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Weltdorf XXI

Hello, Freunde des Weltdorfs XXI,

eine Megapolis ist keine Polis, sondern der Untergang derselben. Eine Megastadt ist keine Metropolis – Mutterstadt –, sondern die Erfindung größenwahnsinniger Väter. Die Megacity ist das fleischgewordene grenzenlose Wachstum einer menschlichen Phantasmagorie.

Wenn Zellen ins Maßlose wuchern und den Gesamtorganismus gefährden, sprechen Mediziner von malignen Tumoren – oder von Krebs. Wer sich vor Augen führen will, in welchem Ausmaß die Menschheit sich zu krankhafter Grandiosität aufgebläht hat, muss ihre Riesenstädte betrachten. Krebs ist die Verletzung eines Gleichgewichtszustands.

„In einem gesunden Organismus werden die Zelltypen, aus denen sich die verschiedenen Gewebe der Organe aufbauen, in einem ausgewogenen artspezifischen Gleichgewicht gebildet und regeneriert, was als Homöostase bezeichnet wird. In diesem Zustand der Homöostase gibt es ein Gleichgewicht zwischen der Vermehrung von Zellen und dem Zelltod. Der Hauptanteil des Absterbens von Zellen erfolgt dabei durch Apoptose, bei der die Zellen „Selbstmord“ begehen.“ (Wiki)

Werden und Vergehen, Leben und Sterben müssen sich ausgleichen. Das Fortschrittsprogramm der Moderne ist eine Agenda zum Wachstum von Krebswucherungen. Wenn eine Demokratie sich nicht mehr im Gleichgewicht befindet, Demokraten sich nicht mehr gleichwertig empfinden, sich abschotten und einen permanenten Bürgerkrieg führen, ist der Grundstock der Wucherung bereits gelegt. Interessant, wie Mediziner zwischen Apoptose und Nekrose unterscheiden:

„Im Gegensatz zum anderen bedeutenden Mechanismus des Zelltods, der Nekrose, wird die Apoptose von der betreffenden Zelle selbst aktiv durchgeführt und ist somit Teil des Stoffwechsels der Zelle. Dadurch unterliegt diese Form des Zelltods strenger Kontrolle und es wird gewährleistet, dass die betreffende Zelle ohne

Schädigung des Nachbargewebes zugrunde geht.“ (Wiki)

Apoptose ist also kein Selbstmord und keine Autophagie, wie die Fachwissenschaft blutrünstig formuliert, sondern ein natürliches Absterben – im Dienste neuen Lebens. Was von sich aus und ohne fremde Gewalteinwirkung stirbt, muss nicht aufgefressen werden und schädigt keine Nachbarzellen.

Was gefährlich klingt, ist lebensnotwendig: Bei dem fortlaufend stattfindenden Prozess werden etwa geschädigte oder funktionslose Proteine oder Zellorganellen verdaut und aus dem Verkehr gezogen. Man kann sich das wie eine Art Müllabfuhr vorstellen – allerdings mit Recyclinganlage. Denn einzelne, noch verwertbare Bestandteile werden wiederverwendet.“ (SPIEGEL.de)

Was die Menschheit schon alles weiß – und doch nicht wissen will. Wie sie den internen Stoffwechsel des Menschen immer genauer zu beschreiben versteht, und ihn doch auf keinen Fall auf politische Vorgänge übertragen will! Ist die Menschheit ein Organismus? Kann man externe Vorgänge mit internen erklären? Gelten natürliche Vorgänge im Körper auch außerhalb im „unnatürlichen“ Bereich der Zivilisation, der vom Geist des Menschen erschaffen sein will? Überragt der Geist des Menschen die geistlose Natur nicht in allen Dingen? Wäre es nicht Blasphemie, Geist wie Natur zu behandeln?

Bei Hegel war Geist das Alpha und Omega des Weltgeschehens. Bei seinem Schüler Marx wurde Geist zum sekundären Überbau degradiert, Natur – die er Materie, das Mütterliche nannte – wurde rehabilitiert und zur leitenden Instanz der Weltgeschichte erhoben. Dennoch blieb das Prinzip gleich: von zwei Grundelementen der Wirklichkeit ist Eines aktiv-dominant, das Andere passiv-duldend. Man könnte sagen, bei Marx wurde Materie zum Geist, Geist zur sekundären Masse, die von der geistigen Materie geprägt wird.

