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Weltdorf XX

Hello, Freunde des Weltdorfs XX,

Donald Trump und Bob Dylan – die Polaritäten der amerikanischen Religion zeigen sich. Mythische Urgestalten entsteigen den Wassern und schütteln ihre zottigen Mähnen. Erlöser wider Erlöser. Erlöser der offenbaren Macht – gegen Erlöser der apokryphen Offenbarung. Erlöser I, der geliebt werden will – gegen Erlöser II, der sich „verweigert“ und per Verweigerung geliebt werden will.

Vulgäre Verschmelzung – gegen heilige Distanz.

Kommet her zu mir, ich will euch erquicken und laben; ich bringe euch zurück zur alten Größe. – Weichet von mir, ihr betretet heiligen Boden, Zutritt nur für Erwählte.

Barbarische Verheißung von Glanz und Gloria – gegen Hoffen wider alle Hoffnung. Ecclesia triumphans – gegen Ecclesia patiens.

Ja, ich glaube, Herr! – Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben.

Ordinärer Täter – gegen geheimnisvollen Sänger.

Prosaische Gewalt – gegen schweifende Poesie des Herzens, der Erbin des erbaulichen Chorals.

Nemo contra deum nisi deus ipse. Niemand darf gegen Gott antreten – außer Gott selbst. Gott ist gespalten und wütet gegen sich selbst – oder amerikanischer Gott gegen amerikanischen Teufel.

Die zwei Pole der amerikanischen Frömmigkeit sind nicht die Pole Amerikas. Da fehlt doch noch was!?

a) Trump. Marc Pitzke findet treffliche Worte:

«Befreit, wie er prahlt, von der Partei. Befreit von politischer Korrektheit und falschem Mitgefühl, von Rücksicht und Realität. Endlich kann er tun und lassen, was

er will. „Dies ist unser Moment der Abrechnung“, brüllt Trump mit hochrotem Kopf, „als Gesellschaft und als Zivilisation!“ Die Menge brüllt zurück: „U-S-A! U-S-A! U-S-A!“ „Dies ist ein Kampf ums Überleben unserer Nation“, ruft er. „Und dies wird unsere allerletzte Chance sein, sie zu retten.“ Damit ruft er seine Anhänger zum Krieg auf. Gegen den gesamten Rest Amerikas, ja, der Welt. Und wer kann diese – weitgehend weiße, von Männern beherrschte – Zivilisation retten? Trump, der Märtyrer: „Ich ertrage all diese Pfeile und Schleudern gerne für euch„, deklamiert er mit einem Zitat aus Hamlets „Sein oder nicht sein“-Monolog. „Ich ertrage sie für unsere Bewegung, damit wir unser Land zurückhaben können.“ Nie hat Trump seinen messianischen Anspruch schamloser formuliert als in dieser Rede. Schon faseln seine Anhänger von „Revolution“ und „Aufstand in den Straßen. „Sie dürsten nach Blut.“» (SPIEGEL.de)

Pro nobis: Er nahm auf sich all unsere Schuld. All unsere Krankheiten hat er getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Die Strafe lag auf ihm zu unserem Heil, durch seine Wunden sind wir genesen. Das Kreuz, das er stellvertretend für alle Amerikaner auf sich nehmen muss, sind die Verleumdungen und Lästerungen derer, die Gottes eigenes Land verraten. Die Giftpfeile der Gottlosen, Sozialisten, Internationalisten lenkt er auf sich, damit die Frommen im Lande entlastet wären. Nur er kann die Wahrheit sagen, dass die ganze Welt gegen Amerika ist und also böse sein muss. Er hingegen spielt nur den Bösen, in Wirklichkeit ist er der Reine, dem alles rein ist – und wenn es noch so sehr wie Bosheit aussähe. Der wiederkehrende Messias ist kein politisch korrekter Antichrist, der mit moralisierenden Giftreden die Frommen in die Irre führt. Er ist der Engel mit dem Flammenschwert:

„Aus seinem Munde ging ein zweischneidiges scharfes Schwert und sein Angesicht war, wie die Sonne leuchtet in ihrer Kraft. Fürchte dich nicht: Ich bin der Erste und der Letzte.“

Dieser Wüterich ist der Letzte und damit der Erste. Nicht Hillary wird die Frau der amerikanischen Zukunft sein, sondern Michelle Obama. Sie formulierte einen Satz, den Dirk Kurbjuweit für einen der wichtigsten Sätze der Gegenwart hält:

«When they go low, we go high.» Das ist ein wunderbarer Satz, einer der wichtigsten unserer Zeit. Wenn die anderen auf ein niedriges Niveau fallen, steigen wir auf ein hohes. Das sagen die Obamas ihren Töchtern, wenn die rassistische Anfeindungen hören. Mit jedem Recht. Es kommt darauf an, das eigene Niveau nicht abzusenken, auch nicht angesichts schwerer Provokationen. Der Nachbar dieses Satzes ist die Arroganz, aber wenn sie ausbleibt, drückt er eine der zivilisatorischen Grundregeln dieser Epoche aus. Michelle Obama ist daher meine Gewinnerin des Tages, der Woche, des Monats und des Jahres.“ (SPIEGEL.de)

Der Satz ist zweideutig, Kurbjuweit sieht nur seine rationale Seite: je tiefer der Gegner sinkt, je tapferer sollen die Guten das demokratische Niveau aufrecht erhalten. Hinter der rationalen Deutung verbirgt sich das jesuanische Prinzip: die Letzten werden die Ersten sein. Eine Kampferklärung gegen die jetzigen Ersten, die zu Letzten werden, wenn der Tag der Befreiung kommen wird. Die Hierarchie auf Erden wird im Himmel auf den Kopf gestellt. Die Gedemütigten werden erhoben, die Stolzen gedemütigt.

„Gott ist in den Schwachen mächtig. Wer aber unter euch größer sein will als die andern, der sei euer Diener; wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden. Die Weisheit der Welt ist vor Gott eine Torheit. Ich danke dir Vater, dass du dies vor Waisen und Unmündigen geoffenbart und vor Weisen und Verständigen verborgen hast.“

Die weißen alten Biblizisten spüren die Kampfansage der schwarzen Frau, die ihren kommenden Sieg als Demütigung der weißen Herrenrasse andeutet. Wer Ohren hat, zu hören, der höre. Umso enger schließen sie die Reihen um den weißen Erlöser. Das Regime des ersten Schwarzen war für sie eine nationale Schande, die der weiße Milliardär ausradieren muss.

Der Konflikt zwischen wahren und falschen Gläubigen beschleunigt sich. Die Beschleunigung der Moderne ist das Zeichen, dass die letzten Tage vor der Tür stehen. Das steigende Fieber zwischen den Gegnern der gespaltenen Nation ist in Wirklichkeit das Schlachtengetümmel zwischen den Frommen, die die Stimme ihres Herrn kennen und jenen Scheingläubigen, die dem Antichrist – der täuschend ähnlichen Kopie des Erlösers – verfallen:

„Und als er auf dem Ölberge saß, traten zu ihm seine Jünger besonders und sprachen: Sage uns, wann wird das alles geschehen? Und welches wird das Zeichen sein deiner Zukunft und des Endes der Welt? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Sehet zu, daß euch nicht jemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen, und sagen: „Ich bin Christus“ und werden viele verführen. Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen; sehet zu und erschreckt euch nicht. Das muß zum ersten alles geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. Denn es wird sich empören ein Volk wider das andere und ein Königreich gegen das andere, und werden sein Pestilenz und teure Zeit und Erdbeben hin und wieder. Da wird sich allererst die Not anheben. Alsdann werden sie euch überantworten in Trübsal und werden euch töten. Und ihr müßt gehaßt werden um meines Namens willen von allen Völkern. Dann werden sich viele ärgern und werden untereinander verraten und werden sich untereinander hassen. Und es werden sich viel falsche Propheten erheben und werden viele verführen. Und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhandnehmen, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig.“

Obama war ein Antichrist, der unter der Maske des Welterlösers sein Land in den Abgrund stürzte. Trump muss das verhängnisvolle Erbe dieses falschen Christus – der anfänglich Frieden mit aller Welt vortäuschte – ausräuchern. Die Wahrheit ist: Kriege werden kommen. Amerika muss sich gegen die ganze verrottete Welt zur Wehr setzen. Das Leiden der Menschen wird zunehmen. Der Fortschritt lässt die Geburtswehen des kommenden Reiches Gottes ins Unerträgliche anschwellen. Doch Gott wird den Seinen in allen apokalyptischen Verheerungen beistehen.

„Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden. Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Fleisch gerettet werden; aber um der Auserwählten willen werden jene Tage verkürzt. So alsdann jemand zu euch wird sagen: Siehe, hier ist Christus! oder: da! so sollt ihr’s nicht glauben. Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, daß verführt werden in dem Irrtum (wo es möglich wäre) auch die Auserwählten. Siehe, ich habe es euch zuvor gesagt. Darum, wenn sie zu euch sagen werden: Siehe, er ist in der Wüste! so gehet nicht hinaus, – siehe, er ist in der Kammer! so glaubt nicht. Denn gleichwie ein Blitz ausgeht vom Aufgang und scheint bis zum Niedergang, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes. Wo aber ein Aas ist, da sammeln sich die Adler.“

Die Clintons und Obamas sind Antichristen, denen man nicht über den Weg trauen darf. Sie sind das Aas der Endzeit, um das sich die Aasgeier (= Adler) sammeln. Es ist schwierig, zwischen satanischen Christusdarstellern und dem wahren Christus zu unterscheiden. Die Dämonen wissen, was die Gläubigen erhoffen. Also werden sie tun, als könnten sie das Heilswerk voranbringen und vollenden. Sie sind teuflisch listige Populisten, die den Menschen ins Herz schauen und ihnen verheißen, was sie hören wollen.

Dass der Begriff Populist zum inflationären Diabolo der Zeitgeistes werden konnte, hängt mit der steigenden Endzeiterregung zusammen, die den Westen anheizt. Für Amerikaner ist die Endzeit kein Geheimnis, wohl aber für aufgeklärte Europäer, die sich über finale Kinderschreckmärchen erhaben fühlen.

An ihren Taten kann man Christ und Antichrist nicht unterscheiden. Die antiken Heiden hatten wahre Tugendhelden. Doch ihre Tugenden waren nur goldene Laster. Ihnen fehlte die rechte Gesinnung. Ihre moralischen Werke waren nichts als goldene Laster. Christ und Antichrist kann man nur unterscheiden, wenn man ihnen ins Herz schaut. Das aber kann niemand – mit Ausnahme der Frommen, die die Unterscheidung der Geister als Gabe Gottes erhielten.

Die Schlammschlacht um Trump ist mit säkularen Mitteln nicht zu verstehen. Die „Wut“, aus der die Politik kommt, ist mehr als die übliche Erregung in politischen Konflikten. Sie ist heiliger Zorn, dessen Siedekurve nach oben steigt, je apokalyptischer die Zeiten werden.

In Europa wird die Endzeitdiagnose der Amerikaner negiert. Die aufgeklärten Deutschen fühlen sich ihren Siegern überlegen – dürfen aber ihre Arroganz nicht zeigen, weil sie fürchten, die Amerikaner könnten sich aus gekränkter Eitelkeit zurückziehen und die aufgeblasenen Europäer ihrem Schicksal überlassen. Hat doch der partielle Rückzug Obamas aus dem Nahost-Konflikt bereits zu dem unlösbar scheinenden Aleppo-Inferno geführt.

In seinem äußerst verdienstvollen Buch „Politik der Apokalypse, Wie Religion die Welt in die Krise stürzt“ hat John Gray die apokalyptischen Brandverstärker der gegenwärtigen desolaten Weltpolitik beschrieben:
„Die Politik der Moderne ist ein Kapitel der Religionsgeschichte. Die großen revolutionären Umbrüche, welche die vergangenen zwei Jahrhunderte entscheidend prägten, waren Episoden der Glaubensgeschichte – Wegmarken, die den nicht enden wollenden Zerfall des Christentums und den Aufstieg politischer Religionen anzeigen. Unsere Welt am Beginn des neuen Jahrtausends ist übersät mit den Trümmern visionärer Projekte, die zwar säkular auftraten und sich religiösen Vorstellungen widersetzten, in Wirklichkeit aber von religiösen Mythen getragen waren. Der Glaube, die Menschheit stünde an der Schwelle einer neuen Ära, kommt wissenschaftlich daher, ist aber nur die neueste Spielart apokalyptischer Anschauungen. Der säkulare Terror der Moderne ist eine Abart der Gewalt, von der das Christentum in seiner gesamten Geschichte durchdrungen ist. Frühchristliche Apokalyptik, wissenschaftlich verbrämt, ließ eine neue, im Glauben gründende Form der Gewalt entstehen. Das politische Handeln von George W. Bush und seines iranischen Gegenspielers Mahmud Ahmadinedschad ist religiös-apokalyptisch geprägt. Das Wiedererstarken der Religion hängt, wo immer es stattfindet, mit politischen Konflikten zusammen, etwa mit den sich verschärfenden Auseinandersetzungen um schrumpfende natürliche Ressourcen. Es kann keinen Zweifel geben, dass die Religion als solche wiedererstarkt ist und eine eigene Macht darstellt. Mit dem Tod der Utopien hat das apokalyptische religiöse Denken neuen Auftrieb gewonnen und ist, unverhüllt und ohne säkulare Tarnung, zu einem bestimmenden Faktor der Weltpolitik geworden.“

