Kategorien
Tagesmail

Weltdorf XV

Hello, Freunde des Weltdorfs XV,

deutsche Einheitsfeier unter Ausschluss des Volkes! Um den populus für sich einzunehmen, halten Politiker, die keine Populisten sein wollen, Ritualreden mit kostbaren Wörtern, die danach sofort verstaut werden müssen, damit sie nicht ausleiern. Grundwerte sind wie Tafelsilber, zweimal im Jahr werden sie blank gerieben, ansonsten verschimmeln sie in der Trophäenkiste professioneller Abendländer.

Der frühere Kampf gegen den Teufel wurde runderneuert zum Kampf gegen Populisten. Nicht die Inhaber der Macht haben die jetzigen Verhältnisse zu verantworten, sondern die Nobodys, die das Maul aufreißen. Es sind die Angreifer, die an allem schuld sein müssen, selbst wenn aus ihnen die blanke Vernunft spräche.

Was aber, wenn der Widerstand gegen die Unvernunft selbst zur Unvernunft geronnen wäre? Oh Herr, komm und schlage du darein. Wenn nicht, dann scher dich zum Teufel, denn DU bist doch das Urbild des Populisten. Versprichst alles, hältst nichts, pöbelst gegen die ganze Menschheit – und forderst noch blinden Glauben.

Ein Herr Kauder warnt vor weiterer Entchristlichung der heiligen Nation. Weshalb vor ihm hiermit gewarnt sein soll. Denn er will das grenzenlos wachsende Elend, damit der himmlische Oberpopulist komme, um Schluss für immer zu machen.

Die mediale Hatz gegen Populisten soll jede Macht außerhalb der etablierten niederknüppeln. Was die unflätigen Aggressoren sagen, ist belanglos, es genügt, dass sie vor den Toren stehen und zu stürmen drohen. Gibt es im Parteieninzest kaum eine nennenswerte Opposition, darf es außerhalb des Parlaments erst

recht keine geben.

Die Medien haben sich zu Helikoptermedien entwickelt. Wer die Angreifer angreift, verteidigt die gottgewollten Besitzer der Macht. Man hat sich so aneinander gewöhnt im jährlichen Ringelreihen der ungezwungenen Korruptions-Begegnungen. Die Wirtschaft brummt, der Laden läuft, so soll es bleiben, sollen doch die Völker hinten in der Türkei aufeinander einschlagen, wie sie lustig sind. Wenn nicht anders, öffnen wir einen Spalt breit unsere samaritanische Hintertür, das muss genügen fürs ganze Jahr.

Das Wort Globalisierung ist entweder ausgestorben oder meint den glühenden Fluss des Geldes und toter Dinge rund um den Globus. Das Weltdorf soll abgefackelt werden. Mag die Welt in Trümmern liegen, singen sie im höhern Chor, wenn nur Mein Erlöser kommt. In jedem Gottesdienst wird die Welt begraben, da wundern sie sich, dass diese vor die Hunde geht. Himmel und Erde werden vergehen: das verkünden sie im Jubelton und werden vor keinem UN-Tribunal des versuchten Gattungsmordes angeklagt.

Was sie nicht zustande bringen, gelingt ihren genialen Jüngern mit transzendenten Maschinen, die jetzt schon dabei sind, die überflüssige Menschheit auf den Müll zu kehren unter Absingen des Refrains: meine Schafe hören meine Stimme, die andern mögen zur Hölle gehen. Für die Vielzuvielen ist kein Platz auf der übervölkerten Erde.

Der Pöbel darf den folkloristischen Rahmen der Einheitsfeier bilden, ins Innere des Allerheiligsten darf kein Uneingeweihter dringen. Alle Nachrichten berichten im staatstragenden Ton, die obersten Gesundbeter der Nation werden höchst selbst nach Dresden kommen, wo viele Betonblöcke und Polizisten sie vor dem Pesthauch der räudigen Menge bewahren.

Die öffentlich-rechtlichen Kanäle denken nicht daran, den Tag der Einheit zum politischen Medientag zu erklären, überall ins Land zu fahren, um Menschen zu Wort kommen zu lassen, wie sie das politische Fest zu feiern gedenken. Ohnehin werden brisante Themen vor der Öffentlichkeit versteckt und in den Tiefen der Nacht begraben.

