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Weltdorf XXXII

Hello, Freunde des Weltdorfs XXXII,

niemand will unter Merkel Bundespräsident werden. Eine Frau, die ihr die Schau stehlen könnte, will sie nicht. Die Reihe der phallischen Mächtigen des Wortes und Ohnmächtigen der Tat ist ausgedünnt, ja, es gibt sie nicht mehr. Wo der sanfte Gorgonenblick der Kanzlerin hinfällt, wächst kein androides Gras mehr. Eine echte Wahl will sie nicht, das gab‘s in ihrer Jugend auch nicht. Vor der Wahl will sie bestimmen, wer die Wahl gewinnt. Eine Wahl dem Zufall oder unberechenbaren Wählern überlassen – nein, das ist für sie keine Gewissensdemokratie. So war‘s auch in ihrer behüteten Jugend.

Gibt’s denn keine arbeitslosen Ghostwriter, keine entlassenen Edelschreiber mit sonorem Bariton und rhetorischer Zusatzausbildung, möglichst mit vollem Haupthaar und leidlich vorzeigbarer besserer Hälfte, die man aus ihrem abgestürzten Hartz4-Elend ins Schloss Bellevue locken könnte? Gibt’s denn nicht mal hergelaufene Populisten, die präsidial an einer uniformierten Kohorte vorbeimarschieren können?

Steht eine Nation nicht vor dem Abgrund, wenn es niemanden gibt, der sie ruhigen Schritts und Tritts – in den Abgrund, pardon, in eine grenzenlos verheißungsvolle Zukunft, führen will? Ihr strenger Vater mit dem hohen Predigtton traute es ihr nicht zu, doch ihre tatkräftige Mutter wusste es: Klein-Angela wird zuerst die Wessies erobern, dann Europa, am Schluss Gottes eigenes Land, warum nicht die ganze Welt? Wie prophezeit, so eingetreten:

„Die Deutsche sei nun die „letzte Verteidigerin des liberalen Westens“, schreibt die New York Times in einem Kommentar. Und mit ihr liege nun eine große Last auf allen Deutschen. „Noch nie zuvor hing so viel von den Deutschen ab“, zitiert die Times den stellvertretenden Direktor des „Zentrums  für europäische Reformen“ Simon Tilford, der in London sitzt. „Wir können uns glücklich schätzen, dass Deutschland von Merkel regiert wird. Denn wenn es jemanden gibt, der jetzt Verantwortung übernimmt und das Richtige für Europa tut, dann sie.“ Ihr mutiger Ton sei ein Indiz dafür

wie weit Deutschland gekommen ist, seit die Großzügigkeit und der Schutz der Amerikaner dem Land geholfen hatten, sich von der Niederlage der Nazis zu erholen, zu Wohlstand zu gelangen und die Trennung durch den Kalten Krieg zu überstehen. Deutschland sei längst zu einer Führungsmacht geworden, auch wenn es aufgrund seiner Geschichte als Militär-Macht immer noch mit großer Skepsis betrachtet werde. … Und deshalb blicke die Welt nun auf Angela Merkel.“ (BILD.de)

Nicht die Deutschen sollen die Welt retten. Nur sie, die Einzige und Engelgleiche. Ihr dumpfes Volk indessen habe nichts verstanden, weder vom Nationalsozialismus noch vom Kommunismus. Wie könnten sie sonst Putin, den Mogul aus Moskau, bewundern?

