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Weltdorf XXII

Hello, Freunde des Weltdorfs XXII,

es gibt eine geschriebene und eine ungeschriebene Verfassung. Also muss es Verfassungspatrioten der geschriebenen und ungeschriebenen Facon geben. Patrioten sind Anhänger des Vaters. Wer nach Matrioten sucht, muss nach Afrika blicken. Mutterland ist das Land, das man verlassen hat. Männer sind die Beherrscher der westlichen Vaterländer, deren oberster Herrscher der Vater im Himmel ist.

Eine demokratische Verfassung ist eine menschheitsverbindende Idee und unvereinbar mit vaterländischem Separatismus. Insofern ist Verfassungspatriotismus ein Widerspruch in sich, eine Chimäre oder ein deutsches Monstrum. Als Demokrat bin ich kein Patriot, sondern ein Kosmopolit. Meine Herkunft zeichnet mich nicht aus. Meine geographische Heimat kann nur wichtig sein, wenn sie die Heimat aller anderen Menschen als gleichberechtigte anerkennt und würdigt. Wo es geschwisterlich zugeht, da ist meine Heimat. Ginge es mir gut, wo der Mensch missachtet würde, wäre ich kein Weltbürger.

Die Deutschen schaffen es, Verfassungspatriotismus zu definieren, fast ohne das Ekelwort „demokratisch“ zu verwenden. Stattdessen ist viel die Rede von staatstheoretisch, republikanisch, Willensnation, gemeinsame Geschichte und von rationalem Diskurs. (Siehe Wiki über Verfassungspatriotismus)

Demokraten müssen keine gemeinsame Geschichte haben, sonst dürfte man keine Flüchtlinge ins Land lassen. Man sieht, die AfD stammt aus der Mitte des Verfassungspatriotismus.

Eine Demokratie ist kein Staat wie andere Staaten. Alles hängt vom Volk ab, das Volk hängt von keinem Staat ab. Alles, was sich staatlich aufbläht, ohne vom Volk genehmigt zu sein, ist antidemokratisch. Staatstheoretisch – das klingt, als

stamme es aus einem Habermas-Manifest. Dass Demokratie keine knochentrockene Theorie, sondern ein sattes Leben bedeutet, muss ein öffentliches Geheimnis bleiben. Muss der Diskurs – also der Streit auf dem Marktplatz – abstrakt-rational bleiben? Auf keinen Fall, wir sind doch nicht bei armen Leuten:

„Eine affektive Identifikation ist zusätzlich möglich.“

Bei affektiv haben wir vor allem an „irrationale“ Gefühle zu denken. Dann wundern sich die Staatstheoretiker, dass eine emotionale Identifikation unvernünftig sein muss. Bloße Emotionen gelten als irrationale Irrlichterei – gemäß dem Männerstandard: Frauen sind unberechenbar und unvernünftig, denn sie haben Gefühle. Alles, was man höheren Orts ablehnt, muss emotionaler Natur sein und darf keine sachlichen Ursachen haben. Jeder Volksprotest gegen Machenschaften führender Klassen muss aus der weiblichen Bauchhöhle des Volkes kommen und kann mit rationalen Gründen nicht behoben werden. Das Volk, das Weib, das Kind: alles vernunftlose Erfindungen der Evolution, die so schnell wie möglich von rationalen Maschinen ersetzt werden müssen.

Da Vernunft und Eliten sich immer oben befinden, müssen Eliten Ausbünde an männlicher Weltvernunft sein. Ist republikanisch nicht identisch mit demokratisch? Niemals: republikanisch muss gegen liberal antreten. Der Liberalismus gilt als Gegner des Republikanischen.

„Der Republikanismus tritt in unterschiedlichen Ausprägungen auf und hat sich im Laufe der Geschichte weiterentwickelt. Der Republikanismus geht davon aus, dass der Einzelne grundsätzlich ein teilhabewilliger, solidarisierungsorientierter und vernunftbestimmter Bürger sei. Von Seiten des Liberalismus – bzw. der repräsentativen Demokratiebewegung wird am Republikanismus die hohen Erwartungen an Rationalität und an ein Eingebundensein des Bürgers in die Politik kritisiert.“

Mit anderen Worten: die (Neo-)Liberalen kritisieren die allzu hohe rationale Einschätzung der Demokraten durch die Republikaner. Nicht nur das: diese Vernünftler wollen die Bürger tatsächlich in die Politik „einbinden“. Einbinden ist binden. Wie wär‘s mit fesseln und am Nasenring vorführen? Neoliberale Weltökonomen wollen, dass der Große Rüpel sich respektvoll von ihren hohen Transaktionen entfernt hält. Ohnehin versteht er nichts von den komplexen Dingen dieser Welt, die nicht einmal von denen verstanden werden, die sie propagieren.

