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Weltdorf XLIII

Hello, Freunde des Weltdorfs XLIII,

wer ist schuld, wenn Deutschland pleite geht? Wenn Deutschland verarmt? Wenn Deutschlands Wohlstand schwindet? Die Kinder. Die faulen, dummen, ungebildeten Kinder und Jugendlichen, die schwach sind in Mathematik und Naturwissenschaft.

Dorothea Siems, Maggie Thatcher der WELT, eröffnet den finalen Krieg des Kapitalismus gegen die Kinder mit einer donnernden Kanonade gegen ihre Faulheit und Dummheit.

Der Frühkapitalismus besiegte die Männer. Der Neoliberalismus entriss die Frauen den Kindern und unterwarf sie der Maloche. Jetzt muss die letzte Bastion geschleift werden. Mann, Weib und Kind müssen vereint dem Moloch dienen.

Es gibt kein Entrinnen und kein Leben mehr. Kinder sollen nicht fröhlich aufwachsen, um sich selbst zu finden. Sie sollen zu Fußabdrücken der Erwachsenen werden. Es gibt nur noch die Macht des Mammons. Dem muss rund um die Uhr gedient werden. Kinder sind Nachwuchssoldaten des Kapital-Militarismus. Ihr Lebenszweck ist, jene Fähigkeiten zu erwerben, mit denen sie ihrer vaterländischen Wirtschaft zum Sieg über alle Konkurrenten verhelfen. Versagen sie in der Zucht des Herrschaftswissens, verweigern sie die Normerfüllungen à la Stachanoff, entlarven sie sich als mathematische Nieten und technische Ignoranten, sind sie Vaterlandsverräter.

„Ökonomen haben errechnet, dass die mittelmäßigen Leistungen der Schüler die deutsche Wirtschaft Billionen kosten. „Wir Deutschen leben in der globalisierten Welt davon, dass wir eine Wissensgesellschaft sind, und das Humankapital ist entscheidend für unseren künftigen wirtschaftlichen Erfolg“, sagt der Bildungsexperte des Ifo-Instituts Ludger Wößmann. Der Ökonom verweist auf den engen Zusammenhang zwischen dem langfristigen Wachstum eines Landes und den jeweiligen Pisa-Ergebnissen. Nach Wößmanns Berechnungen

brächte eine Verbesserung um 25 Pisa-Punkte über den gesamten Lebenszyklus der jetzt geborenen Kinder einen BIP-Zuwachs von 14 Billionen Euro. „Bildung ist ein extrem wichtiger Faktor für das Wirtschaftswachstum“, betont der Ifo-Ökonom.“ (WELT.de)

Die Zeugnisse der Zukunft werden mit volkswirtschaftlichen Gewinn- und Verlustzahlen komplettiert: Schüler X hat durch unterdurchschnittliche Leistungen in Mathematik – allein in diesem Halbjahr – unserem Volk einen Schaden von rund 2,5 Millionen Euro zugefügt. Schülerin Y hat unser Volk durch naturwissenschaftliche Ignoranz mit einer Gewinneinbuße von 1,2 Millionen Euro geschädigt. Eltern müssen mit staatlichen Sanktionen rechnen, wenn sie ihre Kinder so wenig im Griff haben, dass sie verantwortungslos in den Tag hineinleben.

Am Anfang schuf der Mann Hochkultur und Geldwirtschaft. Starke Männer erkämpften die Führung und unterwarfen die schwachen ihren wirtschaftlichen und politischen Imperativen. Noch waren die Frauen – obgleich rechtlich minderwertig – Hüterinnen ihrer Kinder in der Nestfamilie. Ihre erste Loslösung hatten sie bereits hinter sich: von ihren eigenen Ursprungsfamilien mussten sie sich vollständig lösen, um in einer fremdem Familie das rechtlose Eigentum des Mannes zu werden.