Bei Hegel dominiert männlich-göttlicher Geist über passive Frau, Marx stellt alles auf den Kopf und ernennt die Frau zur Domina des willenlosen Mannes. Aber nur auf dem Papier. In der Realität des Materialismus blieb – trotz der Frauenbücher von Bebel und Engels – die Vorherrschaft der Männer unangefochten.

Die Gleichberechtigung der Frau – ein bloßer „Nebenwiderspruch“ – beschränkte sich auf die Subordination der Frau unter die männliche Eroberung der Natur mit Hilfe heilig gesprochener Arbeit. Auch die Frau musste arbeiten gehen – ihre genuine Arbeit des Gebärens und Erziehens war nichts als sündige Muße – und ihr „Mütterliches“ schonungslos zur Strecke bringen.

Der Fortschritt der Frau wurde zum Rückschritt auf Kosten der Kinder und einer intakten Neststruktur, in der der Mensch sich zu Hause fühlen kann. Heute sind Frauen und Männer rasende Monaden, die Familie und Kinder als lästige Nebenpflichten betrachten und sich dem kapitalistischen Moloch unterworfen haben.

Natur ist geistige Materie oder materieller Geist. Der Mensch ist Geschöpf der Natur und also ein symbiotischer Organismus aus Geist und Materie. Im gesunden Menschen befinden sich Weibliches und Männliches im Gleichgewicht. Was für die Natur des individuellen Körpers gilt, kann für die Natur des menschlichen Gesamtorganismus nicht falsch sein. Schließlich ist der Mensch ein Geschöpf der Natur.

Als die Männer ihre hierarchische Hochkultur mit allmächtigen Göttern erfanden, musste ein Keil zwischen Natur und Mensch getrieben werden. Im Sündenfall wurde das weibliche Element zum Einfallstor des Bösen und dem Manne untertan, der die weibliche Natur zum Schemel seiner Füße erniedrigte.

Natur kann sich entwickeln und in bestimmten Aspekten verändern – und dennoch im Gleichgewicht verharren. Erst wenn sie ihr Gleichgewicht verlöre, dürfte man von Nekrose oder Autophagie sprechen. Wäre die Menschheit ein Abbild der selbstzerstörerischen Natur, käme sie nicht umhin, eine planetarische Sterbequote festzulegen, um nicht als ganze unterzugehen. Sei es in Form eines „freiwilligen“ Suizids, sei es als Fremdtötung der Überflüssigen und Überzähligen, die nicht aus eigener Kraft existieren können und parasitär am Tropf der Tüchtigen und Erfolgreichen hängen.

Als die Naturwissenschaft der beginnenden Moderne die Feindschaft der Kirche in die Flucht geschlagen und sich zum Vorbild aller Aufklärer entwickelt hatte, begann sie, als Nachfolgerin der Theologie und Philosophie, die Welt im Ganzen zu deuten. Griechische Gedanken eines harmonischen Kosmos stritten sich mit Gedanken einer bösartigen Macht, die dem Menschen nichts Gutes gönnte und von diesem mit Gewalt zur Raison gebracht werden musste. Die Natur hatte zwei unterschiedliche Gesichter: ein gnadenreich-gebendes und ein eiskalt-vernichtendes.

Je mehr die frühkapitalistischen Nationen miteinander konkurrierten, je mehr dämonisierten sie die Natur zur Urheberin des gegenseitigen Fressens und Vernichtens. Das war die Legitimation ihrer Vernichtung durch technischen Fortschritt. Natur wurde zur grausamen Mutter, die ihre Geschöpfe mitleidlos verschlang. Tiere, die andere töteten, um sich zu ernähren, wurden zu bestialischen Raubtieren.

In diesem Inferno gab es kein Plätzchen für gegenseitige Sympathie und Solidarität, geschweige von Aufopferung für andere. Die Natur entwickelte sich, aber nicht durch kontinuierliches Lernen (Lamarck), sondern durch Mutation und Selektion oder blinden Zufall und willkürliche Auswahl.

Was Darwin für die Natur, wurde Hayek für die Menschheit. Der Markt wird nicht durch Verstehen und Lernen beherrscht, sondern durch Zeit und Zufall.