Und was gibt es in TV sonst noch zu sehen in entchristlichten Zeiten? „Die Pinguine aus Madagascar: vier Pinguine wollen zeigen, dass sie echte Agenten sind.“ Oder wie wär‘s mit „Noah“? „In Visionen über die Auslöschung der gesamten Menschheit erhält Noah den göttlichen Auftrag, eine Arche zu bauen, um die Unschuldigen – die Tiere – vor der Flut zu retten.“ Das wäre ja noch sinnvoll, die Tiere zu retten und ihre Peiniger in den Fluten zu versenken.

Können die Deutschen politische Feste feiern? Sie haben ja keine. Ihr Kalender ist voll von kirchlichen Feiertagen, deren Sinn kein Mensch versteht. Doch die Mumien müssen scheinlebendig erhalten werden. Genügt es doch, wenn Mütterchen pro nobis die traute Dorfkirche besucht und die Predigt in Demut über sich ergehen lässt. Hauptsache, die uralten Worte klingen irgendwie vertraut.

Und nächstes Jahr kommt noch ein Feiertag dazu: der Anschlag der 95 Thesen des gewaltigen Reformators an der Schlosskirche wird – jaja – als politischer Höhepunkt der Neugermanen mit Posaunen und Trompeten bejubelt.

Hat man keinen König, leiht man sich eine Nachbarskönigin, die im rechten Glauben die lutherische Rose in kostbares Altartuch sticken kann – damit die uralte Liaison aus Thron und Altar wieder Gestalt annehme. Den lutherischen Dänen sei gedankt, dass sie uns ihre unpolitische Königin ausliehen, damit die Sehnsucht der Deutschen nach den guten alten Zeiten wieder Ereignis werde. Lieber hätten die Deutschen die englische Queen gehabt – nachdem Prinzessin Diana, die Engelgleiche, nicht mehr zur Verfügung stand –, doch der Brexit und die neucalvinistische Religion der Insulaner haben die Lieblingsidee einer Pastorentochter aus Mecklenburg-Vorpommern vereitelt. Sei‘s drum, kann die dänische Königin doch viel besser sticken als die anglikanische.

Wissen die Deutschen überhaupt, was ein politisches Fest ist? Weder haben sie jemals ihre Pfaffen und Fürsten in die Flucht geschlagen, noch wissen sie, dass Demokratie Herrschaft des Volkes bedeutet. Wenn ihr heißes Herz schlägt, muss Demokratie schweigen. Und wo schlägt ihr Herz? In der Kunst.

Wahre Kunst ist unmittelbar zu Gott und allergisch gegen Demokratie. Da sie unfähig waren zur mündigen Politik, stürzten sie sich auf die Kunst, die sie zur wahren und einzigen Politik ernannten.

Peymann: Ich staune, dass jede Generation wieder den gleichen Unsinn verzapft. Wir haben die Mitbestimmung im Theater vor mehr als 40 Jahren ausprobiert in der Berliner Schaubühne und in Frankfurt. Damals hat sich gezeigt, dass Kunst immer im Widerspruch steht zur Demokratie. Kunst ist immer eine Einzelentscheidung. Wenn Mitbestimmung bedeutet, dass das Ensemble beschließt, wer den Hamlet spielt, dann geht das total schief. Das Ensemble muss den Kompromiss suchen, der Einzelne kann radikal sein. Der Schauspieler wird von Peter Zadek oder Claus Peymann besetzt und muss sich durchsetzen. So ist das. Ich verstehe mich nicht als Feudalherr. Ich bin ein aufgeklärter Monarch.“ (SPIEGEL.de)

Was ist schlimmer als die CO2-Emission? Der Kompromissabrieb, der die frische Luft über dem Lande in wabernde Dünste blanken Unfugs einrußt. Die Deutschen wollen ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben und wissen nicht einmal, dass sie eine hatten – die ihnen noch immer die Gegenwart verpestet. Der aufgeklärte Friedrich blieb Absolutist und das ist noch immer die deutsche Leitidee eines Regisseurs, der seine ästhetischen Schmankerl als Offenbarungen betrachtet. Nein, das Wort benutzt er nicht, er spricht von Originalgenie. Doch er meint just dasselbe.