Der Mann hatte sich von der Frau zu lösen, die Frau von den Kindern, die Kinder von einer unbeschwerten Kindheit: das war das abendländische Narrativ der Loslösung aller von allen. Die Familie musste sich voneinander trennen, um dem Erlöser – und dem Geldmoloch zu gefallen:

„So jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“

Im Frühkapitalismus musste die ganze Familie unter schrecklichen Bedingungen ins Bergwerk, an die Textilmaschinen, um nicht auf der Stelle zu verhungern. Engels schildert die Folgen:

„Und doch ist dieser Zustand, der den Mann entmannt und dem Weibe seine Weiblichkeit nimmt, ohne imstande zu sein, dem Manne wirkliche Weiblichkeit und dem Weibe wirkliche Männlichkeit zu geben, dieser, beide Geschlechter und in ihnen die Menschheit aufs schändlichste entwürdigende Zustand die letzte Folge unserer hochgelobten Zivilisation, das letzte Resultat aller der Anstrengungen, die Hunderte von Generationen zur Verbesserung ihrer eignen Lage und der ihrer Nachkommen gemacht haben! Wir müssen entweder an der Menschheit und ihrem Wollen und Laufen geradezu verzweifeln, wenn wir alle unsre Mühe und Arbeit in den Resultaten selbst so zum Kinderspott gemacht sehen, oder wir müssen zugeben, daß die menschliche Gesellschaft ihr Glück bisher auf einem falschen Wege gesucht hat. Es versteht sich übrigens, daß die Fabrikdienstbarkeit wie jede andre, und noch mehr, dem Brotherrn das Jus primae noctis <Recht der ersten Nacht> erteilt. Der Fabrikant ist auch in dieser Beziehung Herr über den Leib und die Reize seiner Arbeiterinnen. Die Entlassung ist Strafe genug, um in neun Fällen aus zehnen, wo nicht in neunundneunzig aus hundert, alles Widerstreben bei Mädchen niederzuschlagen. Ist der Fabrikant gemein genug, so ist seine Fabrik zugleich sein Harem.“ (Die Lage der arbeitenden Klasse in England)

Der Sieg Trumps, der nur wirtschaftliche Tycoons in sein Kabinett holt, die Obamacare und Mindestlöhne ablehnen, beweist die Rückkehr frühkapitalistischer Verhältnisse auf höchstem Moneten-Niveau: Trump betrachtet die ganze Nation als seinen potentiellen Harem. Wer es so weit gebracht habe wie er, könne gefahrenlos jede Pussy begrapschen.

Der Unterschied zum bisherigen Kapitalismus ist die offizielle Überwältigung des Staates durch die Wirtschaft. Bislang versteckte sich der Machtwille der Unternehmer hinter liberalen Freiheitsideen: die Freiheit der Unternehmer bestehe in der Freiheit von …: von allen staatlichen Bevormundungen. Demokratie schön und gut, in Fragen der Prosperität aber zähle kein Volkeswille, sondern nur das freie Spielfeld wirtschaftlicher Macht.

Freiheiten, die keinen anderen Sinn hatten, als die Freiheit der Völker zugunsten der Freiheit der Eliten einzuschränken, erweitern sich seit Trump auf Freiheit zu …: zur unbegrenzten staatlichen Macht.

Trumpismus ist die logische Schlussfolgerung der bisherigen Entwicklung des Kapitalismus zur politisch-wirtschaftlichen Pantokratie. Mit Hilfe neuer Medien hat Trump bereits vor seiner offiziellen Thronbesteigung die Monarchie eingeführt. Der Alleinherrscher über Raum und Zeit wischt alle demokratischen Regeln vom Tisch, kommuniziert auf direktem und persönlichem Wege mit seinen Untertanen. Wer war noch mal Obama?

Die Machteliten des Landes, die Trump mehrheitlich bekämpft hatten, beginnen bereits umzuschwenken und stehen Spalier vor dem goldenen Thron. Die Medien immer vorne dabei.

Ein Magazin namens TIME kürte den Unbesiegbaren zum Mann des Jahres. Aus keinem anderen Grund als dem des puren und nackten Erfolges. Noch hat Donald Trump nichts gezeigt, noch hat er nichts geleistet – mit Ausnahme seines brachialen Wahlrodeos quer durch die Bevölkerung direkt ins Weiße Haus.

Erfolg zeichnet den Erwählten aus, Erfolg ist das göttliche Zeichen auf der Stirn, Erfolg gebührt keinem, der ihn nicht verdient hätte.