„Demgegenüber stünde die Tatsache, dass viele Deutsche die Lehren aus dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus nicht gelernt hätten. Vielmehr würden sie Donald Trumps Bewunderung für Wladimir Putin teilen.“

Wer bewundert Putin? Ist Verstehen schon bewundern? Die New York Times versteht nichts von Amerikanern und nichts von Deutschen. Beim Putin-Bewundern geht es um einen unterschwelligen Underdog-Effekt. Dass der kleine Bruder Putin so wütet, liegt daran, dass der große Bruder in Washington ihn ständig getreten und gedemütigt hat. Es war Putin, kein amerikanischer Präsident, der im Bundestag reden durfte. Damals noch im Geiste Gorbis, an den sich heute niemand mehr erinnern will. BILD und New York Times, die besten Gazetten der Welt, basteln an einer transatlantischen Bluttransfusion. Gebt ihr uns eure Merkel, bekommt ihr unsere amerikanischen Visionäre:

„Es gibt Menschen, die haben eine Vision. Diese sechs Visionäre sind mit ihren Träumen schon sehr erfolgreich.“ (BILD.de)

Zuerst retteten und erzogen die Amerikaner die Deutschen. Jetzt sind die Schüler an der Reihe, um ihre Lehrer, die unter ihrer eigenen Botschaft darben, zu erziehen und zu retten. Es ist der Sohn-Gottes-Effekt, der sich in einen Tochter-Gottes-Effekt verwandelte. Wenn der himmlische Vater es nicht schafft, seine verdorbene Menschheit zu retten, muss sein Sohn ins Fleisch fahren, um die Blöße des Vaters zu bedecken.

Politpädagogisch haben sich die Retter und Lehrer Deutschlands seit Reagan verausgabt, der es für richtig hielt, den Roosevelt‘schen New Deal zu zerschlagen, den Ausgleich der Klassen zu beenden und den Neoliberalismus zugunsten der Superreichen zu installieren.

Nach dem Trump-Desaster können die deutschen Schüler beweisen, dass sie ihre Lektionen gelernt haben – indem sie ihre Retter retten. Das messianische „Yes, we can“ des amerikanischen Präsidenten wurde zum messianischen „Wir schaffen das“ der deutschen Pastorentochter. Ein einheimischer Schwarzer und eine adoptierte Musterschülerin: zwei Außenseiter sollen das transatlantische Herzensbündnis retten.

Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Gerade aus Nazareth muss es kommen. Die Letzten werden die Ersten sein. Die New York Times, die schon oft bewies, dass sie ihr eigenes Land nicht verstanden hat – man lese die Schriften Chomskys – weil sie Trump keine Chance einräumte, beweist nun ihre Unfähigkeit, das lutherische Deutschland zu verstehen. Merkels Deutschland denkt obrigkeitlich und überlässt es dem himmlischen Vater, wann die Geschichte der civitas terrena (des irdischen Teufelsstaates) zu Ende gehen wird. Amerika hingegen lebt bereits im neuen Kanaan, das von chiliastischen Visionären und Propheten nur perfektioniert werden muss, bis der Messias wiederkommen wird. Solche civitas-dei-Vergöttlichungen des irdischen Staates sind Deutschen suspekt – nachdem sie mit eigenen Reich-Gottes-Phantasien im Dritten Reich mit entsetzlichen Folgen scheiterten.

Die riesige Religionskluft zwischen alter und neuer Welt besteht in verschiedenen Auffassungen vom Ende der Welt. Im Geiste seines Lehrers Augustin, der die Herrschaft des Papsttums stärken wollte durch Verschiebung des Neuen Reiches ins Unbestimmte, unterwarf sich Luther der Herrschaft der Civitas Terrena, bis Gott selbst dem teuflischen Gebilde ein Ende bereiten würde. Auf theologisch:

„Augustinus ist ein Vertreter des Amillenarismus und sprach sich gegen den Prämillenarismus aus, der die frühe Eschatologie prägte. Zunächst dachte er in damaliger Sicht von 5000 Jahren von Adam bis zur Fleischwerdung Christi, an der sich das tausendjährige Reich anschließt. Dann argumentierte er, unter Einfluss der allegorischen Auslegung, das tausendjährige Reich bezeichne kein irdisches Reich sondern bezeichne „symbolisch“ den Zeitraum zwischen Jesu erstem und zweitem Kommen. Durch Augustinus verbreitete sich der Amillenarismus in der westlichen Kirche.“