Darwin wurde der Prophet so unterschiedlicher Geister wie Hegel, Marx, Haeckel, aufkommender Rassisten, Imperialisten und Sozialdarwinisten. Der Nationalsozialismus war eine Extremausgabe des Darwinismus. Was Wunder, dass die österreichischen Erfinder des Neoliberalismus als leidenschaftliche Positivisten (Gläubige der exakten Wissenschaften) den Darwinismus der Natur auf die Zivilisation übertrugen.

Kaum waren die Erregungen der 68er-Studentenbewegung verklungen, übernahmen Darwin & Hayek die Regie über die deutschen Eliten und Meinungsmacher. Jede TV-Natursendung wurde zum Schauplatz bluttriefendender Bestien. Erst seit einer guten Dekade verwandelte sich das wissenschaftliche Paradigma der Naturforscher. Heute überschlagen sich die Zoologen und Biologen mit Beispielen tierischer Sippensolidarität, ja selbstlosen Aufopferns im Dienst der Schwächeren.

Die Anfänge der Grünen standen unter dem Zeichen des Gleichgewichts der Natur, das wieder hergestellt werden muss, wenn die Menschheit überleben will. Der Stoffwechsel aller Dinge mit allen musste homöostatisch sein. Endloses Wachsen war Sünde wider den Geist einer kosmischen Ordnung.

Kaum hatten die Grünen ihre rotzfreche Pubertät hinter sich gebracht, kaum hatte Joschka Fischer die Turnschuhe mit dem Zweireiher vertauscht, war von Homoöstase keine Rede mehr. Hand in Hand mit dem Weltwirtschaftskanzler Schröder wurden alle Gleichgewichtsvorstellungen der Natur und Gesellschaft dem Moloch Wachstum geopfert. Darwin & Hayek obsiegten ausgerechnet bei den Grünen und postmarxistischen Proleten – die bis heute nicht verstehen, warum ihre einstigen Wähler das Grausen empfinden, wenn sie die beiden Parteien beim neoliberalen Hantieren, Mutieren und Selektieren beobachten müssen.

Die Epoche des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur, der Gleichheit von Mensch und Mensch, wurde begraben und von der Epoche der grenzenlosen Evolution der Natur und der Ungleichheit aller Menschen abgelöst. Eine Natur, die sich ins Unbegrenzte entwickelt (Evolution), kann keine Rücksicht mehr auf Homoöstasen nehmen. Partielle Entwicklungen ins Grenzenlose zerlegen den Status quo, um in fruchtbarer Zerstörung das Lebensunfähige auszumerzen und zu neuen Ufern zu streben – ad infinitum. Das Prinzip Ungleichheit beherrscht den Fortschritt der Gesellschaft. Nur wenn es Friktionen und fremdfressende Konkurrenzen gibt, kann die Pilgerschaft der Menschen ins Messianische fortgesetzt werden.

Megastädte sind Eiterbeulen neodarwinistischer Ungleichheiten auf der Wanderung der Lemminge in eine unbekannte und gefährliche, pardon, eine verheißungsvolle Zukunft.

Homöostasen sind geringe polare Schwankungen um einen stabilen Mittelwert. Einen Fortschritt der Zeiten gibt es hier nicht. Jede Geschichte als lineare Heilsgeschichte ist mit diesem zyklischen Denken unvereinbar.

Zwei Zeitvorstellungen befinden sich im Streit um Sein oder Nichtsein: die unverrückt nach vorne blickende Zeit der messianischen Zukunft – und die zyklische Zeit der ewigen Wiederholung gleicher Naturvorgänge. Was nicht bedeutet, einzelne Phänomene könnten sich hier nicht verändern. Das Gleichgewicht des Großen und Ganzen aber muss stabil bleiben. Stabilität und Wiederholung sind für den dynamischen Zeitgeist Eigenschaften ewig gestriger Hinterwäldler.  

Bauern orientierten sich lange an der zyklischen Wiederkehr der immer gleichen Natur; Heroen der technischen Zivilisation orientieren sich an der Unumkehrbarkeit des Fortschritts. Inzwischen haben die Bauern den Konservatismus der ewig gleichen Natur verlassen und sind mit wehenden Fahnen zum grenzenlosen Fortschritt der Naturbearbeitung und -veränderung übergelaufen. Ohne chemische Zusätze gibt es keine wachsenden Erträge zur Fütterung anschwellender Menschenmassen. Und keine höheren Profiterträge für den Bauern, der sich regelmäßig mit neuen Maschinen und industriellen Zusatzstoffen ausstatten muss.