Wer ist TIME? Welche Lohnschreiber erkühnen sich, die Bedeutung und Wichtigkeit der Menschen auf der Rangskala einer Quasi-Offenbarung zu erstellen? Sensationsgeile deutsche Medienkollegen übernehmen das TIME-Ranking, als hätte der Heilige Geist gesprochen. Alle moralischen Kriterien sind ausgeklammert, es genügt der Machiavellismus amoralischer Bedenkenlosigkeit. Selbst Hitler wurde 1938 von der TIME zum Mann des Jahres gewählt – aus korrekt amoralischen Gründen:

„Wenn man bei „Time“ die Serie der „Männer des Jahres“ durchsieht, stellt man fest, dass fast überall Portraits der betreffenden Persönlichkeiten aufs Titelbild gesetzt wurden. Bei Hitler ist dies anders. Hier sieht man einen vergleichsweise winzigen Mann in SA-Uniform (möglicherweise soll es Hitler selbst sein), der auf einer riesigen Orgel spielt. Darüber dreht sich zu seiner Musik eine Art Riesenrad, an dem Leichen hängen. Hitler habe 1938 in München die Früchte seiner dreisten, trotzigen und rücksichtslosen Außenpolitik geerntet, heißt es da. Er habe Deutschland bis an die Zähne bewaffnet und vor den Augen der fassungslosen und ohnmächtig zuschauenden Welt Österreich gestohlen.“ (Holocaust-Referenz)

Welch schäbiger Trick, den Erfolg anzubeten, als wolle man die Amoral des Erfolgreichen anprangern. Wie lüstern kriecht aus allen Poren die versteckte Bewunderung für den deutschen Führer, der über Leichen ging, um sein Ziel zu erreichen. Pragmatismus betet Erfolg um des Erfolges willen an. Zu Recht wirft Bertrand Russell seinem amerikanischen Kollegen John Dewey kosmische Pietätlosigkeit vor. Eine mediale Kritik, die es wirklich ernst meinte, sähe anders aus als die moralisch maskierte, in Wahrheit bewundernde Erhebung aufs Treppchen.

Wann wird der Teufel – als Motivator und Trainingspartner des Erlösers – zum Mann der Geschichte erkoren? Ohne Sieg über Tod und Teufel kein Golgatha, ohne Golgatha keine Auferstehung zum Herrn des Universums. Ist der Antichrist dem Christ nicht zum Verwechseln ähnlich, dass selbst Gläubige die beiden kaum unterscheiden können? Wenn der Teufel so leicht mit dem Heiland verwechselt werden kann: wie sollte Hitler trennscharf von Luther unterschieden werden, der das Schänden und Totschlagen der Bauern und Juden als göttliches Werk empfahl? Der Führer war ein getreuer Schüler des deutschen Reformators. Welche unbewussten Herrschaftsphantasien müssen sich hinter den pompösen nationalen Lutherfeiern verstecken! Im Beherrschen Europas werden die Deutschen immer besser.

In Gottes eigenem Land kann Erfolg niemals trivial sein:

„Die von der evangelischen Religion geforderten Tugenden trugen ihre Früchte in einem Wohlstand, den man als einen Beweis für diese Tugenden hinnahm. Prosperität ist nicht nur ein Beweis der Tugend – sie ist Tugend. Es handelt sich nicht mehr darum, zum ersten nach dem Reich Gottes zu trachten und zu finden, dass einem der Wohlstand dabei zufällt. Wohlstand, materieller Erfolg, Glück in dieser Welt ist das Reich Gottes. Was früher Christen für die nächste Welt versprachen, ist für Amerikaner das Ziel der Religion. Die amerikanische Religion überließ sich einer optimistischen Anschauung über Gottes Absichten mit der Welt und einer Gleichsetzung diese Absichten mit denen der Menschen, besonders denen der Amerikaner. Die Religion verlor ihren übernatürlichen und außerweltlichen Charakter. Die Puritaner erwarteten vom Vorrang des Glaubens, dass er seine Früchte alsbald in Werke umsetzte, besonders in ökonomische Werke.“ (D.W. Brogan, Der amerikanische Charakter)

Brogan, der sein Buch in den 40er Jahren schrieb, zählte zu den Früchten des Glaubens noch die Enthaltung von ausschweifenden Lastern wie Trunk und sexuellen Sünden. Über solch asketische Direktiven würde Trump nur lachen. Er handelt nach dem frommen Grundsatz: den Reinen ist alles rein. Ein Nachkomme von Pfälzern kennt die Maxime seines deutschen Reformators: sündige tapfer – nur glaube.

Der calvinistische Glaube – eine totale Unterwerfung des Menschen unter einen unergründlich göttlichen Willen – verwandelte sich in Amerika (durch die „Covenanttheologie, eine Art Vertragstheologie) in den entgegengesetzten Grundsatz: „Gott hilft jenen, die sich selbst helfen“. (R. B. Perry, Amerikanische Ideale)

Persönlicher Erfolg – mit welchen Mitteln auch immer – wurde zum Signum der Erwählten. Es scheint, als ob auch die Amerikaner nicht mehr die Prinzipien ihrer Religion verstünden. (Kann es Zufall sein, dass die Bibel aus vielen amerikanischen Hotels verschwunden ist?) Warum erregen sie sich über die Amoral eines Siegers, der nichts anderes tut, als der amerikanischen Erfolgsreligion zu folgen?