An der Oberfläche wird der Westen durch demokratische Prinzipien zusammen gehalten. Knapp unterhalb des demokratischen Ichs aber waltet ein christogenes Über-Ich, das die demokratischen Werte erst erfunden haben soll. Ein kompletter Wahn und eine gesamtwestliche Geschichtslüge. Nicht Gott hat den Menschen die Freiheit geschenkt, wie der wiedergeborene Ex-Präsident Dabbelju faselte. Die Idee entstammt dem Matriarchat, dessen Gleichheits- und Freiheitsdenken von der männlichen Hochkultur untergepflügt und in der griechischen Polis peu à peu wieder zum Leben erweckt wurde.

Abgesehen von diversen Einflüssen aufgeklärter Gründerväter ist Demokratie in Amerika vor allem Überbau, der windschief auf die Fundamente des biblischen Credo gestellt wurde. Die Deutschen besitzen überhaupt keine selbsterarbeitete demokratische Grundlage. Alles, was sie von Demokratie intus haben, verdanken sie Nachkriegslektionen ihrer Befreier.

Alle Staatsformen, die sich die Deutschen selbst zu verdanken haben, sind perfekte Mixturen aus göttlicher Obrigkeit und einem „Kulturprotestantismus“, dem jedes demokratische Denken fremd und glaubensfeindlich war. Adolf von Harnack und andere protestantische Theologen waren nicht umsonst die engsten geistlichen Berater des Kaisers Willem. Bismarck, ein frommer Pietist, führte einen „Kulturkampf“ im Stile Luthers gegen die Unfehlbarkeitserklärung des Papstes im Jahre 1880.

Religion und Nation waren in deutscher Tradition eine Einheit. Der Nationalsozialismus verstand sich gar als ökumenische Wiedervereinigung der lange zerstrittenen Protestanten und Katholiken.

Das Lutherjahr hat das ökumenische Denken erneut angefacht. Benedikt und Franziskus ernennen Luther nachträglich zum gemeinsamen Heiligen aller Deutschen und Christen. Kein Zufall, dass die demonstrativen Einheitsbekundungen der Kirchen zusammenfallen mit dem neuen Größenwahn der Deutschen, die nun – mit freundlicher Unterstützung eines Herrn Trump – die ramponierte amerikanische Berufung durch eine deutsche Heilige regenerieren sollen.

Stand doch bereits die Wiederbelebung der europäischen Idee in der Romantik unter dem Zeichen der gemeinsamen Religion. Für Adam Müller, einem der führenden Ideologen der Romantiker, war Christus „der im Mittelpunkt der Weltgeschichte stehende Mittler oder der einzige Universalmonarch“.

Novalis setzte all seine Hoffnungen auf Königin Luise und das heilige Paar auf dem preußischen Königsthron. Mit seiner Verklärung der heiligen Familie auf dem preußischen Thron romantisierte Novalis vor allem Königin Luise – das leibhaftige Vorbild Merkels – „gleich als ob er das Glück, das er vor kurzem noch im eignen Hause sich zu gründen gehofft hatte, nun doch wieder auf die Erde versetzt, als ob er es auf diese fürstliche Familie und den um diese Familie sich neugestaltenden Staat übertragen hätte.“ (Rudolf Haym, Die Romantische Schule)

Luise war besonders geeignet, die Liebe und Verehrung ihrer Untertanen zu gewinnen, weil ihr Gatte gar nicht für diesen Job geeignet war. Auch heute sind die Männer in der Entourage der Kanzlerin untauglich, die warmen Gefühle ihrer Untertanen auf sich zu ziehen:

„Von Novalis wird Friedrich Wilhelms Berufung zum König mit seiner Liebe zu der „Herrlichen“ begründet, das sich liebende Paar und die stets wachsende Schar seiner Kinder wird ihm zum Vorbild für alle Familien im Lande, und in der Thronbesteigung der Liebenden glaubt er den Beginn eines Staatswesens zu sehen, das die Geborgenheit einer Familie hat. Den „Ewigen Frieden“ glaubt er in der schönen Königin verkörpert. Bei aller Übersteigerung seiner Visionen machen diese doch deutlich, welche Bedeutung die Liebe des Volkes zu seiner Königin im Zeitalter der Französischen Revolution hatte, als überall Umwälzungen drohten und der Schreck über die Enthauptung des französischen Königspaares noch nicht überwunden war. Sich die Liebe seines Volkes zu erringen, war dem öffentlichkeitsscheuen Friedrich Wilhelm nicht gegeben, und Luise, die von Anfang an den Eindruck erweckte, dass sie die Liebe, die ihr entgegengebracht wurde, auch erwiderte, füllte des Manko hervorragend aus.“ So die WELT.

Die Amerikaner, unter dem Schock des unerwarteten Wahlausgangs, der einer Summa aus 9/11 und dem Angriff auf Pearl Harbour gleichkommt, wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. In dieser nationalen Tiefenkonfusion erinnern sie sich dunkel ihrer Herkunft aus Europa, die sie bis heute rigoros verdrängt hatten. Europa war das ägyptische Sklavenhaus, das sie fluchtartig und auf Nimmerwiedersehen hinter sich gelassen hatten.

Doch jetzt tritt eine bis dahin unbekannte Regression ein: stellvertretend für ihre Nation knüpft die New York Times an die uralte verdrängte Heimat an, in der Hoffnung auf Wiederbelebung ihres desolaten nationalen Selbst. Bislang hatte der Stolz des neuen Kontinents diese Regression gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Doch die Tatsache, dass Merkel eine Frucht ihrer eigenen polit-pädagogischen Bemühungen war, erleichtert es den Amerikanern, die Rückkehr der verlorenen Söhne zum Vater – der sich zur Mutter gemausert hat – ins Auge zu fassen. Haben die herangewachsenen Kinder nicht die Pflicht, die greisen Eltern in ihrer Not zu unterstützen?

Merkel ist doppelt prädestiniert, die fromme Tochter als Retterin der Nation darzustellen. (Die Parallele, dass Trumps älteste Tochter und nicht seine Ehefrau die wichtigste Person in seinem Team ist, kann kein Zufall sein.) Einmal ist sie Deutsche, die mit amerikanischer Hilfe von den Nazis erlöst, zum zweiten ist sie DDR-Bürgerin, die durch das Bemühen von Bush senior vom Sozialismus befreit wurde. Merkel hat sich zwiefach zu revanchieren. Hinzu kommt ihre fromme Demut, die in der momentanen Not wie Balsam auf die gekränkte religiöse Eitelkeit der Amerikaner wirkt.

Oberflächlich betrachtet sind die Darstellungsmethoden Merkels mit denen Trumps unverträglich. Wie passt ihre demonstrative Schlichtheit zusammen mit dem rücksichtslosen Egogehabe des Superkapitalisten? Doch der Schein trügt. In Wirklichkeit ist die lutherische ecclesia patiens (duldende Kirche) nur eine zeitlich verschobene ecclesia triumphans der Amerikaner. Die Darstellungsmethoden mögen verschieden sein, der zugrunde liegende Seligkeits-Egoismus ist identisch.

Der Grund der verschiedenen Selbstdarstellungen liegt in unterschiedlichen Auffassungen, an welchem Punkt der Heilsgeschichte sich die Völker befinden. Während die Lutheraner – nach dem Kollaps des eschatologischen Dritten Reiches – wieder ins prä-eschatologische Stadium Augustins und Luthers zurückkatapultiert wurden, haben die Amerikaner bereits seit Entdeckung ihres neuen Kontinents das Stadium des finalen Reiches Gottes erreicht – wenngleich in ständiger Naherwartung des Messias. Es handelt sich um eine bloße Phasenverschiebung (cultural lag) zwischen den heilsgeschichtlichen Einschätzungen diesseits und jenseits des Großen Teichs.