Dominic Johnson sieht in den Riesenstädten mehr Chancen als Gefahren für die Menschheit:

„Die großen Revolutionen und Umstürze unserer Zeit haben ihren Ursprung zwar fast immer im kleinstädtischen Milieu, in der direkten persönlichen Konfrontation zwischen Machthabern und Entrechteten; aber ihre Erfüllung finden sie in den Metropolen, wo die Staatsmacht sitzt und wo die Bürger zusammenstehen. Nirgendwo sonst kann die Staatsmacht so direkt herausgefordert werden, nirgendwo sonst kann sie so geballt zurückschlagen. Es gibt keine Megastadt ohne Ungleichheit. Die institutionalisierte Entrechtung von Zuzüglern vom Land etwa in China ist nur die kodifizierte Form eines weltweit zu beobachtenden Gefälles. Einige Wenige und Begüterte schaffen sich im metropolitanen Raum Blasen des Wohlstands und des Anschlusses an die Globalisierung. Und die Vielen und Verzweifelten streben zu diesen Blasen wie Motten ans Licht, dauernd auf der Suche nach Nahrung und ständig auf Distanz gehalten.“ (TAZ.de)

Trotz aller Gefährdungen sei die Riesenstadt noch immer die Erbin der Athener Polis, wo der Mensch seine demokratische Autonomie errang:

„Die Großstadt als Ort, wo Altes abgeworfen und Neues erschaffen wird, wo die Entfaltung des freien Individuums an die Stelle von Tradition und Familie tritt – diese Utopie ist so alt wie das städtische Leben selbst. Von der Athener Demokratie der Antike bis zu den Bildungsromanen des europäischen 19. Jahrhunderts und ihren postkolonialen Erben weltweit wird die Metropole immer wieder aufs Neue als aufregender Gegensatz zur ländlichen Monotonie inszeniert.“

Ist das so? Johnsons verzweifelter Versuch, dem Fortschritt etwas Gutes abzugewinnen, muss als gescheitert betrachtet werden.

Die Polis von Athen war kein Gegensatz von städtischer Freiheit und Idiotie des Landlebens. Die Bauern des Umlandes waren gleichberechtigte Bürger und nahmen an allen politischen Veranstaltungen teil. Perikles führte Diäten ein, damit sie ihren politischen Rechten – trotz dringender Pflichten des Säens und Erntens – nachkommen konnten.

Stadtluft macht frei? Nur da, wo es Fürsten und Reichen gelang, die Bauern zu unterdrücken. Deutschlands demokratisches Unvermögen war mit der Niederlage des Bauernaufstandes 1524 bis 1526 besiegelt. Ohne hasserfüllte biblische Unterstützung des Reformators wäre es den Fürsten nicht gelungen, die sensenschwingenden Freiheitshorden niederzuknüppeln. Auf die Unterstützung des Befreiers vom Papismus hatten die Bauern gehofft und wurden maßlos enttäuscht. Luther verdonnerte die Deutschen für die nächsten Jahrhunderte zu striktem Gehorsam unter alle Obrigkeiten. Und seien sie noch so totalitär.

Das brach dem freien Deutschland das Genick bis zum heutigen Tage. Wenn das kein Grund ist, diesen Luther ein ganzes Jahr gebührlich zu feiern. Ein Lessing-Jahr, ein Kant-Jahr, ein Voltaire-Jahr könnte es unter Merkel nie geben. Ein demokratischer Staat ist für die Anhängerin Luthers – der ein Schüler Augustins war – nur eine räuberische Horde, die man zähmen muss. Bessern kann man hier nichts.

Demokratie war die Erfindung Athens, einer Stadt, in der eine face-to-face-Gesellschaft noch möglich war. Wo jeder jeden kennt, kann jeder sich ein Urteil über seine Stadtgenossen bilden. Im Gegensatz zum Neuen Testament hieß es hier: urteilt, damit ihr beurteilt werden könnt. Demokratisches Verhalten ist Prüfverhalten. Kein grundsätzlich ablehnendes Misstrauen, aber auch kein blindes Vertrauen. Ungestörtes Grundvertrauen in den natürlich-guten Menschen paart sich mit dem Wissen um prinzipielle Irrtumsfähigkeit des lernenden Menschen.