„Und wir Amerikaner sind das einzig auserwählte Volk, das Israel der Gegenwart; wir tragen die Bundeslade mit den Freiheiten der Welt.“ (Herman Melville)

Selbst Aufklärer Thomas Paine hat die Spuren seines christlichen Glaubens politisch nicht tilgen können:

„Es steht in unserer Macht, die Welt von Neuem anzufangen. Eine Lage, der gegenwärtigen gleich, hat sich seit Noahs Zeiten bis auf jetzt nicht ereignet. Die Geburt einer neuen Welt steht vor unserer Tür.“

Jedes Neue, das die Dunkelheit des Alten nicht erhellt, wird zur zwanghaften Wiederholung des Alten. Das ist der Grundfehler der amerikanischen Unvergleichlichkeit, dass sie das Neue aus Nichts kreieren will – wie Gott einst seine Schöpfung. Amerika leidet unter denselben Gebrechen wie Alteuropa, nur in anderen Mischungsverhältnissen.

Kann es gut gehen, wenn zwei Nationen um den Titel der auserwählten Nation ringen? Nur eine Nation kann die wahre Lieblingsnation Gottes sein. Noch sind Israel und die USA Verbündete. Doch der Graben zwischen Obama und Netanjahu war schon ein befremdlich neues Phänomen. Je endzeitlicher sich die Amerikaner fühlen, desto stärker könnten antisemitische Elemente auftreten, die bisher durch eine neurotische Kohäsion zwischen dem ersten und dem zweiten Auserwähltenvolk verdrängt wurden. Seit Entdeckung ihres Neu-Kanaans empfinden sich die Amerikaner als Erwählte des 1000-jährigen Reiches. Das messianische Endreich war keine Erfindung der nationalsozialistischen Deutschen.

„Der frühere Wirtschaftsprofessor Noah Smith wies jüngst darauf hin, dass vor Präsidentschaftswahlen seit einiger Zeit stets vom „Endspiel“ die Rede ist: „Jeder Präsident wird so dargestellt, als werde er den Charakter des Landes definieren. Also wird jede Präsidentschaft wie der Beginn eines Tausendjährigen Reiches behandelt.“ Entsprechend werde die Rhetorik auf Seiten der Verlierer immer apokalyptischer (siehe die Tea Party als Reaktion auf Obama 2008) und der Wähler anfälliger dafür, solche Vorschläge zu unterstützen, die dauerhaften Machterhalt sichern selbst wenn diese auf Kosten von Demokratie und Gemeinwohl gingen.“ (Sueddeutsche.de)

Trump ist alles andere als ein amerikanisches Unikum. Er repräsentiert in aufreizender Lässigkeit den typisch amerikanischen Weg des Lebens: der Christ ist das Maß aller Dinge. Besonders der amerikanische. Was er tut, muss richtig sein, weil Er es tut.

Der religiöse und apokalyptische Tiefengehalt der amerikanischen Politik wird in Deutschland ausgeblendet. Deutsche sind stolz auf ihre christlich-abendländischen Werte. Um welche es sich dabei handelt, ignorieren sie in schein-aufgeklärtem Hochmut. 

Ein tiefenpsychologischer Grund für den Brexit könnte die Sehnsucht der Engländer gewesen sein, ihre Spezialbeziehungen zu ihrem amerikanischen Sprössling wieder zu intensivieren. Je mehr sich interne Probleme anhäuften, je mehr könnten sie sich unter das Dach ihrer gemeinsamen Religion zurückgesehnt haben. Blairs bedingungslose Gefolgschaft gegenüber Dabbeljus Kriegslüsternheit war der letzte Reflex eines gemeinsamen Glaubens.
„Das Denken über internationale Beziehungen ist bei Bush wie bei Blair von Vorstellungen bestimmt, die aus der Theologie abgeleitet sind. Wie Bush, so glaubte auch Blair, in der Geschichte einen sich entfaltenden Plan der Vorsehung zu erkennen. Der Plan der Vorsehung sei nur für diejenigen sichtbar, die an ihn glauben.“ (John Gray, Politik der Apokalypse)

