhre gucken). Test kommt nicht von testa, Deckel, Geschirr – wie Schwachsinnige verharmlosen –, sondern von testis, Hode. (Wiki)

Test-Osteron ist die moderne Krankheit, alles zu testen, was nicht niet- und nagelfest ist. Zu keinem andern Zweck, als seine spermatozoide Potenz als EQ zu berechnen (EQ = Erfolgsquotient). Trumps EQ ist exorbitant. Gegner lästern, er sei ein einziger ambulanter Hodenprotz. Doch Vorsicht, hier spricht der blanke EQ-Neid. Die Ermittlung des EQ wird umso dringlicher, je mehr sich die leninistische Frage aufdrängt: Wer wen?

Der Sozialismus hat den Wettbewerb mit dem Kapitalismus beileibe nicht verloren. Listigerweise ging er freiwillig unter, damit er den Kapitalismus endothym unterlaufen und zur Klassengesellschaft deformieren kann, die von allwissenden Eliten kujoniert werden müssen.

Es kömmt darauf, wer wen drangsaliert. Wer wem zeigen kann, wo Bartels den Most holt. Auch und gerade – wie Parteistrategen zu formulieren pflegen – in Schönwetter- und Wohlfühldemokratien. Ja, hier besonders. Mit anderen Worten: wir sprechen vom Elitenproblem.

Die Stunde der Eliten schlägt. Hört ihr die Glocken vom Bernwardsturm? Oh rüstet euch, Reichsgenossen. Es dräuet große Not: Hackerhunnen stehen vor den Toren und stürmen unsere Telecom. Schon lag Deutschland im digitalen Entzugs-Delirium. Schon stehen Erdogans Türken vor Wien: Gott mit dir, du felix austria. Und Italien, das Land unserer Sehnsucht? Wird von Flüchtlingsfluten überschwemmt, Nachkommen von Mussolinis Opfern. Kapitalismus bringt es an den Tag, Untaten müssen multipel bezahlt werden. Und wenn es noch so lange dauert. Gottes Mühlen mahlen langsam.

Es muss eine Verschwörungstheorie sein. Zeitgleich mit der PISA-Enthüllung legen russische Hacker deutsche Lebensadern lahm. Und wer ist schuld? Unsere Kinder, die das Einmaleins nicht lernen wollen – um den unsichtbaren Feinden aus dem Osten bei Tannenberg zu widerstehen. Unsere Lehrer, die sich als Robin Hoods betätigen und sich übermäßig um die Abgehängten kümmern – anstatt um die Schlaumeier, deren Genialität sie vermodern und verderben lassen. Oder sind es die Flüchtlingskinder, die es wagen, alle IQs und EQs statistisch zu unterlaufen? Hört endlich auf mit eurem Sozialgeseire und macht Mathematik, schreibt Dorothea Siems, first Lady des Neoliberalismus, in der WELT:

„Etlichen Bildungspolitikern in Deutschland geht es indes schon lange nicht mehr darum, in den Schulen Hochleistungen hervorzubringen. Sie propagieren lieber gleiche Bildung für alle. Weil aber niemals alle Kinder auf das höchste Niveau kommen können, findet hierzulande schleichend die Nivellierung nach unten statt. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes dumm.“ (WELT.de)

Gleiche Bildungschancen – ade! Gleichheit ist Nivellierung. Jedem das Seine, jedem das Ungleiche. Wer hat, dem wird gegeben. Wer nichts hat, dem wird genommen, was er hat. Religiöses Ethos ist Klassengesellschaft, unübersteigbare Kluft zwischen Erwählten und Verworfenen.

Pflichtkotau der WELT-Schreiberin vor der Integration der Flüchtlingskinder – doch Mathe ist weitaus wichtiger als das Sozialgedöns. Wie sollen wir den Wettbewerb der Nationen bestehen, wenn nur social correctness die Kinder verwöhnen soll? Schluss mit der schulischen Helikopterei. Gelobt sei, was rechnen kann und mit geheimnisvollen Formeln die Welt beherrscht.

„Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt. Und über das alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die wollten von hinnen hinabfahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren.“

Gleichheit vor dem Gesetz wird durch Ungleichheit vor dem Mammon zur Unkenntlichkeit geschleift. Gleichheit war nie absolute Uniformität von Talenten, Neigungen und Temperamenten. Das Unvergleichliche war – gleich viel wert. Das war der Schlüssel zur Demokratie.

Demokratische Kompetenz kann sich jeder erwerben. Die Autonomie des Denkens ist keine Funktion der Begabung. Die Genialsten können demokratische Idioten sein. Einen Demokraten erkennt man an der Fähigkeit der Akzeptanz, jedem Menschen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Mit fachidiotischer Brillanz hat das nichts zu tun.

Wenn Gleichheit vor dem Gesetz durch Ungleichheit vor Besitz und Begabung zu Schanden geritten wird, ist Matthäi am letzten mit der Demokratie. Die Hypertrophie der ökonomischen Konkurrenzreligion schleift den letzten Rest demokratischen Ethos‘ am Strick hinter sich her.

Der Schluss von fachlicher Fähigkeit auf demokratische Tugend ist ein Trugschluss, wenn auch ein äußerst beliebter. Besonders in Deutschland. Die Kanzlerin ist eine Physikerin, ergo muss sie eine rationale Politikerin sein. Jener spricht ein akzentfreies Oxford-Englisch, also muss er ein idealer Außenminister sein. Oder umgekehrt: Hitler war ein schulischer Versager und hoffnungsloser Postkartenmaler – also hätte er eine politische Null sein müssen.

Schon mal von den Schattenseiten des wissenschaftlichen Positivismus gehört? Die Positivisten wollten nur beweisbare, also wissenschaftlich begründbare Sätze zulassen. Was nicht experimentell oder sonstwie überprüfbar war, war Geschwafel. Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Und sie schwiegen sich in Magie, Schamanentum und allerlei schwarze Kunst: die Anbeter des reinen Szientismus. Mit welchem Experiment soll bewiesen werden, dass man menschlich sein soll?

Beweisen heißt, mit Hilfe von Naturgesetzen einen Nachweis führen. Natur aber ist alles: egoistisch und altruistisch, einfühlsam und grausam. Der Mensch, selbst Naturwesen, muss sich entscheiden und wählen, was er als Norm betrachten will.

Der naturalistische Fehlschluss schließt vom Sein auf ein Sollen, das dieses für gut, jenes für schlecht erklärt. Moral muss ausschließen, sonst ist sie keine. Das Sein schließt nichts aus. Eine Moral, die alles erlaubt – wie die antinomische der Christen – ist eine amoralische Moral.

Kann der Mensch von der Natur lernen? Von wem soll er sonst lernen? Doch er lernt nicht durch blindes Imitieren. Wie jede Tierart ihre spezielle Moral entwickelt, so auch das evolutionär späte Tier mit Bewusstsein. Dabei wird er nicht zu einer jenseitigen Chimäre. Mit seinem Motto: alles prüfet, das Beste behaltet, entfernt sich der Mensch nicht von der Natur. Er bleibt Naturwesen, wenn auch ein spezielles, wie alle Tier- und Pflanzenarten spezielle bleiben.

Sokrates wandte sich nicht ab von der Natur, als er sagte: die Natur da draußen könne ihn nichts mehr lehren – um sich hinfort dem Menschen zu widmen. Die „sokratische Wende“ war keine konträre, sondern eine komplementäre. Der äußeren Natur als Lehrmeisterin des Menschen folgte die innere. Der Mensch war selbst Natur. Wie konnte es eine Abwendung von der Natur sein, wenn Sokrates die Natur des Menschen ergründen wollte?

Die Test-Osteronitis schwappt über alle Ufer. Die Eliten wollen ausgemendelt werden mit der quantitativen Wünschelrute. Wie im platonischen Idealstaat, in dem die Jugendlichen durch alle Phasen ihres Heranwachsens beobachtet und überprüft wurden, um die Weisesten herauszudestillieren, denen die absolute Macht gebührte, so geschieht es in der zunehmend platonisierten Demokratie. Platons Elitismus ging bis zum biologischen Rassismus. Nur die besten Weibchen und Männchen sollten sich paaren, um den besten Nachwuchs zu zeugen. Die NS-Schergen kannten ihren Platon. Darwin war für sie nur eine marginale Bestärkung ihrer rassischen Selektion.

