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Weltdorf XXVI

Hello, Freunde des Weltdorfs XXVI,

Deutschlands Nachkriegsgeschichte ist beendet. Mit staatlichem Riesengepränge, Glockengeläut von allen ökumenischen Kirchen und Domen, umrauscht von Jubelfanfaren der Edelschreiber findet das Land Anschluss an seine Heldengeschichte.

Der deutsche Held ist ein Heros des Glaubens. Ein Mann wie ein Baum, dessen Wurzeln fest in der deutschen Scholle gründen und dessen Wipfel bis in den Himmel reichen. Die ungeliebte, die heidnische, die abscheuliche Trennung von Kirche und Staat ist überwunden. Nicht mal zum Jubiläum des Erlösers gab es solch einen Aufwand:

„Am Montag wird das Reformationsjubiläum in Berlin eröffnet werden. Das ist eine von Hunderten Veranstaltungen, mit denen an den Beginn der Reformation am 31. Oktober 1517 erinnert werden soll. Es ist das Datum des berühmten Anschlags der 95 Thesen Martin Luthers (1483 bis 1546) an die Schlosskirche zu Wittenberg. In der Einladung zur Auftaktveranstaltung heißt es: „Bund, Länder, Kommunen, die evangelischen Kirchen in Deutschland und die Zivilgesellschaft begehen das Reformationsjubiläum gemeinsam und eröffnen es feierlich am 31. Oktober 2016 in Berlin. Die Reformation ist kein innerkirchliches, nicht einmal ein nur-religiöses Ereignis. Sie ist ein Staatsakt, bei dem der Bundespräsident, einst ein protestantischer Pfarrer, die Festrede hält. Im Jahre 2000 hatte es keine vergleichbare Veranstaltung zur Feier der Geburt Christi gegeben.“ (Berliner-Zeitung.de)

Religionsfreiheit ist die Freiheit der Demokraten, jedem privaten Glauben zu folgen, den sie für richtig halten, dessen politische Folgen sich jedoch der allgemeinen Vernunft des Grundgesetzes unterzuordnen haben.

Der deutsche Glaubenstitan sprengt diese Trennung. Im Jubeljahr der Reformation wird sein Glauben zur Grundlage der deutschen Demokratie. Der Gott in der

Verfassung, bislang namen- und geruchlos, erhält seine unverwechselbare Physiognomie: Deutschlands Verfassung wird theokratisch und trägt den Namen Martin Luder, Loder – oder Luther. Damit hat sich auch Deutschland, unter der kundigen Leitung einer Lutheranerin, dem europaweiten Rechtsruck eingereiht – unter neoprotestantischen Vorzeichen.

Die neue Globalisierung in den Ländern der drei Erlöserreligionen ist nicht politisch und solidarisch, sondern transzendent und separierend. Duterte, philippinischer Regierungschef, hört bereits Stimmen der Offenbarung im Flugzeug und folgt den Weisungen seines Gottes. Die deutsche Kanzlerin tut alles nach bestem Wissen und Gewissen – und folgt der diskreten Stimme ihres göttlichen Gewissens.

Luthers Glaubensdogmen sind mit urdemokratischen Überzeugungen unvereinbar: die Heldenverehrung des deutschen Berserkers führt die deutsche Demokratie in den Abgrund – auch wenn die äußerliche Fassade fürs erste unverändert bleibt.

Wie kann Luther der erste Wutbürger sein, da er gar kein Bürger war? Die irdische Stadt verachtete er und suchte die Stadt im Himmel. Veränderungen der sündigen Stadt auf Erden waren nicht Teil seiner Predigten. „Du willst doch was verändern“, spricht ihn ein Zeitgenosse in einem der vielen Lutherfilme an. Nein, er wollte das Urevangelium verkünden, die irdische Stadt hielt er für unverbesserlich und unveränderlich.

Seine Wut war heiliger Zorn, der sich gegen jene richtete, die die Gläubigen in die Irre führten. Die Macht des antichristlichen Papismus wollte er brechen und jedem Geschöpf die heilige Schrift in die Hand legen, damit es seinen Weg ins Himmelreich durch eigenes Lesen finde.