Einfälle eines genialen Subjekts sind per se nicht radikal, und selbst wenn sie radikal wären, müssten sie nicht sinnvoll sein. Wer ein Stück aufführt, ist in derselben Lage wie jener, der die Heilige Schrift liest und deuten will: Wort für Wort hat er sich ans Original zu halten und seine persönlichen Einfälle zu verbannen. Glaubt er, es besser zu können als der Verfasser, kann er jederzeit ein eigenes Stück verfassen und auf die Menschheit loslassen.

Ein Restaurator kann einen Picasso nicht nach Lust und Laune in einen Dali verwandeln. Meisterfälscher Beltracchi darf das gefälschte Original, das er teuer verkaufen will, auch nicht mit eigenen Einfällen aufbessern. Sonst könnte er sich freiwillig ins Gefängnis begeben. Oder wie wär‘s, wenn Udo Lindenberg die Kleine Nachtmusik nuschelte mit der Erklärung, er hätte sie beim Joggern an der Alster selbst erfunden?

Nur hysterische Genies auf den Brettern der Nation wollen sich mit fremden Federn schmücken, als sei‘s ein Stück von ihnen. Es ist dieselbe Fälschungsart wie die geistbegabte Deutung der Schrift durch wild gewordene Theologen. Da trifft es sich, dass die Kunst der Originalgenies als Rivalin und Schülerin der heiligen Hermeneutik entstand.

Die Kunst des Regisseurs ist: ein Stück zum Sprechen zu bringen. Und nicht, das Stück in ein Feuerwerk abgestandener Radikalitäten – die vor allem aus abgesonderten Körpersäften bestehen – zu verfälschen.

Eine Gruppe kann radikaler sein als ein eingebildeter Wicht, der sich für einen Titanen hält. Es gäbe verschiedene Möglichkeiten, lauen Kompromissbildungen zu entgehen. Das Ensemble wählt ein Mitglied, das seine Einfälle unverfälscht ins Werk setzen kann. Die Mitglieder können sich abwechseln in der Funktion des Regisseurs. Oder eine Gruppe setzt sich auseinander, wie das Original am besten zu verstehen wäre und zeigt dem Publikum den Werdegang seiner Auseinandersetzung.

Kein Schriftsteller wird sich beim Schreiben ins Werk pfuschen lassen. Wer meint, es besser zu können, soll selbst ein Buch schreiben. Peymann steigert sich in die Grandiosität eines frühchristlichen Propheten, der keinen Zweifel an seiner himmlischen Botschaft duldet:

„Aber in der Kunst kann man halt keine Kompromisse machen. Die Entscheidungen, die ein Regisseur oder ein Intendant trifft, die begründen seine Macht, sein Geheimnis, sein Genie. Man kann das Theater trotzdem und gerade deshalb als Familie begreifen. Ich tue das. Aber auch in der Familie muss immer einer entscheiden. Man versucht hier grundsätzlich abzuleugnen, dass man im Theater Menschen braucht, die Verantwortung übernehmen.“

Das ist Führergehabe außer Rand und Band. In einer Familie muss nicht „einer entscheiden“. Verantwortung übernehmen ist keine Lizenz zur Unfehlbarkeit. Macht, Geheimnis, Genie sind Ladenhüter der romantischen Ästhetik der Gegenaufklärung, die gegen alles Demokratische des Westens allergisch war.

Wo eigentlich sind die politpädagogischen Wirkungen des staatlich subventionierten Theaters, wenn mehr als 30 Millionen Zuschauer jährlich die Musentempel besuchen? Sie gehen rein, sie gehen raus – und alles bleibt, wie es ist.

In Athen waren Theater-Aufführungen öffentliche Ereignisse, das Volk entschied über die Qualität der Tragödien- und Komödiendichter. Hierzulande sind Ereignisse der Kultur zu Ersatzritualen des Kirchgangs geworden. Die Bourgeoisie, die sich abheben will von Ungebildeten nach unten und oben, feiert ihre eigene Anwesenheit als Präsenz des Weltgeistes.

Würde eine neugierige Gruppe penibel ein Euripides-Stück lesen und mit ihren laienhaften Fähigkeiten deklamieren, hätten sie mehr davon, als in passivem Hochmut mehr auf die Finessen der Form zu achten als auf die Botschaften des Inhalts.