Eliten wollen unter sich bleiben: wir sind die Eliten, wir sind das eigentliche Volk. Wie sie auf das Volk eindreschen, das sich ihnen lautstark entgegenstellt: wir sind das Volk. Volksversteher müssen rechts und populistisch sein, sagen die Elitenversteher, die nicht minder als rechte Beglücker des Volkes auftreten.

Wer kann das Volk besser führen als die Eliten? Also sind sie – nach ihrer eigenen Definition – die wahren Populisten. Wer die „bösen Populisten“ attackiert, weil er alles besser kann, muss selbst ein besserer sein. Wie könnten sie die bösen angreifen, wenn sie nicht den Anspruch erhöben, jene zu durchschauen? Oder attackieren sie nur, um sich post factum zu entschuldigen: Pardon, war nicht so gemeint, wir verstehen noch weniger von der Materie?

Populisten, so ein Soziologe, erhöben den Anspruch, nur sie verständen etwas von der Sache. Selbst wenn es so wäre, müssten dann nicht auch Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno und andere Einzelgänger geltungsbedürftige Populisten gewesen sein? War Luther kein Populist, wenn er allen Eliten ins Angesicht widerstand: Hier steh ich, ich kann nicht anders? Ist Lutheranerin Merkel keine Populistin, wenn sie ihre Erdrosselungswirtschaft gegen alle Welt verteidigt: ich weiß, dass ich Recht habe?

In einer Demokratie kann es Fachleute und Spezialisten für arbeitsteilige Aufgaben geben. Doch Spezialisten für Demokratie gibt es keine. Kohl nannte sich Generalist, er hatte Recht. Jeder Demokrat hat sich über alles Wichtige eine Meinung zu bilden. Wie könnte er sonst die Lösungsvorschläge derer bewerten, die gewählt werden wollen?

Wäre Demokratie geworden, wie Machteliten es dem Volk einhämmerten, wäre sie am Boden zerstört. Längst haben sich die Eliten päpstliche Unfehlbarkeit angemaßt. Dem Volk wird eingeimpft: die Realität ist hyperkomplex, Probleme sind nicht lösbar: basta, wir haben gesprochen. Wie wär‘s, das ungläubige Volk zu exkommunizieren und sich – wie Bertolt Brecht empfahl – ein neues zu suchen?

Ist das Ganze lächerlich, so hat es doch Methode. Das Volk wird nicht unterrichtet, weil es doof ist. Es wird schamlos angelogen. Ja, man verhöhnt es auf offener Bühne. Hannelore Kraft weiß, dass es einen Kanzlerkandidaten gibt – aber sie sagte kein einziges Wort. Das Volk verwies sie auf die billigen Plätze: wir sind die Klasse der Wissenden, ihr müsst glauben und hoffen. Wie in Theokratien dürfen nur Priester ins Allerheiligste, der Platz vor dem Tempel ist für die profane Meute.

Warum hielt der Watergateprozess die Amerikaner so in Atem? Weil das Geheimste ans Licht kam, der Untersuchungsausschuss in alle Wohnstuben übertragen wurde. Es war der letzte große Selbstreinigungsakt der Weltmacht.

Bei uns sind alle Ausschüsse geheim. Nicht mal Gewählte dürfen die TTIP-Verhandlungen kontinuierlich unter die Lupe nehmen. Alles wird der ökonomischen Geheimniskrämerei unterworfen. Wenn jeder jeden übers Ohr schlagen will, muss das Licht gelöscht werden. Demokratische Vorgänge werden der wirtschaftlichen Ranküne unterworfen.

Woran erkennt man Eliten? An der Macht, ihre Eigenschaften eigenmächtig zu bestimmen. Fleischhauer plädiert für Eliten, die den Konjunktiv beherrschen, weil er stolz ist auf seine erlesenen Konjunktive. Fricke will tadellos englisch parlierende Eliten oder Menschen, die nicht vulgär Müller heißen, weil er nicht Müller heißt.