Bruder Martin suchte nur das Heil seiner unsterblichen Seele und erwartete mit Inbrunst die Wiederkehr seines Heilandes – den geliebten Jüngsten Tag. Das irdische Schlamassel sollte an ein Ende kommen. Wenn Luther Bürger war, dann einer des Himmelreichs, die man Engel oder Gerettete nennt. Himmlische Bürger kennen keine Wut.

Luther wollte keine Reform des Staates, sondern die interne Revolution der Herzen, die nicht eigenen Glaubensleistungen vertrauen, sondern alles von der gnädigen Intervention des Gottes erwarten:

„Bei dir gilt nichts denn Gnad‘ und Gunst
Die Sünde zu vergeben;
Es ist doch unser Tun umsonst,
Auch in dem besten Leben.

Vor dir Niemand sich rühmen kann,
Des muß dich fürchten jedermann
Und deiner Gnade leben.“

Das ist der Heros des Glaubens mit dem riesigen Selbstbewusstsein, der den Deutschen das irdische Selbstbewusstsein für die folgenden Jahrhunderte austreiben sollte. Entweder duckten sie sich und unterwarfen sich fremden Mächten – oder sie dehnten sich ins Grenzenlose und wollten die Welt beglücken.

„Darum auf Gott will hoffen ich,
Auf mein Verdienst nicht bauen;
Auf ihn mein Herz soll laßen sich,
Und seiner Güte trauen.“

Deutschlands Ich-Ideal ist ein Kraftmensch, der Kaiser und Papst widersteht – und seine lieben Deutschen in die babylonische Gefangenschaft eines geoffenbarten Buches und unfehlbarer Obrigkeiten führte. Cujus regio, ejus religio: wessen das Land, dessen die Religion.

Der Augsburger Religionsfriede war das untertänige Fazit der binnendeutschen Religionskriege. Die Untertanen der Fürstentümer hatten die Religionen ihrer weltlichen Herren zu übernehmen. Wechselte ein Fürst aus Machtgründen seine Konfession, mussten alle Untertanen ihre Religion wechseln – oder sie mussten auswandern. Wie viele Deutsche flüchteten aus Glaubensgründen nach Amerika oder in die Tiefen Russlands?

Vom lutherischen Schock haben sich die Deutschen bis heute nicht erholt. Nicht nur, dass sein Obrigkeitsglaube jede Widerstandskraft gegen Hitler untergrub, noch heute wehren sich die intellektuellen Schichten gegen moralische Selbstermächtigungen, um dem Verhängnis der Gegenwart standzuhalten. Sie bevorzugen es, unbeteiligte Zuschauer zu sein, die sich weder mit der guten noch der bösen Seite identifizieren. Dass Demokratie eine Verfassung besitzt, die auf der Moral der Menschenrechte ruht, ist zu ihnen noch nicht vorgedrungen. Sie hassen moralische Überlegenheitsgefühle.

In allen Dingen soll Wettbewerb und Ranking herrschen, sollen technische und ökonomische Visionen entwickelt werden, nur nicht in Tugenden der Demokratie. Hier sollen wir den Kopf in Demut neigen und bekennen, dass wir Moralidioten, Tugend-Ignoranten und demokratische Rohrkrepierer sind.

„Und ob es währt bis in die Nacht
Und wieder an den Morgen,
Doch soll mein Herz an Gottes Macht
Verzweifeln nicht noch sorgen“

„Damit fasste er zusammen, woran die Sendung insgesamt krankte: Auf Anne Wills Gästeliste fehlten leider Visionäre, die die digitale Zukunft mit ihren Chancen und Herausforderungen konkret und glaubwürdig beschreiben können.“ (WELT.de)

ZDF-Moderator Kleber warnt vor Tugendwächtern:

„Wo nur noch von Image-Beratern, PC-Tugendwächtern und Juristen abgeschliffenes Zeug geredet wird, möchte ich weder Redner noch Zuhörer sein.“ (FOCUS.de)

„Ein Journalist wollte von ihm wissen, ob für ihn „homophobe, frauenfeindliche und rassistische Äußerungen“ also „total OK“ seien. Klebers Antwort: «Die sind selbstverständlich weder total noch ansatzweise okay. Alles mit Maß und Ziel, bitte.»“

Das ist deutsche Klarheit. Erst auf Nachfrage werden Hassäußerungen verurteilt – mit dem Zusatz: alles mit Maß und Ziel. Was amoralisch ist, hat weder Maß noch Ziel.