Bleibt das Rätsel einer Willensnation. Warum ist eine demokratische Nation keine Vernunftnation? Weil Wille keine Vernunft ist und die griechischen Vernünftler nicht einmal ein adäquates Wort für Willen besaßen. Sokrates appellierte an die Einsicht. Wer Vernunft hat, hat auch Willen. „Niemand fehlt freiwillig“ – niemand handelt gegen seine Vernunft: für Moderne eine hybride Überschätzung der – sündigen – Vernunft.

Gottes Willen ist nicht Vernunft, sondern unbegrenzte Willkür. Was er will, muss sich vor keiner Vernunft rechtfertigen. Sein Wille geschehe, denn er ist unfehlbar. Wille Gottes kann alles sein: Liebe, Hass, heiliger Zorn, Raserei, Langmut, Nachsicht, Gnade, Rache und unbegrenztes Strafbedürfnis. Gottes Wille ist unergründlich und irrational.

Für die Erfinder der deutschen Genie-Ästhetik waren Künstler gottähnliche Genies: unergründlich und irrational. So definieren sich die demokratischen Kunstgenies noch heute: niemand kann sie per Vernunft verstehen, rationale und politische Botschaften haben sie keine zu bieten. Das Geheimnisvolle will „ahndend“ nachempfunden werden. Wer sich mit platter ratio nähert, bleibt ein ästhetischer Barbar.

„Auf Erkenntnis kommt den Griechen alles an. Wo bleibt der Wille? Damit stoßen wir auf einen Punkt, an dem sich eine tiefgehende Verschiedenheit zwischen dem hellenischen und dem modernen Empfinden offenbart. Der Grieche kennt keinen Willen, der nur objektlose psychische Energie wäre. Seine Sprache hat nicht einmal ein Wort, das unserem „Willen“ entspräche. „Willensmensch“ lässt sich griechisch nicht einmal übersetzen, sondern nur umschreiben. Natürlich kennt auch der Grieche das Wollen und Begehren, aber nur so, dass ihm ein bestimmter Gegenstand oder eine Tätigkeit vorschwebt, auf die es gerichtet ist. Der Hellene appellierte nicht an den Willen, sondern an die Erkenntnis. Das ethische Ziel, das Sokrates gewiesen hatte, wurde bei den Stoikern die Grundlage einer psychologischen Theorie, die dazu bestimmt war, die Alleinherrschaft des Logos und das Dogma „Tugend ist Wissen“ sicherzustellen. Ein Wille des Menschen als besondere psychische Funktion hatte hier keinen Raum.“ (Max Pohlenz, Die Stoa)

Der strenge „Intellektualismus“ des Sokrates wurde von Aristoteles aufgeweicht, der der bloßen Vernunft nicht mehr alles zutraute. Um Zöglinge zu erziehen, genügt kein Appell an die bloße Vernunft. Die Emotionen müssen gesondert trainiert werden – woraus sich 2000 Jahre später der Drill der Konditionierer entwickelte. Hatte der frühe Freud noch Respekt vor dem Ich als Instanz bewusster Vernunft gehabt, degradierte Skinner, der Erfinder der bewusstseinslosen Konditionierung, den Menschen zum Pawlow‘schen Hund, der zum sklavischen Gefolgsmann seiner primären Bedürfnisse wurde, die dem Kommando externer Signale folgten.

In der christlichen Religion wurde Vernunft zur lächerlichen Torheit vor Gott, der alle Vernunft überragte. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott ist von Gnade und Erbarmungslosigkeit geprägt – also von einem irrationalen Willen. Der Kampf der Aufklärung gegen den Klerus war ein Kampf gegen den vernunftlos-unfehlbaren Willen des Himmels.

Die durchgängige Manipulation des Einzelnen durch allgegenwärtige subliminale Reize der Werbung und einer obrigkeitsergebenen medialen Prätorianergarde kennt keine Vernunft des Volkes. Die Masse ist eine weibische Horde, die man mit Pawlow‘schen Glockentönen führt, wohin sie nicht will – sofern sie überhaupt einen eigenen Willen haben darf.