„Was jetzt nötig ist, ist kein vordergründiges Elitenbashing, sondern mehr Elite – im besten Sinne. Immerhin geht es gerade darum, die Krise jener Globalisierung zu meistern, die einen dramatischen Rückfall in alte Nationalismen auszulösen droht. Und das alte naive Paradigma durch ein neues zu ersetzen. Ziemlich gut qualifizierte Leute, die sich darüber Gedanken machen, wie man die irrsten Folgen dieser Entwicklung beseitigt.“ (SPIEGEL.de)

Waren es nicht exzellent ausgebildete Eliten, die die Welt ins finanzielle Chaos stürzten? Worin soll ihre Exzellenz bestehen, wenn sie vornehm behaupten, die Welt sei nicht verstehbar, Lösungen könne es keine geben? Wollen sie damit nicht den Freifahrtschein für die nächste Weltkatastrophe? Was soll die Warnung vor Besserwisserei, wenn sie besserwisserisch behaupten, keine Besserwisser zu sein? Warum warnen sie ständig vor einfachen Lösungen, wenn nicht, um dem Volk seine Inkompetenz einzuhämmern?

Alles Komplexe entstand – aus einfachen Problemen, die nie gelöst wurden und allmählich zu wirren Problemkomplexen anwuchsen. Also müssen sie wieder in ihre ursprünglichen Einfachheiten dekonstruiert werden, bis sie so überschaubar sind, dass selbst Eliten sie verstehen.

Bei Naturwissenschaftlern werden einfache Lösungen als geniale bewundert. Einstein, Heisenberg e tutti quanti erkannten wissenschaftliche Lösungen an ihrer finalen Einfachheit. Die Fähigkeit, das Komplexe auf seine Einfachheit zu reduzieren, galt bis gestern als Höhepunkt der Erkenntnis. Heut kehrt alles zurück in die theologische Anbetung des Unverständlichen. Der Creationismus, der alles mit der Bibel erklärt, hält Einzug auf allen Gebieten.

Unter Trumps Leuten sollen sich schon Creationisten befinden. Lange wird es nicht mehr dauern, bis der erste Welterklärer sola scriptura auf der Berliner Regierungsbank sitzen wird. Frommes Problemelösen durch ständigen Verweis auf Gottes Willen – ist das nicht zu einfach? Dann müssten wir nicht mehr denken, nicht mehr streiten, niemanden mehr wählen. Gott löst alle Probleme pro nobis.

Test-Osteronitis für eine Prostata-Demokratie: das ist der Sinn des Elitismus (Prostata = Vorsteher). Hat Elitenforscher Hartmann nicht Recht, dass elitäres Verhalten nicht erlernbar sei? Erwähltheit muss man mit der Muttermilch eingesogen haben, damit man sie wie eine zweite Haut präsentieren kann. Erwählte erkennen sich ohne Worte. Emporkömmlinge und Neureiche entlarven sie auf den ersten Blick.

Als Erhard eine formierte Demokratie forderte, wurde er von jenen Gazetten gescholten, die heute am meisten die formierte Elite fordern. Eliten suchen Fachleute, die elastisch funktionieren. PISA will die Gesellschaft bis in die Kita hinein formieren.

Ist die Testmanie wissenschaftlich begründbar? Sind Tests überhaupt – pardon – objektiv? Besonders in postmodernen Zeiten, die objektive Wahrheit für veraltet erklärten? Plötzlich sollen mathematische Fähigkeiten besserwissende Wahrheiten bezeugen? Ist ein Wunder geschehen? Können Eliten, die sich derart in Widersprüchen verstricken, Garanten für objektive Erkenntnis sein? Von Kindern verlangen sie logische Folgerichtigkeit – und können selbst keinen Satz formulieren, der nicht windschief und nebulös wäre? Glauben sie wirklich, Kinder seien zu blöde, um die Heuchelei der Erwachsenen nicht zu sehen?

Kinder werden irre an ihren einfachen und geradlinigen Denkfähigkeiten, wenn sie die Welt als unerkennbare Geisterbahn betrachten sollen. Sie fühlen sich hinters Licht geführt – und protestieren mit Leistungsverweigerung.