Liest man Kritiken des Feuilletons, wird man nur graziös-wolkige Bemerkungen über die Verpackung des Stückes und die genialen Einfälle eines Regisseurs finden. Die Frage: was will uns der Verfasser sagen, erstickt im Gelächter einer zynischen Ironie, die die Romantiker im Widerwillen gegen Schiller und seine kantische Moral entwickelten.

Nur keine Moral, das ist die Vor- und Hauptbotschaft aller Künste. Der ästhetische Führer, der sich alle kritische Einmischung in seine Unvergleichlichkeit verbietet, ist kein harmloser Windbeutel. Das Originalgenie der Romantik wurde zum Vorbild faschistischer Führergestalten. Wer auf den Brettern der Welt stumme Unterwerfung fordert, wird eines Tages die Bretter mit der Welt vertauschen. Ein gewisser Österreicher war ein glühender Theater- und Operngänger. Wagners Erlösungsphantasien durch Musik waren Vorbild seines eigenen politischen Gesamtkunstwerks. In seiner schonungslosen Analyse der Romantik als Urquelle des 100 Jahre später in Erscheinung tretenden Faschismus schreibt Isaiah Berlin:

„Alle Formen von Kompromisslosigkeit bis zum bitteren Ende hielt man plötzlich für wertvoller als friedliche Verhandlung und Innehalten: Extremismus und Konflikt wurden um ihrer selbst willen gerühmt. Das heroische Individuum wurde nicht mehr mit dem unpolitischen Künstler identifiziert, sondern mit Führergestalten, die andere Menschen unter ihren unbezwinglichen Willen beugten, mit Klassen, Rassen, Bewegungen oder Nationen, die ihre eigene Freiheit mit der Zerstörung all dessen gleichsetzten, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Idee, dass Freiheit und Macht identisch seien, dass Freisein bedeutet, frei zu schalten und zu walten mit dem, was sich widersetzt, ist eine Vorstellung, die die Romantiker ins Extrem trieben. Noch typischer ist die verrückte Unterwerfung unter die eigene geniale Innerlichkeit, die Inthronisation der eigenen Empfindungen, des eigenen Blutes, der eigenen Schädelform, der eigenen Herkunft gegen all das, was man mit anderen gemeinsam hat – Vernunft, universelle Werte, ein Bewusstsein, dass die Menschen eine Gemeinschaft bilden.“ („Das krumme Holz der Humanität“)

Die Ideologie Peymanns und seiner Kollegen ist identisch mit dem Solipsismus eines Max Stirner, einer Philosophie, in der es nur messianische Solisten gibt:

„Mir geht nichts über Mich“ oder „Ich bin nicht ein Ich neben anderen Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig“. Er wendet sich damit gegen eine Begründung der Ethik aus Allgemeinbegriffen wie dem der Menschheit.“

Was sind Solipsisten? Die der Meinung sind, „dass sie die Einzigen in der Welt sind.“ Alle anderen existieren nur in ihrer Vermutung. Außer ihnen gibt es keine ernst zunehmende Realität.

Die rasenden Ekstatiker der modernen Ästhetik scheinen nicht mehr zu wissen, dass ihre Ästhetik als Hass gegen die Aufklärung begann.

„Hundert Jahre später rebellierten die Deutschen gegen die französische Übermacht auf den Gebieten von Kultur, Kunst und Philosophie und rächten sich mit einem Angriff gegen die Aufklärung. Er nahm die Gestalt einer Verherrlichung des Individuellen, des Nationalen, des Geschichtlichen gegenüber dem Universalen und Zeitlosen an; man feierte das Genie, das Unerklärliche, den geistigen Sprung, der allen Regeln und Konventionen trotzt, man verehrte den individuellen Heros, den Riesen außerhalb und jenseits des Gesetzes, man attackierte die große, unpersönliche Ordnung mit ihren unumstößlichen Gesetzen. Inspiration anstelle erprobter Regeln und Traditionen; das Unerschöpfliche und Grenzenlose anstelle von Maß, Klarheit und logischer Struktur; die Innerlichkeit und ihr Ausdruck in der Musik; die Verehrung der Nacht und des Irrationalen – darin bestand der Beitrag des wilden deutschen Geistes. Jeder Visionär muss seine eigene Vision durchsetzen, jede Nation ihr Ziel, jede Zivilisation ihre Werte. So kommt es zum Krieg aller gegen alle und zum Ende der europäischen Einheit. Irrationale Kräfte werden nun über die rationalen gestellt. Von hier ist es nur ein kurzer Schritt bis zum extremen Nationalismus und zum Faschismus. Wenn man einmal die Annahme formuliert hat, dass das Leben einem Kunstwerk ähnlich gemacht werden soll, dass die für Farben, Töne oder Wörter geltenden Regeln auch für Menschen gelten, dass man menschliche Wesen als Menschenmaterial betrachten kann, als ein plastisches Medium, das der inspirierte Schöpfer nach Belieben kneten kann, dann bricht die Vorstellung zusammen, dass jedes Individuum eine selbständige Quelle von Idealen und Zielen – ein Selbstzweck – ist.“