Das jetzige Aufbegehren des Volkes ist das Ergebnis eines langen Manipulationsvorganges der unteren durch die oberen Klassen. Was nicht bedeutet, die Oberen wüssten, was sie tun. Sie wissen lediglich, wie sie ihren Profit erhöhen. Selbstschädigende Folgen ihres vernunftlosen Profitabschöpfens werden von den Eliten nicht zur Kenntnis genommen, ja, als Scheinargumente der kopflosen Menge verworfen. Eliten sind instrumentell rational, an das gute und erstrebenswerte Leben verschwenden sie keinen einzigen Gedanken.

Die deutsche Spätphilosophie des Willens begrub die letzten Reste der Vernunft. Die Lebensphilosophie wollte extensiv über die Stränge schlagen und die Epoche der Vernunft radikal beenden. Der Wille zur Macht war das letzte Wort einer einstigen Denkernation, die mittlerweilen alles folgerichtige Denken verabscheute und ihren moralbefreiten Leidenschaften und Affekten blind folgte. Der fanatische Wille („Fanatismus“ war ein Lieblingswort des Führers) zur Weltbeglückung und Welteroberung war das letzte Wort einer Nation, die nicht mehr Amboß sein wollte und vom eigenen Hammer erschlagen wurde.

Noch heute, mitten in der Nachkriegsdemokratie, herrscht ein dumpfes Klima der Vernunftfeinschaft in Deutschland, als ob die Herrschaft des Volkes eine irrationale Orgie wäre, die nur durch strenges Reglement gebändigt werden könne. Der Wille artikuliert sich heute in der neoliberalen Version des grenzenlosen Risikos, der Ächtung aller Sicherheitsbedürfnisse als „Vollkaskomentalität“, der Erfindung des abenteuerlichsten Events und des endlosen Wettbewerbs zwischen allen Nationen und Individuen. Kein Tag ohne Rankingslisten der Mächtigsten, Reichsten, Schönsten und Skurrilsten, Zufriedensten, Mobilsten, Genialsten, Fortgeschrittendsten und Zukunftsprägendsten.

Da Vernunft die allgemeine Fähigkeit zur Wahrheitsfindung ist, muss allgemeine Wahrheit geleugnet werden zugunsten subjektiver Beliebigkeit – die dennoch für alle Menschen verbindlich sein soll. Nietzsches Perspektivismus verurteilt jeden „rationalen Diskurs“ zur Farce. Debatten als Kampf denkender Geister, die ihre Argumente vorbringen, sind so gut wie unbekannt. Es herrscht ein patriarchalischer Stil des „Schluss mit …“. Seltsamerweise verbindet sich der autoritäre Stil mit der Atmosphäre eines rigiden Sowohl, als auch. Wer sich von etwas überzeugt gibt, könne nur totalitär sein. Gewissheiten über das Gute und Humane sind verboten.

Wehrhafte Demokraten werden so zu Faschisten des Mehrheitswillens. Wer seine Aussagen nicht mit „Vielleicht, Möglicherweise, Ich bin mir nicht sicher“ garniert und relativiert, ist schlimmer als ein Despot. Wer Fehlleistungen nicht mit dem jämmerlichen Wörtchen „Schade“ passieren lässt, sondern energisch attackiert, der müsse ein Beckmesser sein.

Im Klima der Zerrüttung aller demokratischen Überzeugungen wundern sich die deutschen Helden des „Vielleicht, Vielleicht doch nicht“, dass die Demokratie droht, abhanden zu kommen. Was nicht mit Inbrunst und Scharfsinn verteidigt wird, kann keinen Bestand haben. Apathische Gelähmtheit und Meinungsunfähigkeit auf der einen Seite und übermäßiges Zuschlagen mit law und order auf der anderen sind pathologische Entmischungen, die es nicht schaffen, eine wehrhafte Toleranz zu zeigen. Deutsche Dialektik wirft zusammen, was nicht zusammen gehört und reißt auseinander, was verbunden werden müsste.

§ 1 der ungeschriebenen Verfassung lautet: die Würde des Gottes ist unantastbar.  § 2: Die Würde des Menschen ist mit der Würde Gottes unvereinbar. Ergo: §1 der geschriebenen Verfassung: die Würde des Menschen ist unantastbar, ist mit den „Werten eines christlichen Abendlands“ nicht vereinbar. Also muss die unantastbare Würde des Menschen eine Illusion oder eine propagandistische Erfindung sein.