Um die simpelsten Fragen zu stellen. Haben die Lehrer die Kinder mit den mathematischen Problemen ausreichend vertraut gemacht, wie sie in den Tests verlangt wurden? Waren die Symbole bekannt? War die Fragestellung in Stil und Inhalt genügend eingeübt? Wer kennt nicht den Prüfungs-Sadismus deutscher Pädagogen, in offiziellen Prüfungen Dinge zu verlangen, denen man im Schulalltag nie begegnete? Da wird im Abitur ein 1000 Meterlauf, in Bundeswettkämpfen Weitsprung und Kugelstoßen verlangt: Disziplinen, die man nie trainieren konnte. Glück hatte, wer in Vereinen war.

Wie funktioniert ein Test? Er misst Quantitäten. Wären die Quantitäten objektiv wie Körpergröße oder Blutdruck, wäre der Test objektiv. Ist er aber nicht. Das geben alle Testtheoretiker zu:

„Intelligenz als Messgegenstand dieser Tests ist ein nicht direkt messbares Konstrukt. Anders als zum Beispiel bei der Körpergröße ist die Bestimmung der Intelligenz mittels Intelligenztests immer mit einem Messfehler behaftet. Es existiert kein Intelligenztest, der alle Teilbereiche der Intelligenz umfasst. Dennoch wird das Ergebnis bei fast allen Tests als Intelligenzquotient (IQ) ausgedrückt. Oberflächlich gesehen könnte man daher denken, es handele sich um dieselben erfassten Fähigkeiten. Doch Vorsicht: IQ ist nicht gleich IQ, und es gibt auch nicht den IQ-Test! Man kann das Intelligenzkonstrukt, auf dem klassische Intelligenztests beruhen, laut Jens Asendorp folgendermaßen charakterisieren: „Intelligenz ist, was Intelligenztests messen, die so konstruiert wurden, dass sie das Bildungsniveau möglichst gut vorhersagen, oder kurz: Intelligenztests messen die Befähigung zu hoher Bildung.“ (Wiki)

Schon bei der Definition der Intelligenz gibt’s nur Pleonasmen oder hohle Plattitüden: Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst. Das ist ordinärer Zynismus, geadelt zur wissenschaftlichen Grundlage. Nicht die Wirklichkeit wird gemessen, sondern das, was der Messende willkürlich als Wirklichkeit definiert.

Kein Zufall, dass Tests keine absoluten Skalen haben. Testskalen sind Ordinal- oder Intervallskalen der Art: X war besser als Y. Um wie viel besser, weiß man nicht. Mit solchen Zahlen dürfte man gar nicht rechnen. Dennoch werden statistische Erkenntnisse abgeleitet und propagiert, um in der Öffentlichkeit zu prunken. Die gemessenen Eigenschaften, die man für Indikatoren der Intelligenz hält, sind willkürlich und erbringen keine verlässlichen Erkenntnisse. Was in Amerika intelligent ist, muss es nicht in Europa sein, was bei Technikfanatikern, nicht bei Urwaldindianern.

Mathematik scheint die Ausnahme von dieser IQ-Relativität sein. Sie gilt als Urmuster unveränderlicher objektiver Wahrheit. Pythagoras begründete das mathematische Denken des Abendlandes: das Wesen der Dinge liegt in der Zahl. Diese Zahl aber schwebte nicht über den Wassern. Sie war das Urmerkmal der „Weltordnung, die auf mathematischen Verhältnissen und Gesetzen beruhte. Die Welt war ein Kosmos, eine auf Zahl und Maß begründete gesetzmäßige Ordnung.“ „Das Erkennen dieses Kosmos war die Voraussetzung, die Welt der Menschen nach denselben Prinzipien des Maßes und objektiver Regeln einzurichten.“

Für postmoderne Dunst- und Wolkenbildner sind solche Sätze nicht mehr verstehbar. Die Welt der Modernen ist ein Panoptikum der Beliebigkeiten und Uneindeutigkeiten. Nur an einer einzigen Stelle wird dieses Schaumschlägerprojekt unterbrochen – in der Mathematik soll alles plötzlich präzis und eineindeutig sein.