An dieser Stelle nationaler Alleingänge in moralischen Grundfragen stehen wir in Europa. Wurden europäische Werte bislang stets als einmütige formuliert, zerfällt in rapider Schnelligkeit die Einheit in der Flüchtlingsfrage.

(Streng genommen war das wirtschaftliche Solidaritätsverbot bereits die Wurzel des jetzigen Konflikts. Gemeinsame Grundwerte können nicht der Devise folgen: was den einen nützt, muss den anderen schaden.)

Was den einen als verbindlich gilt, ist für andere zur Bedrohung geworden. Die Visegrád-Staaten verbitten sich die moralische Dominanz Deutschlands. Die Oststaaten wollen ihren eigenen Weg gehen und sich von Merkel nicht belehren lassen. Die deutsche Haltung ist besserwisserisch – ohne besserwisserisch erscheinen zu wollen. Die Orban‘sche Impertinenz wird gerügt, doch wenn Asselborn die – an europäischen Menschenrechten gemessenen – inhumanen Maßnahmen der ungarischen Regierung mit Rausschmiss bedroht, zieht man in Berlin angewidert die Augenbrauen hoch. Berlin will moralisch sein, aber ohne aufrechte Wehrhaftigkeit. Ist das Ganze auch ein Widerspruch in sich, so ist es doch deutsche Dialektik, der nichts unmöglich ist.

Kann man moralischer sein wollen, ohne moralisch überheblich daherzukommen? Wenn es eine gemeinsame Moral gibt, dann gibt es auch die Möglichkeit der konkurrierenden moralischen Überbietung. Wieder ein seltsames Rätsel: in allen Dingen der kapitalistischen Welt sollen Wettbewerb und Ranking herrschen, nur in moralischen Fragen darf niemand vorpreschen.

Umgekehrt müsste es sein: nur in der Suche nach Wahrheit und Humanität sollte es edlen Wettstreit geben. Wer sich hier beteiligt, kann niemals verlieren. Selbst wenn er übertroffen wird, kann er vom Besseren lernen und profitieren.

Das war der Kern der sokratischen Mäeutik. Wer sich in ein echtes Streitgespräch begibt, kann „unterliegen“ und müsste seinen Irrtum eingestehen. Für Roland Barthes der schrecklichste Gesichtsverlust, den ein moderner – ein postmoderner – Unvergleichlicher erleiden könnte. Für echte Wahrheitssucher aber ist Einsicht ins eigene Irrenkönnen die Voraussetzung des Hinzulernens und Fortschreitens in der Erkenntnis. Moralisch besser zu sein ist nur für Narren eine Berechtigung zur Angeberei.  

Eine Demokratie lebt vom unerbittlichen Überprüfen: seiner selbst – und der anderen. Zum Gehalt einer demokratischen Pädagogik gehört die Fähigkeit, die Konkurrenz um Wahrheit und Moral als lustvollen Wettlauf zu erleben. Dass man in wirtschaftlichen Dingen eine dicke Haut und harte Ellenbogen nötig hat, in Fragen des besten Verhaltens aber mimosenhafte Überempfindlichkeit, zeigt die Perversität der kapitalistischen Moderne.

Wenn aber moralische Grundwerte zerfallen, gibt es kein Besser und Schlechter mehr. Hier müsste zuallererst darum gerungen werden, was die beste Humanität überhaupt sei. Erst, wenn theoretische Einmütigkeit hergestellt ist, kann praktisches Anstacheln und Motivieren zu immer höheren Fähigkeiten einsetzen. Diese Grundfragen hätten gestern bei Anne Will debattiert werden müssen. Doch eher regnen Katzen vom Himmel als dass philosophische Grundfragen in einer deutschen Talkshow diskutiert werden würden.