Grays Analysen werden in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen. Hier herrschen christliche Werte, die sich in kollektiver Verblendung als humane ausgeben.

Leider verwechselt Gray philosophische Utopien mit apokalyptischen Endvisionen, sodass er das rationale Erbe antiker Utopisten zusammenrührt mit Armageddon-Phantastereien. Dennoch ist die Lektüre des Buches ein Gewinn und könnte den Deutschen einen Gutteil ihrer Angst- und Hassorgien erklären.

Die „german Angst“ ist der letzte Erinnerungsrest einer Nation, deren Reformator das „liebe Jüngste Gericht“ mit Inbrunst erwartete: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Das klingt nach Pfeifen im Walde. In Wirklichkeit hatte der tapfere Mönch furchtbare Angst vor dem Kommen des Herrn. Die seelischen Spannungen eines Christen, der seinen Herrn erwartet, gleichwohl die Schrecken der Apokalypse fürchtet, können nur als potenzierte Psychosen beschrieben werden.

„Luther hat furchtbare Angst vor dem jüngsten Gericht, vor dem strafenden Gott, der nach dem Tod über den Menschen Gericht hält. Luther ist verzweifelt und depressiv. Kein Mensch auf Erden, denkt er, sei er auch noch so bemüht und rechtschaffen, werde je vor Gott bestehen können. Denn jeder Mensch sündigt, jeder Mensch hat Phasen in seinem Leben, in denen er sich gegen Gott entscheidet. Das bedeutet also, wenn Gott gerecht wäre, müsste der Mensch nach seinem Leben und seinen Taten in jedem Fall gerichtet und bestraft werden.“

Der Widerstreit zwischen freudiger Sehnsucht und Angst vor den Dingen, die da kommen sollen, begleitet die Deutschen seit dem Mittelalter. Es gibt nur einen kleinen Unterschied: die Früheren wussten um den Grund ihrer Ängste.

Die kleine apokalyptische Differenz zwischen alter und neuer Welt wird die beiden Kontinente auseinanderdriften lassen. Schon längst verstehen sich die beiden Kulturen nicht mehr und lügen sich in die Tasche, dass sie gleiche Glaubenswerte hätten.

b) Bob Dylan – wurde zum singenden Messias deutscher Intellektueller, als sie ihre Revolutionsträume der 68er-Zeit begraben mussten. Ihre Entzugserscheinungen kompensierten sie mit der verheißungsvoll knarrenden Stimme des fruchtbaren Sängers und Songwriters aus Amerika.

Es wiederholte sich, was in der Romantik bereits geschehen war. Die anfängliche Begeisterung der deutschen Jugend an der Französischen Revolution schwand mit Ausbruch des Terrorregimes Robespierres, vollends nach dem Sieg Napoleons über alle maroden deutschen Fürstentümer. Fast die ganze aufmüpfige Jugend nahm Abschied von der Politik und floh in das Gebiet der Kunst, die nun für alles herhalten musste, was die geschmähte Politik nicht mehr leisten konnte. Kunst wurde zum apolitischen Trostmittel der romantischen Dichter und Denker.

Liest man die kritikfreien Lobreden deutscher Edelschreiber auf den diesjährigen Nobelpreisträger für Literatur, so kann man die kollektive Erbaulichkeit nur als Religion bezeichnen. Genauer: als Religionsersatz, der problemlos und elegant zum religiösen Original zurückkehrt. Auch hier war die Romantik vorausgegangen. Die anfänglich scharfe Religionskritik der alles über den Haufen werfende Feuerköpfe erstickte schnell in den Fängen der Religion, die alle Frustrationen der politischen Niederlage zu besänftigen und auszugleichen verstand.