Für Kinder ein niemals nachvollziehbarer Graus. Die Realität sollen sie mathematisch-objektiv erfassen und erleben doch täglich die furchterregende Irrationalität und grauenhafte Bigotterie der Erwachsenenwelt. Wie könnten sie dieses Gespensterhaus rational durchdringen und berechnen?

Das Problem der Kinder ist nicht das Rechnen. Sie sind ja nicht blöd. Das Problem ist der Transfer ihres Rechnens auf die Wirklichkeit: müsste die Wirklichkeit nicht so wohl geordnet sein, dass man sie mit kosmischer Rationalität erfassen könnte?

Was in Schulen vollständig fehlt, ist die Psychologie des Rechnens. Die Erforschung jener zumeist nie ausgesprochenen internen Assoziationen und Gedanken, die das Kind individuell mitbringt – und auf die mathematischen Aufgaben überträgt. Nie wird gefragt, aus welchen Gründen die Kinder an ihren Rechenaufgaben scheiterten. Scheitert ein Kind, hat es Pech gehabt – eine Ursachenforschung findet nicht statt. Dem Kind wird Dummheit attestiert, also hält es sich für dumm. Seine Blockierungen lernt es nicht erforschen und aufzuklären. Wenn ein Kind im Unterricht Nichtverstehen signalisiert – wozu es schon viel Mut aufbringen muss –, wischt der Lehrer, selbst der gutmütigste, die Tafel ab und wiederholt monoton seinen Vortrag. Ende der Fahnenstange.

Psychotherapeuten analysieren Verirrungen der Seelen, niemals die Verwirrungen des Intellekts. Nur eine Erkenntnis hat sich bei ihnen herumgesprochen: haben Eltern Probleme mit Geld, streiten sie ständig über Finanzen, kann das Kind keine Ordnung in seine Zahlen bringen. Wer aber hat im Kapitalismus keine Probleme mit Geld? Je mehr sich die Familie abgehängt fühlt, je weniger kann das Kind gerechte Verhältnisse erkennen und überlässt das Chaos sich selbst. Warum sind Deutsche mathematisch so schwach auf der Brust? Warum sind sie geradezu stolz auf ihr Mißverhältnis zur kosmischen Ordnung der Zahlen? Weil sie kapitalistisch gespalten sind. Tief innerlich hassen sie den Mammonismus, im Alltag gebärden sie sich als lärmende Wirtschaftshelden.

Kinder haben keine Rechen-, sondern Denkprobleme. Wären sie geschult in griechischer Philosophie, würden sie die Frage stellen: ist es wirklich möglich, mit rationalen Methoden die Wirklichkeit zu erkennen? Müsste dann die Wirklichkeit nicht objektiv sein?

Da Lehrer von „metaphysischen Ergüssen“ nichts halten, sind sie unfähig, die Kinder zu verstehen – die in ihrer ontogenetischen Entwicklung auf der Stufe der Griechen stehen. Den Ballawatsch der Moderne, es gebe keine Objektivitäten, sondern nur unendliche Perspektiven, die alle gleich wahr seien – verstehen sie nie und nimmer.

Je mehr die Jugendlichen sich der Erwachsenenwelt nähern, je verwirrter werden sie. Galt in ihrer Kindheit noch die eindeutige Moral gegenseitiger Fürsorge, müssen sie erstaunt und konsterniert zur Kenntnis nehmen, dass Erwachsene in zwei moralischen Welten leben: zuhause human und aufrichtig, in der Politik machiavellistisch, hinterlistig und heuchlerisch.

Warum lassen gerade in der Pubertät die rationalen Fähigkeiten der Jugendlichen nach? Weil sie verstört zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Welt weder rational noch moralisch tickt. Ihr Glaube an eine vernünftige Welt geht ihnen verloren. Sie werden misstrauisch gegen ihre Eltern – und müssen sie dennoch verteidigen. Denn sie brauchen die emotionale Rückendeckung der Eltern, die sie am liebsten auf den Mond schießen würden. So sitzen sie eingeklemmt zwischen Baum und Borke.