In Wirtschaft wollen die Deutschen eine führende Nation der Welt sein. Dass Demokratie eine staatlich-moralische Veranstaltung ist, begreifen sie nicht. In privaten Dingen sind sie hochmoralisch, da versteht sich Anstand von selbst. In politischen Angelegenheiten aber hat moralische Sensibilität nichts zu suchen.

Die Ursache dieser Schizophrenie liegt in der neuzeitlichen Zweiteilung der Moral in eine private und eine öffentliche. Private Laster können öffentliche Tugenden, private Tugenden öffentliche Laster sein – so lehrte die Bienenfabel Mandevilles, der die provokanten Machtthesen Machiavellis übernommen und konkretisiert hatte.

Private Verschwendungssucht wird zur Stimulation wachsender Ökonomie, Knausrigkeit führt zu sinkendem Wohlstand. Machiavelli hatte das griechische Naturrecht der Starken ins politische Denken Europas eingeführt und alles für akzeptabel erklärt, was dem Wohl der Nation dient. Heute würde man sagen, was den Interessen eines Staates dient, soll vor moralischen Bedenkenträgern geschützt werden.

Die jungen wilden Deutschen, die es satt hatten, ein unbedeutender Flickerlteppich in der Mitte Europas zu sein und von zukünftiger nationaler Größe zu träumen begannen, bejubelten ihr neues amoralisches Idol aus Italien. Hegel ließ sich in seiner Bewunderung für den bedenkenlosen Politpragmatiker von niemandem übertreffen. Dass der Zweck keine Mittel heilige, nannte er Trivialitäten:

„Hier aber kann von keiner Wahl die Rede sein: brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser geheilt werden. Der Verwesung nahes Leben kann nur durch das gewaltsamste Verfahren reorganisiert werden.“

Schwache Staaten haben den starken zu weichen: das sei das Gesetz des unerbittlich voranschreitenden Weltgeistes. Marx & Engels übernahmen das Recht der Starken, die auf der rechten Seite der Geschichte marschierten. Die selbsternannte Lizenz zur Gewalt prägte Deutschland bis zur Ermächtigung zu Weltkriegen und Völkerverbrechen.

Ontogenese ist eine abgekürzte Phylogenese – die Entwicklung des Einzelnen eine abgekürzte Entwicklung der Gattung. Zuerst lernen deutsche Kinder die rigide Privatmoral ihrer nächsten Autoritäten. Ab Pubertät müssen sie über Nacht umlernen. Ab jetzt sollen sie begreifen lernen, dass sie die Welt nicht mit Nächstenliebe erobern werden.

Die pubertäre „Erkaltung“ der Heranwachsenden ist nicht die Folge biologischer Vorgänge, sondern die maßlose Enttäuschung der Jugendlichen über die plötzlich über sie hereinbrechende „Doppelmoral“ ihrer Eltern und Lehrer. Der pubertäre Zynismus ist das Ergebnis dieser Wetterwende. Ihre neue Liebe zu amoralischen Filmen und Spielen ist ein unbewusster Kompromiss aus weiterhin geltender Privatmoral – und abgedrungener Akzeptanz amoralischen Hauens und Stechens in politischen und öffentlichen Angelegenheiten. Indem die Eleven die wüsten Machenschaften der Erwachsenenwelt beobachten, wollen sie dennoch cool bleiben, was bedeutet: niemand soll glauben, dass das ästhetische Vergnügen an Intrige, Mord und Totschlag der wirklichen Moral der Beobachter entspräche.

Je länger man sich an die Zweigleisigkeit der Moral gewöhnt, desto allergischer wird man gegen eindeutige Moralpredigten. Das ist der Stand der deutschen Intellektuellen seit der Erfindung des romantischen Zynismus. Sie empfinden es als Zumutung, wenn ihre private Moral als öffentliche Unmoral, ihr ästhetischer Amoralismus als private Verrohung angesehen wird. Allen Spießbürgern mit eindeutiger Moral fühlen sie sich ebenso überlegen wie Halunken mit eindeutiger Amoral.