Bislang verhöhnten die Deutschen alles „apokalyptische“ Hinterwäldertum als sektiererische Skurrilität – ohne zu bemerken, dass sie mit ihrem Hohn auch ihre amerikanischen Vorbilder kränkten.

Deutsche wähnen sich christlich und entmythologisiert. Biblizistische Amerikaner hassen das heidnische Vernunftgetue der internationalen Politik, dessen teuflischen Kern sie in der UNO erblicken. Weshalb sie auch ihre Hauptstadt Washington ablehnen, die sie in der Gewalt der ungläubigen Welt sehen.

Nicht zuletzt diesem Anti-Effekt gegen die Welt verdankt Trump seinen Sieg. Indem er sein Land in die Isolation zurückführen und alle „globalen“ Bemühungen einfrieren will, glaubt er, den amerikanischen Triumphalismus neu beleben zu können. Selbstisolierungen hat es in der amerikanischen Geschichte immer wieder gegeben. Spätestens, wenn Trump bemerken sollte, dass sein Slogan „America first“ in Isolationsstarre ad acta gelegt werden kann, wird er Amerikas globale Präsenz wieder entdecken.

Trump lehnt sogar TTIP ab, weil er ökonomische Globalisierung als Bedrohung der amerikanischen Herrlichkeit empfindet. So heruntergekommen muss das amerikanische Selbstbewusstsein sein, dass es die eigene Dominanz durch multilaterale Wirtschaftsverträge nicht mehr wahrnehmen kann. Die führende Nation der Welt muss sich umrundet fühlen von falschen Freunden, Gegnern und Feinden.

Nicht ganz zu Unrecht. Denn die ehemaligen Entwicklungsländer haben nicht nur aufgeholt. China ist dabei, an den USA vorbei zu ziehen. Auch Europa war – bis zu den Finanzkrisen – ein humanes Vorbild für die ganze Welt. Amerika hat es nicht verstanden, seine führende Rolle in der Welt so zu gestalten, dass es die Sympathien der Völker hätte gewinnen können. Demokratie mit Gewaltmethoden in die Welt zu exportieren, erzeugt das Gegenteil von Vertrauen.

Der ganze Westen will nichts mehr davon wissen, dass sein 500 Jahre langer Kolonialismus und Imperialismus tiefe Antigefühle der Ex-Kolonien erweckt hat, die noch heute das Seelenleben der Völker bestimmen. Hier die Äußerung des indischen Gelehrten Swami Vivenakanda:

„Vergiftet vom berauschenden Wein neu gewonnener Macht, furchterregend wie wilde Tiere, die den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kennen, Sklaven der Frauen von ihren Begierden übermannt, von Kopf bis Fuß von Alkohol getränkt, ohne jede Norm rituellen Verhaltens, unrein, materialistisch, von materiellen Dingen abhängig, mit allen Mitteln nach Grund und Reichtum anderer Menschen greifend –, der Körper ihr alleinig Ich, nur auf die Erfüllung ihrer Begierden bedacht – das ist das Bild des westlichen Dämons in indischen Augen.“ (nach Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires)

Die westlichen Staaten haben sich von ihren Eroberungen zurückgezogen. Doch ihre Herrschaft über die Welt mit Hilfe einer alles überrollenden Technik und Wirtschaft lastet noch immer auf den Völkern, die einen vertrackten „Zweifrontenkrieg“ führen müssen. Einerseits wollen sie die Überlegenheit des Westens egalisieren, andererseits die schädlichen Klimafolgen ihrer Aufholjagd bekämpfen.