Dylan hat sich sein ganzes Leben lang gegen das Image eines politischen Protestsängers zur Wehr gesetzt. Eine aufmüpfige Bewegung zu unterstützen war ihm zuwider. In seiner Kunst ging es – um seine eigene unvergleichliche Persönlichkeit, die in vielen Dingen an das absolute Ich Fichtes und Stirners denken lässt. Ideologische Erklärungen hätte er als lächerlich empfunden, erfand er sich doch regelmäßig neu: sei es mit französischer Lyrik, jüdischer Kabbalah oder christlichem Fundamentalismus. Der politische Furor der 68er-Studentenbewegung verendete in ästhetischer Selbstidolisierung.

In keiner Lobrede auf Dylan ist ein einziger Satz zu finden, mit dem der Künstler die Welt konkret verändern wollte. Seit der Romantik gilt es als Sakrileg, die Kunst zu konkreten Stellungnahmen zu wichtigen Weltproblemen zu bewegen. Ästhetik will ein frei schwebendes, völlig autarkes Reich oberhalb aller empirischen Erdenschwere sein.

Einerseits wird er als amerikanischer Prophet gerühmt, andererseits als einer, der seine Gläubigen und Fans in geziemender Distanz zu halten weiß:

„Man sah in ihm den Propheten eines anderen Amerikas. Einen Dichter in der Tradition der Beat Generation, der die Ängste und Sehnsüchte einer Generation zu formulieren verstand. Dylan wehrte sich von Anfang an gegen solche Zuschreibungen. Auch gegen die Zumutung, für andere sprechen zu sollen.“ (ZEIT.de)

Prophet Dylan versagt sich den Erwartungen seiner weltweiten Gemeinde. Je mehr er sich von seinem Publikum entfernt, je stärker wächst die Aura seiner Erwähltheit. Schellings Motto: odi profanum vulgus et arceo – ich hasse das gemeine Volk und halte es mir fern – könnte sein eigenes sein.

Die Zeiten, sie ändern sich? Die Melancholie vieler seiner Lieder wirkt wie paradoxe Intervention: nun erst recht will die Hoffnung auf das Kommende die Herzen der Zuhörer ergreifen. Zeiten ändern sich nur für Fromme, die an eine Heilsgeschichte glauben. Aus dem Blickwinkel der Vernunft ändern sich die Zeiten nur, wenn der Mensch die Zeiten verändert. Eine allmächtige Geschichte gibt es nur für Anbeter eines Gottes, der Herr der Geschichte sein will.

„Die Linie ist gezogen, der Fluch ist gesprochen.
Der jetzt Langsame wird später schnell sein,
wie die Gegenwart später Vergangenheit sein wird.
Die [bisherige] Ordnung löst sich rasch auf.
Und der Erste jetzt wird später der Letzte sein,
denn die Zeiten ändern sich
.“

Das klingt hoffnungslos – und enthält dennoch Reste des christlich-jüdischen Glauben an eine zukünftige Umwertung aller Werte: die Letzten werden die Ersten sein. Das ist auch die Hoffnung von Michelle Obama. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Dem einen Weltschmerz, dem anderen eschatologische Rachebedürfnisse, die befriedigt werden wollen.

Dylan ähnelt einem Gott, der seine Schöpfung verdammt, um seine Überwelt zu preisen. All the truth in the world adds up to one big lie – alle Wahrheit dieser Welt summiert sich zu einer großen Lüge. Solche totalitären Verdammungen der Welt sind keine Ermunterungen zur Humanisierung der Welt.

Der Sänger geriert sich wie ein Offenbarer des göttlichen Willens, der sich seinen Jüngern gleichzeitig entzieht. „Für wen haltet ihr mich“, fragte Jesus seine Jünger. Für den Sohn des lebendigen Gottes, antwortet Petrus, worauf Jesus den Jüngern befiehlt, niemandem zu sagen, dass er der Christus sei.