Wer zeitlich begrenzte Macht für sich fordert, muss öffentlich zeigen, was er kann und will. Jedem wurde – bis zum Beweis des Gegenteils – die Fähigkeit politischen Tuns zugesprochen. Weshalb das Losen als fairstes Wahlverhalten galt. Es gibt keine völlig unterschiedlichen Fähigkeiten von Natur aus. Jeder hat die Pflicht, seine Talente zu entfalten und in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Nicht Herkunft, Reichtum oder sonstige Privilegien garantieren die Qualität eines Demokraten. Sondern die Fähigkeit, sich mit politischen Mitteln für Gerechtigkeit und Gleichheit einzusetzen.

Heute wird dem Pöbel abgesprochen, die komplexen Verhältnisse zu verstehen. In Athen wäre das ein Skandal gewesen. Politische Kompetenzen sind nicht klassenmäßig proportioniert. Das ärmste Bäuerlein konnte verständiger sein als ein adliger Oligarch.

All dies ist in modernen Riesenstädten unmöglich. Hier herrschen nur Ungleichheit, Reichtum und all jene Mächte, die das Chaos nur äußerlich mit Gewalt und List eindämmen können. Kein Bewohner eines Slums oder einer Favela hat heute die geringste Chance, sich gegen Einflussreiche durchzusetzen. Die Separierten müssen froh sein, wenn sie sich mit letzter Anstrengung am Leben erhalten. Über das Vegetieren hinaus haben sie keine Energien übrig, um aus Überleben ein gutes Leben für sich und ihre Kinder herauszuschlagen.

Eine Megastadt ist ein undurchdringlicher Dschungel, in dem Millionen isolierter Menschen nebeneinander und gegeneinander agieren. Ein Miteinander wird es hier niemals geben. Warum strömen die Menschen vom Lande in den Stadtmoloch? Nicht aus Freiheit, sondern aus Notwendigkeit. Aus Gründen bloßen Überlebens. Vielfach werden sie von ihrem Grund und Boden vertrieben. Ihre Äcker sind chemisch so kontaminiert, dass sie von ihnen nicht mehr leben können. Die fruchtbarsten Landstriche haben sich die Superreichen unter den Nagel gerissen.

Die Stadt ist für sie ein Zufluchtsort wider alle realistische Hoffnung. Die wuchernden Städte sind ökologische Orte der Verdammnis geworden. Hier regiert das Gesetz der akkumulierenden Pestilenzen. Während anderswo gründurchflutete Städte die Anforderungen des Klimawandels bestehen sollen, verdichten sich die Megastädte zu ökologischen Höllenpfühlen. Selbst Großstädte wie Peking sind wochenlang von undurchdringlichem Smog beherrscht.

Wenn die Menschheit die Herausforderungen der Klimaverschärfung bestehen will, muss sie die Megastädte zerschlagen, durchlüften und in jeder Hinsicht humanisieren. Mit Klassengesellschaften, in denen die Kluft zwischen Oben und Unten ins Endlose wächst, wird die Menschheit nicht überleben. Die hell erleuchteten Krebsgeschwüre des Planeten sind selbst aus dem Weltall klar erkennbar.

Die Zukunft des Menschen liegt in einem planetarischen Weltdorf, einer gut durchlüfteten Vernetzung von übersichtlichen Städten und pulsierenden Dörfern in ökologisch sicheren Naturzusammenhängen, in denen es kein kulturelles Gefälle zwischen Stadt und Land gibt. Die Stadt der Zukunft darf kein Sodom und Gomorrha aus Reichtum und Macht, das Dorf der Zukunft kein Ausbund an borniertem Gruppendruck und Zurückgebliebenheit sein. Stadt und Dorf müssen sich gegenseitig befruchten und ergänzen.