Es kann keinen Zweifel geben: der Verfall Amerikas ist der Verfall des gesamten christlichen Westens, der in völliger Verblendung die Ursachen seines moralischen Verfalls ausblendet. Die technischen Beglückungszwänge per Algorithmen sind nichts anderes als die jahrhundertealte Kolonisierung der Welt mit anderen Mitteln.

Was wird geschehen, wenn die Völker mit Erschrecken bemerken, dass sie einem Lebensstil verfielen, der mit ihren uralten Lebensweisheiten nicht übereinstimmen? Sollten sie, ermüdet und ausgelaugt vom natur- und menschenzerstörenden Aufholkampf, sich ihrer bemerkenswerten philosophischen und naturreligiösen Traditionen erinnern: was wird dann geschehen? Werden sie nicht genötigt sein, sich von der Dominanz eines unerbetenen Fortschritts und einer amoralischen Wirtschaft zu befreien?

Die Abgehängten Amerikas spüren diese Zusammenhänge deutlicher als ihre macht- und profitgierigen Eliten, die den Wahlerfolg des Bürgerschrecks den ungebildeten Klassen in die Schuhe schieben. Unter Bildung verstehen sie keine soziale Empathie, sondern Herrschaftswissen, das sie bedenkenlos zum eigenen Vorteil anwenden. Zuerst werden die Machtlosen zermatscht. Dann werden sie schuldig gesprochen, wenn sie einem „verführerischen Populisten“ in die Hände fallen.

Wer regiert denn die männlichen Hochkulturen seit 7000 Jahren? Das niedere Volk die Eliten – oder die Eliten das Volk? Die Letzten beißen die Hunde: das gilt besonders für zerklüftete Klassengesellschaften. Macht ergießt sich von oben nach unten.

Trump ist kein Emporkömmling, er ist das absolute Gegenteil eines Abgehängten. Er ist Modell-Kapitalist. Ohne Skrupel verfolgt er seine Ziele mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Man kann nicht mal sagen: mit allen Mitteln, die das Gesetz nicht verbietet. Im Gegenteil. Er glaubt, über fast allen Gesetzen zu stehen. Wie viele Prozesse muss Trump in den nächsten Jahren führen? Wie lange galt als Verschwörungstheorie der Zukurzgekommenen: die Kleinen henkt man, die Großen lässt man laufen?

Keine Abgehängten ohne Abhänger. Von den Tätern spricht niemand. Wie immer sind die Schwachen an ihrem Schicksal selber schuld. Wenn der amerikanische Traum darin besteht, dass jeder alles werden kann, müssen sich die Versager, die gar nichts wurden, als Rohrkrepierer der Geschichte verstehen. Ihre Schuldgefühle werden von der sünden-predigenden Botschaft des christlichen Glaubens verdoppelt.

Warum gab es in Amerika nie eine nennenswerte revolutionäre Bewegung? Warum sind Kommunismus und Sozialismus schlimmere Feinde als Milliardäre, die sich das erarbeitete Vermögen des Volkes unter den Nagel reißen? Weil Biblizisten des festen Glaubens sind, in Sünde geboren zu werden und in Sünde zu sterben – es sei, sie werden Millionäre und erkennen an ihrem Reichtum den Status ihrer Erwählung.

Deutsche Journalisten in Amerika sehen nur Vordergründiges und Triviales. Nach dem Motto: dann machte ich mich auf den Weg … glauben sie das Wesen eines Landes durch touristische Zufälligkeiten zu erfassen. Weder erfassen sie theologische Prägungen noch psychische Tiefenstrukturen, die sich nicht dem ersten Eindruck erschließen.

Amerikaner sind fromm und fortschrittsfreundlich – so lauten die Klischees. Doch auch in Amerika verlieren die Hirten ihre Schäfchen. Auch hier beginnen die Fortschrittsfreunde, die gnadenlose Zwangsbeglückung der Techno-Propheten abzulehnen, die ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen. Viele Amerikaner erleben in Bitterkeit, dass nicht alle die gleichen Aufstiegs-Chancen besitzen. Wenn sie nicht mehrere Jobs haben, können sie kaum überleben.