Da sie Moral vor allem in autoritärer Form erfuhren, neigen sie zur Reaktionsbildung und definieren ihre neu erworbene Freiheit als Freisein von aller Moral. Unter Freiheit versteht der Neoliberalismus die Lizenz zur maßlosen Ausbeutung aller Schwachen. Solange Moral nicht das Produkt eigenen Nachdenkens ist, wird sie nur unter Widerwillen befolgt, die Idolisierung des Bösen als ästhetisches Vergnügen wird nicht aufhören.

Wer sich an diese zwiegespaltene Moral gewöhnt hat, bemerkt nicht mehr die moralische Verluderung der Gesellschaft. Politik und Wirtschaft sind ihm zu mechanischen Erscheinungen geworden, die er aus der Sicht des unbeteiligten Connaisseurs beurteilt.

Dass es Moral nur eindeutig – oder gar nicht geben kann, halten grinsende Gegner der Gutmenschen für Hinterwäldlertum. Dass der Gegenpol zum Gutmenschen der bedenkenlose Machiavellist sein muss, entzieht sich ihrer überlegenen „Weltbürgersicht“, die zu wissen glaubt, wie die Welt da draußen wirklich tickt.

Die einstigen Hinterwäldler sind zu hintertriebenen Mitspielern des Darwin‘schen Überlebenskampfes geworden. Tja, liebe Kinder, ihr wollt Liebe und Vertrauen zwischen allen Menschen, doch lasst euch von wettergegerbten Fahrensleuten sagen, dass die Welt keine Puppenstube ist. Werdet endlich erwachsen.

Der pubertäre Einschnitt wird zur inneren Loslösung von den Erwachsenen, die man nur noch unter genervtem Misstrauen erträgt. Dies ist die Dauerstimmung zwischen Pubertierenden und Erwachsenen in deutschen Familienfilmen. Selbst die obligate Nachfrage: wie war‘s heute in der Schule? wird als unauthentische Neugier der Eltern abgewiesen:

„Ob es Eltern lieber lassen sollen, wird Lilith von ihrer Mutter gefragt. „Nein, auf keinen Fall, das würde ja bedeuten, dass ich dir ganz egal bin, dass du dich überhaupt nicht für mich oder für das, was ich tue, interessieren würdest.“ (FAZ.NET)

Eltern haben kaum noch Zeit für ihre Kinder. Mimen sie künstliches Interesse, werden sie von ihren Kindern nicht ernst genommen – obgleich diese danach ausgehungert sind, dass ihre Eltern nach ihnen fragen. Das also ist das großartige Ergebnis der Vereinbarkeit von kapitalistischem Beruf und Leben-mit-Kindern. Eltern sind nur noch fähig für Alibi-Fürsorglichkeiten, Kinder verlängern ihr Misstrauen bis in ihr eigenes Erwachsenenleben. Moral als Politik können sie nicht mehr ernst nehmen. Moralallergisches Verhalten erfriert zur spätpubertierenden Dauerhaltung.

Genau an dieser Stelle werden die Deutschen zur Beute Luthers, der im irdischen Leben nur sündige Verkommenheit erblickte.

Luthers Rechtfertigungslehre sieht keine Chance für den Menschen, aus eigener Leistung vor Gott gerecht zu werden. Selbst Wiedergeborene bleiben notorische Sünder und auf Gottes Gnade angewiesen. Nur ihr Glauben kann sie retten. Doch kein Glaube als Leistung des Menschen, sondern als Ergebenheit in Gottes Erlösungswerk. Sündige tapfer, aber glaube – nur der Glaube als Geschenk Gottes macht aus verwerflichen Taten des Menschen himmlische Tugenden. Gott ist alles, der Mensch nichts.

„So halten wir nun dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerecht gesprochen werde ohne Werke des Gesetzes.“

Sola fide, allein durch den Glauben. Werke des Gesetzes sind tugendhafte Leistungen, auf die der Mensch stolz sein könnte. Doch dieser Stolz ist eine Ursünde, denn er ist eitles Rühmen menschlicher Fähigkeiten.