Wie aber verträgt sich der Glaube an eine selig machende Wahrheit mit den skrupellosen Lügen, die zur Legitimation ihrer militärischen Abenteuer dienten? Lügen sind für Christen wie Blair und Bush nicht das geringste Problem, wenn sie denn dem heilsgeschichtlichen Fortschritt dienen. „Der springende Punkt ist, dass es für Blair keinen eingebürgerten Begriff von Wahrheit gibt. Wahr ist für ihn, was der guten Sache nützt. Dient eine Irreführung dem Fortschritt der Menschheit, ist sie aus Sicht der Gläubigen gerechtfertigt. Blairs Unwahrheiten sind für ihn keine Lügen, sondern prophetische Vorgriffe auf den künftigen Lauf der Geschichte.“ (Gray)

Postfaktisches Lügen und postmoderne Wahrheitsverleugnung sind Früchte des christlichen Glaubens an eine unerkennbare Wahrheit Gottes.

Dorothea Siems Kanonade gegen die Kinder ist eine apokryph-endzeitliche Zuspitzung. Je schlimmer die Tage werden, je mehr müssen die Deutschen sich für den finalen Endspurt rüsten. Sie wollen es nicht wahr haben, aber ihr Schwarzsehen ist ein sichtbares Symptom für ihr verleugnetes apokalyptisches Denken, das sich einst bei Oswalt Spengler zum Untergang des Abendlandes verdichtete.

Kaum gerät ihre geschenkte Demokratie in schwere Wasser, werfen sie sich zu Boden und jammern: es ist alles aus. Wer sich ihren Jeremiaden nicht anschließt, wird als Idealist stigmatisiert. Was sie partout nicht sehen wollen: hinter dem Untergang des Abendlandes beginnt die Sehnsucht nach einem messianischen Führer.

Warum ist die fromme Trösterin Merkel unersetzbar? Warum würde das Land in eine kollektive Depression fallen, wenn Muttern sich pensionieren ließe? Weil sie der jetzigen Idylle misstrauen und hinter der Luxusfassade den großen Kladderadatsch wittern.

Siems Forderungen nach exzellentem Nachwuchs ist eine indirekte Forderung, Kinder in schulische Verdingsklaven zu verwandeln. Verdingkinder in der Schweiz wurden – fast bis in die Gegenwart – wie Sklaven behandelt. Auf speziellen Märkten wurden sie – wie einst die Schwarzen von den Amerikanern – abgetastet und geprüft, wie man Vieh auf seine Gesundheit und Tauglichkeit überprüft.

„Sie wurden geschlagen, gedemütigt und missbraucht. Zehntausende von Schweizern mussten in ihrer Jugend wie Leibeigene auf Bauernhöfen schuften. Nach langem Schweigen verlangen die ehemaligen Verdingkinder nun Wiedergutmachung.“ (Netzwerk verdingt)

Wie viele Schweizer leben noch und klagen ihr unmenschliches Schicksal an:

„Du chasch nüüt, du bisch nüüt, us dir gits nüüt“, das war die ständige Demütigung und Erniedrigung durch die Bauern, die sich die Verdingkinder als kostenlose Arbeitskräfte in bedingungslosem Gehorsam gefügig machten.

Die deutschen Schulkinder, die sich stetig wachsenden Anforderungen einer inhumanen Wirtschaft unterwerfen sollen, könnten – sofern sie schwyzerisch könnten – einstimmen in die Klage eines Verdingkindes:

„Me het uns die ganzi Chindheit gschtohle

So öppis dörf sich nie wiederhole!

S schlimmscht isch gsi, dass me kei Liebi het bicho

Das goht eim s ganzi Läbe lang no!“   (Beobachter)

Siems betrachtet Kinder nur als Humankapital, das man nach allen Regeln der belohnenden und bestrafenden Konditionierung an die Weltspitze hetzen muss. Kein einziges Kind wurde befragt, wie es den Test empfand und beurteilte. Wie Kinder die Schule erleben, ist für Lehrer und Politiker von keinem Interesse. Als normal wird empfunden, wenn Kinder mit Jubel in die erste Klasse stürmen, spätestens nach einem Jahr aber nur noch widerwillig in die Stätte ihrer ständig drohenden Niederlagen gehen.

Dass ein Experte in Diensten der Industrie absurde Luftberechnungen anstellt, um den Kindern einen drohenden Billionenverlust unterzuschieben, ist skandalös. Ja, es ist ein Vergehen gegen alle UN-Forderungen zum Schutze kindlicher Würde.