Silicon Valley wird in Deutschland einhellig als Mekka der Zukunft bewundert. Doch die Amerikaner sind längst skeptisch geworden. Kein Kleber hält es für wichtig, solche unamerikanisch scheinenden Symptome als Fakten zu gewichten. All dies hat Trump gewittert und zum Gegenstand seiner Kampagne gemacht.

„Die Techbranche sorgt sich nach der Trump-Wahl um Einwanderung und Netzneutralität. Doch das größte Problem könnte noch folgen. Das Silicon Valley will die Jobs vieler Trump-Wähler überflüssig machen. Nicht zuletzt hatte Trump von Hardware-Firmen wie Apple verlangt, die Automatisierung zurückzudrehen – und ihre Fabriken „zurück in die USA“ zu bringen. Die CEOs sprechen aus, was auch Trump merken wird: Die technologische Entwicklung lässt sich nur schwer zurückdrehen. Im Gegenteil: Die nächste technische Revolution auf Basis künstlicher Intelligenz steht bevor, und wird viele Jobs in der unteren Mittelklasse – Trumps wichtigster Wählerklientel – vernichten.“ (WELT.de)

Fortschritt als unaufhaltsames Schicksal, das die Mehrheiten als Nutzlose ausrangieren und wegwerfen wird. Nun aber scheint sich Widerstand zu regen. In Amerika ist Fortschritt nicht länger eine lineare Selbstverständlichkeit. Das allgemeine Unbehagen gegen die Eliten ist das Unbehagen gegen totalitäre Bestrebungen einiger Tüftler, die sich als Herren des Universums gebärden.

Die Medien sind fast immer auf der Seite der Eliten, zu denen sie sich selber zählen. Die Verachtung der Massen gehört längst zum intellektuellen Zeitvertreib der Abhänger. „White trash“ – weißer Abschaum – ist ein gar nicht verschämter, sondern ein geradezu offiziell benutzter Begriff im Munde der amerikanischen Erwählten.

Nein, das Volk kann seine vagen Gefühle nicht analysieren. Deshalb sind diese noch lange nicht irrational. Man könnte sogar sagen: Gefühle haben immer Recht. Sie entstehen als unwillkürliche Reaktionen auf objektive Außenreize. Das Subjektive ist objektiv. Nur die Interpretation der Gefühle durch mangelnde Introspektion geht zumeist in die Irre, weil es nicht zur kapitalistischen Erziehung gehört, seine Emotionen wahrzunehmen und auf ihre Ursachen zu befragen. Schon Kinder werden genötigt, sich mit Ellenbogen und ohne das geringste Mitgefühl mit Anderen durchzusetzen. Hier ein Beispiel aus der Schule:

„Sport wäre ideal, um frühzeitig Tugenden wie Teamgeist, Fair Play und Respekt vor dem Gegner zu vermitteln. Stattdessen lernen Kinder im Verein schnell, wie man rempelt, trickst und pöbelt.“ (Sueddeutsche.de)

Amerika sucht den transatlantisch-messianischen Schulterschluss mit der deutschen Herzenskönigin. Auch die amerikanischen Medien scheinen den frischen Blick ihrer frühen Jahre verloren zu haben. Vor acht Jahren setzten sie alle Hoffnungen auf einen Mann, dem sie zutrauten, eine ganze Nation mit sich zu versöhnen. Nun wird demselben vorgeworfen, dass er an Trumps Sieg schuldig sei, weil er die Hoffnungen nicht erfüllt habe. Wenn der Messias scheitert, wird er zum Antichrist erklärt.