Die paulinische Rechtfertigung ist gegen den Stolz seiner jüdischen Landsleute gerichtet, die sehr wohl der Meinung waren, die Gebote Gottes einhalten zu können, um den versprochenen Himmelslohn zu kassieren. Die lutherische Aversion gegen dieses Rühmen, identisch mit der heutigen Aversion gegen „selbstgerechte“ Gutmenschen, ist ein verborgener Antisemitismus, der den Hochmut gesetzestreuer Juden attackiert. Der uralte Streit zwischen Juden und Christen kristallisiert sich in der paulinischen Rechtfertigungslehre. Ist der Mensch von sich aus fähig zur Erfüllung der göttlichen Gebote – oder bleibt er notorisch auf Gottes Gnade angewiesen? Wer die letzte Frage bejaht, ist Christ, wer die erste, ist Jude.

Margot Käßmann bestätigt die Unfähigkeit des Menschen zu jedwedem autonomem Handeln:

Nichts, was der Mensch tut, macht ihn aus, sondern jemand ist eine angesehene Person, weil Gott ihn ansieht.“ (BILD.de)

Ob Gott einen Menschen ansieht, kann der Mensch nicht beeinflussen. Er bleibt Empfänger der Gnade oder Ungnade. Passivität ist die charakteristische Durchschnittshaltung der Deutschen, die stets nach Autoritäten Ausschau halten, die ihrer moralischen Legasthenie aufhelfen. Seien es Helden, Koryphäen oder messianisch auftretende Führer.

Käßmanns Erniedrigung des autonomen Menschen zum devoten Gnadenempfänger ist die offizielle Lehre der Kirche:

„In den Kirchen der Reformation wird (mit Berufung auf Paulus und die Kirchenväter) daran erinnert, dass Rechtfertigung zwar ein für den Menschen überaus dienliches Geschehen, aber komplett auf Seiten Gottes – und nicht auf der der Menschen – zu verorten sei. Von dort werde die heilvolle Wirkung allein durch Christus gestiftet, entfaltet und geschenkt und sei von den Gläubigen allein durch den auf ihn vertrauenden Glauben, nicht jedoch durch jedwedes auf Gott gerichtetes Tun, zu empfangen.“ (Wiki)

Rechtzeitig zum Lutherjahr haben sich die einstmals verfeindeten großen Kirchen in Rechtfertigungsfragen geeinigt:

„Wir bekennen gemeinsam, dass der Mensch im Blick auf sein Heil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen ist. Die Freiheit, die er gegenüber den Menschen und den Dingen der Welt besitzt, ist keine Freiheit auf sein Heil hin. Das heißt, als Sünder steht er unter dem Gericht Gottes und ist unfähig, sich von sich aus Gott um Rettung zuzuwenden. Rechtfertigung geschieht allein aus Gnade.“

Die Papisten sind in die Knie gegangen und haben das Credo ihres früheren Erzfeindes übernommen. Konnte ein traditioneller Katholik durch eigene Leistung an seiner Erlösung mitwirken – durch Ablassgeld, Askese, Bußübungen, Almosen etc. –, so ist er heute auf die absolute Unfähigkeit des Protestanten herabgesunken: beide sind allzumal Sünder und bedürfen der Gnade, um selig zu werden. Katholik Geißler geriert sich lutherischer als der eifrigste Lutheraner.

Je autonomer der säkulare Mensch wurde, je heteronomer der religiöse. Die Unfähigkeit der Deutschen, Moral mit dem eigenen Kopf zu entwickeln und aus eigener Kraft zu realisieren, ist das jahrhundertealte Ergebnis der lutherischen Rechtfertigungslehre, die ihnen das Mark der Selbstbestimmung aus den Knochen sog.

Luther hat die Deutschen moralisch kastriert. Zum Dank verehren sie ihn als ihr projektives Wunschbild: als unbezwinglichen Helden, der gegen alle Feinde der Welt seine Integrität bewahrt. Luther ist, was sie gerne wären, doch weder sind, noch jemals sein werden. Ja, nicht mal Luther ist Luther. Wie alle Deutschen begann er mit großspurigen Tönen und endete als Judenhasser, Bauernfeind, Frauenverächter und totalitärer Obrigkeitsfanatiker, der in seinen verhängnisvollen Predigten das Dritte Reich vorbereitete.