Der griechische Objektivismus, der unerschütterliche Glaube an eine wunderbar geordnete Welt, ging spätestens bei Beginn der Neuzeit verloren. Der Begriff der Wahrheit war kein Erkennen des Kosmos mehr, sondern wurde an Macht und Erfolg geknüpft. Wissen ist Macht. Was mir nützt, muss wahr sein. Kein Zufall, dass in Amerika, dem Land des stärksten Kapitalismus, die Philosophie des Pragmatismus entstand. Werdet reich und beherrscht die Welt – und die Wahrheit ist auf eurer Seite.

John Dewey verwarf die zeitlose Wahrheit der Griechen. Wahrheit wurde für ihn zu einem Entwicklungsprozess, der alle Wahrheiten ständig neu erfinden konnte.

„Die Wahrheit ist nach Auffassung der meistens Philosophen statisch und endgültig, vollkommen und ewig; in religiöser Terminologie lässt sie sich mit dem Denken Gottes identifizieren und mit jenen Gedanken, die wir als vernünftige Wesen mit Gott teilen. Das vollendete Modell der Wahrheit ist die Mathematik, die präzis, sicher und frei ist von allen irdischen Schlacken.“ (Bertrand Russell)

Die Lehre von der zeitlosen und objektiven Wahrheit war die Lehre des Pythagoras über Platon, die Stoiker bis zu Plotin. Erst das Christentum machte aus der zeitlosen Wahrheit die wechselnde Wahrheit einer Offenbarung in der Zeit. Gott war seiner Wahrheit nicht untertan und konnte sie nach Belieben verändern. Diese zeitlich fließende Willkür der Wahrheit wird zum Paradigma der Neuzeit. Am deutlichsten bei den Pragmatikern. Besonders tragisch bei John Dewey, dem einfühlsamen Pädagogen und vorbildlichen Demokraten.

„Dewey interessiert sich mehr für Biologie als für Mathematik; im Denken sieht er einen Entwicklungsprozess. In jungen Jahren hatte er sich von Hegel beeinflussen lassen, der noch an eine absolute und ewige Welt geglaubt hatte. In der fließenden Welt Deweys gab es keinen Platz mehr für solche Absolutheiten. Alle Wirklichkeit war für ihn zeitlich, der Fortschritt evolutionär und nicht – wie bei Hegel – die Entfaltung einer ewigen Idee.“ (Russell)

In der Auflösung der Objektivität erkannte Russell den Verlust aller verbindlichen Wahrheit, den er mit außerordentlich scharfen Worten kritisierte: „In alledem sehe ich eine ernstliche Gefahr, die Gefahr einer kosmischen Pietätlosigkeit. Zu den Mitteln der Philosophie, der Menschheit das Element der Bescheidenheit einzuprägen, gehörte der Begriff der Wahrheit, und zwar jener Wahrheit, die auf weitgehend außerhalb des menschlichen Herrschaftsbereiches liegenden Fakten beruht. Wenn der modernen Überheblichkeit nicht mehr auf diese Weise Einhalt geboten wird, dann ist ein weiterer Schritt getan auf dem Wege zu einer bestimmten Form von Wahnsinnzum Machtrausch, der mit Fichte in die Philosophie eindrang und zu dem Philosophen wie Nicht-Philosophen neigen. Nach meiner Überzeugung liegt in diesem Rausch die größte Gefahr unserer Zeit, und jede Philosophie, die – wenn auch unabsichtlich – dazu beiträgt, verstärkt die drohende Gefahr einer ungeheuren sozialen Katastrophe.“ (Philosophie des Abendlandes)

Die PISA-Gelehrten, blinde Agenten konkurrierender Machtrausch-Gesellschaften, verstehen weder etwas von Kindern, noch von Philosophie. Sie haben nur ein Ziel: die Jugendlichen zu funktionierenden Rädchen einer irrationalen Welt abzurichten. Einer Welt, die Russells Diagnose ignoriert und mit blindwütigem Hurra der „drohenden Gefahr einer ungeheuren sozialen Katastrophe“ entgegen rast. Die Schule macht sich zum bewusstseinslosen Instrument dieser „kosmischen Pietätlosigkeit oder einer bestimmten Form von Wahnsinn“.  

Diese pietätlose Welt ahnen die Kinder – und verweigern sich. Bis sie, im Kampf um einen Platz in der Welt, gezwungen werden, sich geräuschlos anzupassen.

 

Fortsetzung folgt.