Wenn der Gott in der Verfassung der christliche Gott sein soll – und kein Gott der Vernunft oder der Natur – ist §1 der geschriebenen Verfassung eine kollektive Farce. Entweder ist der Gott in der Verfassung eine belanglose Chiffre oder er ist der Gott der Bibel, dessen Würde jede Würde des autonomen Einzelnen ausschließt, dann müsste jeder Leugner dieses Gottes als Verfassungsfeind eingestuft werden. Rosige Aussichten.

Gott ist Inbegriff eines allmächtigen Willens, der nur ein Entweder – Oder kennt. Das ist kein Entweder – Oder des begründbaren Wahren, sondern eines vernunftlosen „Es ist so, weil ich es will“. Die Wahrheit des Gottes ist unerkennbar und nicht nachvollziehbar: sie gilt, weil ein Allmächtiger sie nach Lust und Laune zur Wahrheit ernannte.

„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat. Wer nicht wider uns ist, der ist für uns“ – aber nur, wenn er Gottes Willen tut: „Denn wer euch einen Becher Wasser zu trinken gibt auf meinen Namen hin, weil ihr Christo angehört, wahrlich, ich sage euch: Ihm soll sein Lohn nicht mangeln.“ „Wenn jemand die Welt liebhat, ist die Liebe zum Vater nicht in ihm. Denn alles, was in der Welt ist, stammt nicht vom Vater. Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmet ihn nicht in euer Haus auf und begrüßt ihn nicht. Denn wer ihn begrüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken“.

Hier sehen wir die verborgenen Wurzeln der christlichen Fremdenfeinschaft – die erst durch die Humanität der Aufklärung korrigiert werden konnte. Der Wille des Gottes gilt absolut, sein Entweder-Oder führt in den Himmel oder in die Hölle. Lauheiten erträgt der voluntaristische Gott nicht:

„Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Niemand kann zwee Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den andern lieben oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen oder dem Mammon.“

Was nicht bedeutet, dass man dem Mammon nicht dienen könne – wenn dieser dem Gott dient.

Eine Verfassung ist keine göttliche Offenbarung, aber auch kein belangloser Wegwerfartikel. Ein Theaterstück des Ferdinand von Schirach wollte die Verfassungstreue der Deutschen testen. Darf man ein Flugzeug mit 300 Passagieren abschießen, um ein ganzes Stadion voller Menschen zu retten, das von Terroristen mit dem Absturz des Flugzeugs bedroht wird?

Menschen dürfe man nicht gegenseitig aufrechnen, erklärte ein hohes Gericht. Wer sich für den Angriff gegen das Flugzeug entschied, um die vielen Menschen im Stadion zu retten, der musste ein Verfassungsgegner sein. Dennoch entschied sich die Majorität des Publikums in allen drei deutschsprachigen Ländern für die Rettung der Vielen.

War das ein Fall von Volksjustiz, wie glühende Verfechter der Verfassung schäumten? Jedes Gerichtsurteil geschieht: im Namen des Volkes. Die ganze Verfassung ist dem Geiste nach ein Werk des Volkes. Wer sie im Auftrag des Volkes formuliert hat, ist belanglos. Das Volk: nicht als zufällige Horde irrationaler Amokläufer genommen, sondern als Inbegriff der Vernunft oder das Volk in seiner utopischen Potenz. Was auch immer die „Väter des Grundgesetzes“ formulieren, sie müssen die Prinzipien eines vernünftigen Volkes stellvertretend zu Papier bringen – und dem Volk die endgültige Entscheidung überlassen.

All dies geschah nicht in Deutschland. Auch nicht bei der Wiedervereinigung von Ost und West, obgleich das Grundgesetz diese Grundsatzdebatte vorsah. Hier verstießen die Politeliten, wie so oft, gegen den Wortlaut der Verfassung. Hier schäumte niemand. Eliten dürfen alles, dem Volk wird nichts vergeben.