Der Erlöser legt Wert auf seine apokryphen Seiten, auch seine Schafe müssen nicht alles über ihn wissen. Die Welt schon gar nicht: deshalb redete er in Gleichnissen, damit sie hören und nichts verstehen. Später erst sollten die Menschen begreifen, was er ihnen mitzuteilen hatte: „Was ich euch im Dunklen sage, das saget im Licht und was ihr ins Ohr hört, das prediget auf den Dächern.“ „Er aber gebot ihnen mit strengem Befehl, dies niemandem zu sagen.“

Propheten und Göttersöhne besitzen ein Doppelgesicht: sie offenbaren und verhüllen sich – um sich interessant zu machen. Das Doppelspiel aus Offenheit und geheimnisvollem Rückzug macht den Reiz des Außerordentlichen.

Die Flucht der 68er in eine ästhetische Ersatzwelt ist eine Hauptursache der politischen Lähmung der Intellektuellen, die seit Jahrzehnten alles über sich ergehen lassen, was Eliten ihnen als Geschichtsereignisse zuschicken: Neoliberalismus, Globalisierung als Machtinstrument, gottgleiche Visionen der Zukunftsfaschisten. Sie sind Propheten geworden, die die Menschheit auf das Kommende vorbereiten. Mit der stereotypen Erklärung, das Kommende sei unvermeidlich. Nur Dummköpfe und Fortschrittsgegner würden sich gegen etwas wehren, das sie nicht verhindern könnten.

Wenn schon der Zug der Geschichte unaufhaltsam sei, sollte man so schnell wie möglich aufspringen, damit man nicht überrollt werden kann. Nie mehr Mitläufer sein: das wollten die Deutschen als Lehre aus ihrer katastrophalen Geschichte ziehen. Inzwischen laufen sie überall mit: mit glänzenden Augen sekundärer Propheten der primären Propheten aus dem Land der Sieger und Befreier.

Dem kreativen Menschen seien keine Grenzen gesetzt. Nichts könne ihn daran hindern, seine Träume komplett zu realisieren. Verwirkliche deine Träume, lautet das Dogma des futuristischen Imperialismus. An den Grenzen des Himmels beginne es erst. Das entspricht der romantischen Devise des Novalis:

„Wer die Dinge zu Gedanken und die Gedanken zu Dingen machen kann, ist ein magischer Idealist.“

Trump und Dylan sind nur die beiden Pole des amerikanischen Glaubens. Aber da fehlt doch noch was!?

Es fehlt die Stimme der amerikanischen Demokratie, die die Attraktivität der Volksherrschaft in alle Welt trug. Nach sieben Dekaden vorbildlicher Nachkriegszeit brechen jetzt die Gegensätze zwischen religiöser Endzeitstimmung und rationaler Humanität auf.

Einen beispielhaften Gegenpol zu Trump & Dylan bildet die Stimme Dan Browns. Er beklagt das Abhandenkommen der Moral und plädiert zur Teilnahme an der Suche nach einer gemeinsamen Wahrheit:

„Früher war es relativ leicht, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden, aber heute ist ein Partikel Wahrheit ummantelt von 99 Teilchen, die mit anderen Informationen geladen sind. Es ist eine große Herausforderung, dennoch dieses Körnchen Wahrheit zu finden. Wichtig ist aber vor allem, dass wir uns alle daran beteiligen. Es ist dringend notwendig, dass Menschen, die sich Sorgen und Gedanken um die Zukunft machen, aufstehen und sagen, was sie denken. Sie dürfen sich nicht darauf verlassen, dass die richtigen Entscheidungen schon für sie getroffen werden.

SPIEGEL ONLINE: Wir alle sollen uns erheben, um Vernunft und Aufklärung zu verteidigen?

Brown: Absolut! Ich kann nur immer wieder Dante zitieren, dessen Ausspruch auch „Inferno“ vorangestellt ist: „Die heißesten Orte in der Hölle sind reserviert für jene, die in Zeiten moralischer Krisen nicht Partei ergreifen.“ Das gilt heute mehr denn je. Wir leben in einer Zeit moralischer Krise, die viele Länder und Gesellschaften aus unterschiedlichsten Gründen betrifft. Und die größte Sünde wäre es, sich angesichts dessen zurückzulehnen und zu sagen: Wird schon werden.“ (SPIEGEL.de)

Trump und Dylan sind zwei Seiten derselben Erlösermedaille. Wer Trump nur attackiert, um sich mit Dylans ästhetischer Religion zu betäuben, hat von Demokratie noch keine Ahnung. Dan Brown könnte ihm weiterhelfen.

 

Fortsetzung folgt.