Warum ist die Maya-Kultur untergegangen? Nicht aus Racheaktionen einer feindlichen Natur. Die rivalisierenden Staaten „hätten wohl lange existiert, wäre ihr Machthunger am Ende nicht doch zu groß geworden. Die Großherrscher verzockten sich, die Blöcke beließen es nicht beim Kalten Krieg. Stattdessen zogen sie im Jahr 695 gegeneinander in die Schlacht. Mit der Entscheidungsschlacht gegen den verfeindeten Block hatte man sich schlicht übernommen. Oder, um es in heutigem Politjargon zu sagen: Die verbliebene Großmacht hatte sich überdehnt.“ (ZEIT.de)

Die Menschheit ist dabei, die letzten Kulturen, die seit Urzeiten im Einklang mit der Natur leben, auszulöschen. Konkurrenz sollen es in allen Dingen geben, nur nicht zwischen lebensfeindlichen und lebensfreundlichen Kulturen. Also müssen die „primitiven“ von den überlegenen spurenlos vernichtet werden. Ein Fotograf aus München hat die letzten bedrohten Urvölker am Amazonas besucht:

Sein Bericht „zeigt, wie stark bedroht dieses Leben ist. Durch Abholzung, den Klimawandel und den massiven Einsatz von Düngemittel auf den Palmölplantagen, für die die Industrie Platz geschaffen hat. Monatelang ist Hovest durch Peru, Brasilien, Venezuela und Ecuador gereist und hat die Völker am Ufer des Amazonas bei ihren Ritualen und im Alltag beobachtet. „Einige der Jüngeren hatten vor meinem Besuch noch nie einen Europäer gesehen oder berührt“, schreibt Hovest. Ihre Stämme hätten sich längst tief in den Regenwald an die verzweigten kleineren Flussläufe des großen Stroms zurückgezogen.“ (SPIEGEL.de)

Friedrich Wagner schreibt über die Entwicklung der Stadt:

„Die Stadt war einst als Verdichtungsraum menschlicher Existenz die höchste Sozialform geschichtlichen Daseins, die den Geist ganzer Landschaften, ja ganzer Weltreiche in sich aufnahm, als Sitz des Marktes, der Burg, der Gerichtshalle und der Akademie das Lebenszentrum der Völker, deren Gestaltungskräfte sie in ihren Ordnungen steigerte und bewahrte. Von Anfang an war sie als Bild der Erde, der sie entwuchs, ein Ort von Höfen, Vorrats- und Schutzgebäuden, Gärten und Wasseranlagen, der die Menschen formte und zu Gemeinschaften ordnete. Die Städte des Altertums waren Urformen der Gestaltungskräfte bürgerlicher Gemeinschaft. Erst die industrielle Revolution löste dieses Gemeinwesen auf, indem sie durch Verlegung der neuen Fabriken und ihrer Arbeitermassen in seinen Bereich die soziale Ordnung sprengte, die es zur Stadt werden ließ. Erst sie trieb durch maßloses Wachstum die städtische Menschenanstauung hervor, deren soziale Folgen, die Elendsviertel und Wolkenkratzer, zum Zeichen der modernen Großstädte geworden sind. Die Megapolis, die all diese Elemente akkumulierte, hat dieses Chaos kristallisiert und zum kaum mehr lösbaren Daseinsproblem gemacht. Sie bildete keine neuen Lebenszellen, sondern erhob die Wucherung zu ihrem Wachstumsprinzip, ihre Ausdehnung wuchs mit der Unförmigkeit ihrer Gestalt.“ (Die Wissenschaft und die gefährdete Welt)

Lewis Mumford hat über die Entwicklung der Stadt von ihren Anfängen bis zur heutigen Molochstadt ein kolossales Werk geschrieben: „Die Stadt, Geschichte und Ausblick“. In der Atomisierung und dem sozialen Verfall der überdimensionierten Stadt sah er einen Zerfall von der Polis zur Nekropolis, in der er einen „Willen zum Tode“ erkannte.

„Anstatt Leben in die Stadt zu bringen, damit die ärmsten Bewohner nicht nur Sonne und Luft, sondern auch die Möglichkeit erhalten, die Erde zu fühlen, zu berühren und zu bebauen, tragen diese Fortschrittsfanatiker lieber Unfruchtbarkeit ins Land hinaus und bringen am Ende der Stadt den Tod. Vom Dorf hatte die Stadt die Eigenart als mütterliche Umwelt empfangen, die fest in den gleichberechtigten Beziehungen des Menschen zu anderen Organismen ruht.“

Wenn die maßlos wuchernde Stadt das Dorf vernichtet, von dem sie lebt – wie will sie überleben? Bleibt nur der Hinterausgang in die illusionäre Stadt des Himmels:

„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, die zukünftige aber suchen wir.“

 

Fortsetzung folgt.