Dabei müssten all jene Schulen und Lehrer angeklagt werden, die nicht fähig sind, die Kinder für „Bildung“ zu begeistern. Es geht aber nicht um Bildung, es geht um außengeleiteten Drill. Es geht nicht um Wissen, es geht um Macht, die aus dem Wissen kommt. Sind Kinder zu dumm? Schlimmer, sie sind zu unwillig, sich dem Dienst am Vaterland zu ergeben.

»Problematischer noch als fehlende Mathematik- oder Deutschkenntnisse sind mangelhafte soziale Kompetenzen«, sagt Heintz. »Viele Jugendliche haben nicht nur Probleme mit Pünktlichkeit und Umgangsformen, sondern ihnen fehlt es auch an Leistungsbereitschaft.« Auch hier bemühten sich die Betriebe, »aber es belastet die Unternehmen, die schließlich nicht dafür ausgelegt sind, Jugendliche sozial zu betreuen.«

Viele Lehrer weigern sich, die Kinder „zu erziehen“ – das sei Aufgabe der Eltern. Auch Betriebe weigern sich, die Jugendlichen als Menschen mit Würde zu betrachten. Sie sollen wie Roboter behandelt werden, als hätten sie weder Emotionen noch Bedürfnisse nach Akzeptanz. Das ist der verderbliche Höhepunkt deutscher Verdinglichung der Kinder und Jugendlichen.

Hinter den Drohgebärden gegen Kinder lauert der 4.0-Traum der Profitgeier, menschliche Mängelwesen durch Maschinen zu ersetzen. Sie wollen sich nicht länger mit unzulänglichem Humankapital herumärgern und träumen von perfekten Robotern. Dann könnten unvollkommene Menschen endlich aussortiert werden.

Deutsche Jugendliche – fordert Siems – sollten effizient sein wie dressierte Kinder in Erziehungsdiktaturen. Dass Demokratien Freiheitstugenden und keine tyrannischen Fachidiotien vermitteln sollten, dass Kinder das Recht auf ein unbeschwertes und angstfreies Leben haben, ist für die Autorin größenwahnsinnig. Kinder müssen geschunden werden wie Erwachsene. Ein kindgemäßes Leben ist in Deutschland nicht mehr vorgesehen.

Unternehmer haben Unis danach bewertet, in welchem Maß sie ihren Studenten folgende Soft Skills beibringen konnten: Anpassungsfähigkeit, Teamfähigkeit, Motivation, Flexibilität, Kommunikationsstärke, Druckresistenz. Solche Eigenschaften wurden von Aristoteles den Sklaven zugeschrieben.

In welchem Maß sind deutsche Lehrer qualifiziert, ihren SchülerInnen die Lust am Rechnen zu vermitteln? Eine Lehrerin erhebt schwere Vorwürfe gegen ihre Kollegen:

„Die meisten Lehrer bekommen es nicht hin, das Fach Mathe interessant und anschaulich zu gestalten. Kooperative Methoden und Handlungsorientierung sind für viele meiner Kollegen in den Naturwissenschaften ein Fremdwort. Einige davon sind eh quereingestiegen und rattern einfach nur ihre Fachkenntnisse runter, ohne diese für die Schüler verständlich und motivierend aufbereiten zu können.“ (BILD.de)

Kreaturen waren schuld, als Gott seine Schöpfung zertrümmern wollte. Die Schwächsten sind schuld, wenn ein Wirtschaftssystem in die Krise gerät. Soldaten sind schuld, wenn Kriege verloren gehen. Der Pöbel ist schuld, wenn Populisten Erfolg haben. Die Frauen sind schuld, wenn Männer immer weibischer werden. Studenten sind schuld, wenn Unis immer schlechter werden. Kinder sind schuld, wenn Staaten den Wettbewerb um die vordersten Plätze verlieren.

Führungsklassen und Machteliten sind immer unschuldig. Sie handeln nach bestem Wissen und Gewissen. Stimmt‘s, Angie?

Schulen sind Agenturen der Industrie geworden. Kinder sollen nicht autonom denken lernen, sie sollen stumpfsinnig arbeitende Wissensempfänger werden.

„Arbeiten heißt die Welt vernichten oder fluchen“, sagte Hegel. Was wäre, wenn der Nachwuchs sich dumm stellte, um weder zu fluchen noch die Welt zu vernichten? Das wäre eine verlockende Utopie.

 

Fortsetzung folgt.