Die moralische Inkompetenz nötigt den Deutschen, die Religion seiner Kindheit – trotz erschlichener  Überlegenheitsgefühle – nicht aufzugeben. Zu seinem irdischen Seelenheil benötigt er eine unzerstörbare Rückversicherungsinstanz. Der verlorene Sohn braucht die Gewissheit, dass ein gnädiger Vater ihn erwartet, wenn er nach dem Bankrott seiner Selbsterfahrung ins Haus des Vaters zurückkriecht.

Churchill hat den halb aufgeklärten, halb devoten Religionscharakter auf den Punkt gebracht: den Deutschen hat man entweder an der Gurgel oder zu Füßen. Entweder jammern sie in german angst – oder triumphieren über die Welt. Schwankende Existenzen benötigen eisenharte Vorbilder, an denen sie sich festhalten können.

Normale Deutsche kennen ihren Reformator nicht, ersatzweise klammern sie sich an die Mutter, die Ruhe und Zuversicht verströmt. BILD – Inbegriff deutscher Schwankungsbreite zwischen Häme und sentimentaler Vergötzung – hat Luther zur deutschen Staatsikone erklärt:

„Sie waren eine Sternstunde für uns Menschen. Sie haben die Freiheit reformiert. Mensch und Macht. Gott und Macht. Sie haben protestiert. Deshalb heißen die evangelischen Christen Protestanten.“ (BILD.de)

BILD-Wagner hat so viel Respekt vor dem demütigen Übermenschen, dass er ihn tatsächlich mit „Sie“ anspricht.

Luther – eine Sternstunde? Nicht nur für die Deutschen, sondern für alle Menschen? Da ist Fichte nicht mehr weit, der als Nachfolger Luthers den Deutschen eine messianische Funktion für die Menschheit zusprach. Doch mit welchem Recht? Verspricht er ihnen Frieden, Wohlstand und Glück auf Erden? Im Gegenteil. Die vier letzten seiner 95 Thesen lauten:

„92. Darum weg mit allen jenen Propheten, die den Christen predigen: „Friede, Friede“, und ist doch kein Friede.

93. Wohl möge es gehen allen den Propheten, die den Christen predigen: „Kreuz, Kreuz“, und ist doch kein Kreuz.

94. Man soll die Christen ermutigen, daß sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen trachten

95. und daß die lieber darauf trauen, durch viele Trübsale ins Himmelreich einzugehen, als sich in falscher geistlicher Sicherheit zu beruhigen.“

Das irdische Jammertal bleibt. Frieden zwischen den Völkern wird es nie geben. Die ewige Seligkeit muss durch Tod und Hölle hindurch errungen werden. Zur Hölle gehört die Fähigkeit unmenschlicher Verbrechen. Nie wird Politik das menschliche Los bessern.

Die Kanzlerin kennt das Utopieverbot ihres Vorbildes. Ihr Durchlavieren ist ein Parcours der Trübsale in täglichen Widersprüchen. Zum Kreuz-auf-sich-nehmen gehört die Kreuzigung der Aufrichtigkeit und Gradlinigkeit.

Werden Zeitgenossen nach dem Christentum gefragt, wählen sie mit spitzen Fingern wohlklingende humanistische Sentenzen, die sie mit christlichen verwechseln. Die Dogmatik des Christentums verdrängen sie. Zu den Eckpfeilern gehört die Lehre von der Seligkeit für eine Minderheit und die Lehre von der Verdammnis für die Massen der Menschheit.

Die 85. Frage aus dem großen lutherischen Katechismus lautet:

„Was droht Gott allen, die ihn hassen und seine Gebote übertreten?

Antwort: Seinen Zorn und Ungnade, zeitlichen Tod und ewige Verdammnis.

5. Mose 27, 26: Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt, dass er darnach tue. Und alles Volk soll sagen: Amen.

Römer 6, 23: Der Tod ist der Sünde Sold.“

Im Jubeljahre Luthers wird die Lehre eines Menschenfeindes in nationalen Dimensionen gefeiert. Die Vernichtung der Menschheit als moralische Gattung ist die religiöse Voraussetzung deutscher Rühmung und Selbstüberhebung.

„Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer. Es ist kein Mensch auf Erden, der Gutes tue und nicht sündige.“

 

Fortsetzung folgt.