Auch BILD, das Blatt, welches keine Idolisierung scheut, wirft Steine auf den gescheiterten Erlöser mit der falschen Hautfarbe:

An der Spaltung der USA ist nicht in erster Linie der Spalter Trump schuld, sondern der selbsterklärte Versöhner Obama, der in seiner Amtszeit mehr Deals mit den Despoten dieser Welt (Castro, den Mullahs in Teheran) gemacht hat als mit den Republikanern.“ (BILD.de)

Die Schurken dieser Welt sind diejenigen, die das Blaue vom Himmel versprechen und nichts davon halten – ausgenommen die technischen Visionäre, die immer Recht behalten. Wer der Meinung ist, die Menschen könnten sehr wohl ihre Probleme lösen, muss ein populistischer Rattenfänger sein.

Gleichwohl: wenn die Probleme der Menschen von Menschen gemacht sind, warum sollten sie von Menschen nicht gelöst werden können? Auch hier verstärkt BILD den religiös-passiven Ton, damit ihre Leser nicht auf die Idee kommen, sich gegen das Veränderliche und Reformierbare zu wehren, das sich unveränderlich und unreformierbar gebärdet.

Spätestens jetzt müssen unsere Politiker lernen, klare Debatten zu führen. Politische Gegner mit Respekt zu behandeln. Auch mal zugeben, dass es für bestimmte Probleme gerade keine Lösung gibt. Und – bitte! – die Floskelmaschine ausmachen.“ (BILD.de)

Eine führende Journalistin ist nicht in der Lage, ihre neupietistische Kopfhängerei mit Argumenten zu begründen. Sie kann nicht mal sagen, welche Probleme sie für unlösbar hält. Das ist der Übergang öffentlichen Schreibens in papistische Unfehlbarkeit. Floskeln sind für BILD jene Begriffe, die sich den Machenschaften der Eliten analytisch entgegenstellen.

Ob der hilfesuchende Brückenschlag der New York Times gelingen wird, ist unwahrscheinlich. Zuerst müssten die Deutschen eschatologischer werden als sie sind. Sodann ist Merkel nicht Deutschland, obgleich sie es als ihre Berufung ansieht, das mütterliche Herz der Nation zu sein. Ihre lutherische „Nüchternheit“ ist allergisch gegen das hysterische Endzeitgetue der Amerikaner. Noch sieht sie keinen Lichtstreifen am Horizont, der das Wiederkommen des Heilands andeuten könnte.

Ihre Aufgabe sieht sie in einer Doppelstrategie: die Bosheit der Welt muss solange ertragen und verwaltet werden, bis der Herr der Geschichte selbst einen Schlussstrich setzt. Lavieren, lavieren, das Elend einigermaßen bändigen: das ist alles. Zu verbessern gibt’s nichts. Die Ergebung in bloße utopielose Verwaltung des irdischen Staates (nach Augustin: der teuflischen Räuberhorde) ist das Äußerste, was eine untertänige Lutheranerin von sich verlangen kann. Alles, was darüber hinausgeht, ist für eine Pastorentochter von Übel. Eine solche Duldstarre – aber gewiss doch in wirtschaftlicher Dynamik – ohne futuristisches Adrenalin ist amerikanischen Endzeitgläubigen nicht vermittelbar.

Aufgabe Merkels bleibt das doppelte Problem: „einerseits die weitgehende Anerkennung der Welt und ihrer Ordnungen nach den Grundsätzen des Paulus, andererseits die Verwerfung der Welt und des Staates als eines Erzeugnisses der Sünde und der Dämonen.“ (Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen)

Für die Weltlichen tun, als täte sie – für die Gläubigen, als überließe sie alles dem Gnadenwirken ihres Gottes: das ist die Politkunst der Angela Merkel, die sie rastellihaft beherrscht. Trump ist für sie ein Gottesgeschenk. Nun kann sie aufsteigen zur Königin Luise des gesamten christlichen Westens.

Doch Vorsicht, du Gebenedeite: schau auf den tiefen Fall Obamas, deines messianischen Bruders im Herrn!

 

Fortsetzung folgt.