Die Aufklärung war die Epoche der universellen Vernunft. Man muss weder Ästhet noch Genie sein, um mit Hilfe seiner Vernunft das Sinnvolle und Menschenfreundliche zu erforschen. Universelle Vernunft ist kategorisch, also allgemein verbindlich. Romantisch-ästhetische Unvergleichlichkeit ist immun gegen alles Debattieren und Streiten, das eine gemeinsame Logik und Sprache voraussetzt.

In der Vernunft sind wir alle gleichberechtigte Schwestern und Brüder, in der genialen Einmaligkeit sind wir Führer und Geführte, Auserwählte und Verworfene, Erlöser und Verdammte, privilegierte Rassen und zum Untergang bestimmte Völker und Nationen. Die romantische Ironie war die zynische Verfallsform der allgemeinen Vernunft für die nach chaotischer Willkür und Freiheit drängenden Stürmer und Romantiker.

Ethik? Klingt besser als das Ekelwort Moral. Noch besser klingt der Begriff Werte. Am besten klingt Anstand. Anstand ist angeborener Adel, der sich von selbst versteht. Moralphilosophie kommt gelehrt daher. Politik klingt nach Ende aller Moral. Wer moralisiert, kann kein Politiker sein. Als die Deutschen Machiavelli entdeckten, machten sie Schluss mit ihrer bisherigen „Kammerdienermoral“. Sie wollten europäische Politik betreiben, anderen Nationen gleichwertig werden, ja, sie überbieten und machtpolitische Weltgeltung erringen.

Auch der Maler Neo Rauch will Kunst von aller moral-politischen Verpflichtung freihalten:

„Haltung beziehen, Flagge zeigen und so weiter: Das sind Begriffe, die ich abscheulich finde. Das kann man in seinem persönlichen Bereich als Staatsbürger leisten oder im überpersönlichen Bereich, indem man auf die Straße geht oder sich an der Wahlurne entsprechend verhält, aber nicht im Atelier. Da hat das nichts verloren. Ich muss mir – eine politische Haltung – nicht verbieten, weil die Antireflexe gegenüber dem Politischen in der Kunst so tief eingeschliffen sind, dass ich mich verheben würde in dem Versuch, sie auszurotten. Also das ist einfach eine Form des künstlerischen Anstands, das Feld frei zu halten von allzu deutlichen Alltagsreflexen, von Nutzbarmachungen im Sinne einer politischen Anschauung.“ (SPIEGEL.de)

Diese antimoralische Haltung gilt in Deutschland nicht nur für Malerei und Theater, sondern für alle Kunst. Kunst ist das Geschäft einer kostbaren, einmaligen Monade, Moral das Geschwätz der Menge oder der Zeigefinger eingebildeter Besserwisser.

Der Hass gegen die Moralpredigten ihrer Popen, die sie mit den Vernunftlehren der Aufklärer verheerenderweise in eins setzten, war unermesslich. Seitdem verstehen sie unter Moral autoritäre oder totalitäre Zwangsbeglückung. Unter authentischer Moral verstehen sie das Ende aller bisherigen Moral. Alles ist erlaubt im Reich deutscher Künstler – der Vorbilder der NS-Schergen, die ihre Mordtaten als ästhetische Freiheit betrachteten. Der Künstler ist frei, alles zu tun und alles zu werden: Heiliger und Verbrecher, Wohltäter und Zerstörer, Menschenfreund und Menschenfeind.

Es widerstrebt ihnen, ihre kapriziöse Ästhetik mit trivialer Moral zu verunreinigen. Die Moral der Künstler aber besteht nicht im Einbläuen des Dekalogs, sondern in scharfsichtiger Wahrnehmung und in kritischer Widerspiegelung der Realität, die ihnen ihr sensibilisierter und menschenfreundlicher Blick gewährt.

Die universelle Devise einer humanen Kunst lautet: ich sehe, damit du erkennst. Ich gestalte, damit du wirken kannst. Ich inszeniere, damit du ins Denken kommst.

Das Schöne wäre realisierte Utopie, das Hässliche – das Schöne in defizitärer Anmahnung. Schönes und Hässliches, Beglückendes und Dissonantes, Anspornendes und Abstoßendes zusammen ergäben – das Wahre, das uns Menschen beglückt und zueinander führt.

 

Fortsetzung folgt.