Von Schirach hatte das überlegene Lächeln des Wissenden aufgelegt, um das Volk autoritär dem Spruch eines Gerichtes zu unterwerfen und ihm dennoch das Geständnis zu entlocken, dass seine moralischen Grundsätze schwankend und unstabil seien. Selbst das höchste Gericht ist nicht von päpstlicher Unfehlbarkeit. Jedem Gerichtsurteil darf widersprochen werden. Ist eine Debatte angesetzt, muss über alles gestritten werden können. Tabus kennt eine Demokratie nicht. Das Volk zum Kotau vor hohen Richtern aufzufordern, ist obrigkeitlich-blinder Gehorsam und keine Tapferkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Das Spektakel war ein einziger Schlag gegen die autonome Vernunft des Einzelnen. Das ungebärdige Volk – angebliche Brutstätte der gegenwärtigen Hassorgien gegen alles Undeutsche – sollte wieder eingebunden und an die Leine überlegener Führungsklassen gelegt werden. Auch die Verfassung ist keine Offenbarung, besteht im Übrigen aus vielen Einzelartikeln, die alle zur Debatte stehen. Infallibel und kritikimmun ist hier nichts.

Kein Recht ist vom Himmel gefallen, wie deutsche Juristen sich gerne pathetisch geben, als sei das Justizwesen das legitime Erbe der Theologie. In Deutschland hat es noch nie eine allgemeine Debatte um die Verfassung gegeben. Woher die Rechtsgrundsätze stammen, ob sie für das Volk akzeptabel sind oder revidiert werden müssen, das durchzufechten, ist bis zum heutigen Tage versäumt worden. Kein Ruhmesblatt für die Deutschen.

Verfassungstreue ist ein hohes Gut. Doch jede Verfassung muss an den Rechtsvorstellungen gemessen werden, die jeder Mensch in sich hat. Nenne man dies Naturrecht oder sonstwie, auf den Namen kommt es nicht an. Die abendländischen Menschenrechte wuchsen auf dem Boden des griechischen Naturrechts der Schwachen. Unglaublich, aber wahr, dass deutsche Gelehrte das Naturrecht der Griechen stets als Naturrecht der Starken – als Sozialdarwinismus – präsentieren. Den Griechen will man die Menschenrechte nehmen und dem antinomen Voluntarismus der heiligen Schrift zuschreiben: eine der größten Geschichtslügen des Abendlandes.

Das Oberste Gericht tat, was es verbot: es spielte die Menschen gegeneinander aus. Aber nicht zugunsten der Mehrheit, sondern der Minderheit. Die Umrechnung der Quantitäten in Qualitäten ist ein Übel der Moderne seit Galileo. Durch Quantifizierung aller Naturvorgänge wurde der Mensch zwar fähig, die Gesetze der Natur zu erkennen, um sie zu beherrschen. Doch alles Qualitative ging der Natur seitdem verloren. Menschliche Qualitäten lassen sich ohnehin nicht quantifizieren. Wer viele Bücher geschrieben hat, muss kein Sokrates sein, der keins geschrieben hat.

Der Test war eine unbewusste Falle. Die kleine Zahl sollte für erlesene, höhere Qualität stehen. Das Volk sollte das ordinäre Mehrheitsprinzip zugunsten der subkutanen Nobilitierung der Minderheit durchbrechen. Was ist im Falle eines Falles wichtiger für das Überleben der Nation: das Weiterleben der wenigen aristoi oder das der Allzuvielen, die nicht die Kompetenzen der Oberen aufzuweisen haben?

Das war die eigentliche, aber nicht ausgesprochene Aufgabe für das Volk. Ständig müssen wir uns zwischen Minderheiten und Mehrheiten entscheiden. Sollen im Falle einer Klimakatastrophe die Mehrheiten der „unterentwickelten“ Völker oder die Minderheiten der westlichen Erlösereliten gerettet werden? Die gesamte Politik des Westens basiert auf der stillschweigenden, selbstverständlichen Rettung der weißen Minderheiten gegenüber den rasend anwachsenden Milliarden Menschen in Afrika und anderswo.

Schirachs Aufgabe hätte eine deutlichere Sprache sprechen müssen. Wer ist wichtiger: 300 Angehörige der Eliten – oder ein ganzes Stadion der Shitstormer, Pegadisten und rechten Hassprediger, die die bundesdeutsche Szenerie vergiften?

Die Dominanz der kleinen Zahl bestimmt die heilige Tiefendimension des Westens. Viele sind berufen, wenige auserwählt. Den einzelnen Sünder, der Buße tut, liebt der Himmel mehr als 99 Moralisten, die vor der Gnade nicht in die Knie gehen. Aus Massen Minderheiten auswählen, das ist das Grundgesetz Gottes oder seine Selektionsgewalt. Die Verwandlung von Quantität in Qualität wird beibehalten, aber auf den Kopf gestellt. Gott ist in den Wenigen und Schwachen mächtig. Die Wenigen und Schwachen haben die Welt erobert.

Hat die vergötterte Kanzlerin nicht auch gegen europäische Gesetze verstoßen, als sie in einer Nacht- und Nebelaktion viele Flüchtlinge über die Grenzen ließ? Warum haben die Verfassungspatrioten hier nicht geschäumt? Die Flüchtlinge waren gerettet, Merkel hätte ihren Gesetzesverstoß mit allen Argumenten dieser Welt rechtfertigen können. Jeder Demokrat sollte die Gesetze einhalten, die er für richtig hält. Kommt er in eine Situation, in der er die Brüchigkeit der geschriebenen Paragraphen erkennt, muss er nach seiner Einsicht handeln – und die Folgen des Gesetzesverstoßes freiwillig auf sich nehmen. Merkel hätte sich selbst bei der Justiz anklagen müssen.

Auch das Volk hat Gewissen, das sich die Freiheit nimmt, jeden Rechtsgrundsatz mit dem eigenen Verstand zu beurteilen. Ein demokratisches Gewissen ist eine Stimme der Vernunft. Wessen Gewissen sich einem Gott unterordnet, hat sich aus der Raison der Demokratie hinauskatapultiert.

Typisch für die Deutschen, dass sie eine Debatte nicht mit schlichten Grundsätzen beginnen, um sich von allgemeinen Prinzipien zu schwierigen Grenzfällen durchzuarbeiten. Ein Grenzfall ist kein günstiges Terrain zum Erzielen von Gemeinsamkeiten. Grenzfälle sind im Pro und Contra soweit zu erhellen, dass eine humane Abwägung erfolgen kann. Eine goldene Lösung für alle Beteiligten ist nicht immer möglich. Hier muss jeder seine Prioritäten setzen. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, so Carl Schmitt. Souverän ist, wer die Macht besitzt – und nicht einleuchtende Argumente –, um über die Ausnahme zu entscheiden.

Um die Überlegenheit der Experten zu demonstrieren, werden Laien mit Vorstellungen konfrontiert, die sie vermutlich nie erleben werden. Das ist Abschreckung als Volkspädagogik. Kein Volk ist irrtumsfrei. Das gilt noch mehr für seine selbsternannten Führer. Dennoch kann der Instinkt des Volkes intuitiv der Wahrheit näher kommen als die Sophismen der Rhetoriker.

Es ist zur westlichen Unsitte geworden, moralische Probleme zu tabuisieren oder anhand absurd-skurriler Beispiele zu erörtern. Nimm an, du säßest in einem Rettungsboot, das plötzlich in Seenot gerät. Du hättest die Macht und die Pflicht, zu entscheiden, wen du retten willst und wer über Bord gehen muss, um die anderen zu retten. Hier entlarvt sich die ganze Asozialität des christlichen Solipsismus. Wer ist „heilsnotwendig“, wer muss zum Teufel gehen?

„Jesus antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, so er verläßt Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kind oder Äcker um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfältig empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben. Viele aber werden die Letzten sein, die die Ersten sind, und die Ersten sein, die die Letzten sind.“

Ein Mensch wird zum Richter seiner Mitmenschen ernannt und muss an Gottes statt entscheiden. Wichtig ist der Seligkeitsegoismus der Einzelnen, nicht die unverbrüchliche Solidarität der Gemeinschaft, die lieber zusammen untergeht als in unverdientem Einzelglück davonzukommen.

Was war das Fazit des tollen TV-Tests? Das Volk ist verfassungsunfähig und besitzt keine stabilen Urteilsqualitäten. Die menschliche Moral ist auf Sand gebaut. Sind wir doch allemal Sünder und ermangeln des Ruhmes. In allen Dingen bedürfen wir einer höheren Gnade.

Eben dies sollte in Erinnerung gerufen werden, um die aufmüpfigen Massen zu disziplinieren. Das Volk ist der Große Rüpel, der seiner triebhaften Unvernunft ausgeliefert bleibt. Die Verfassung ist die Knute, mit der er in die Knie gezwungen wird.  

 

Fortsetzung folgt.