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Weltdorf LXXXIII

Hello, Freunde des Weltdorfs LXXXIII,

wenn der Bundespräsident verabschiedet wird, kann der Zapfen von Thron und Altar nicht groß genug sein. Soldaten in lächerlichem Schreimodus – und keine Bürger. Kein republikanisches Fest der Citoyens. Kein fröhliches, spontanes Treiben. In dieser vorbildlichen Republik gibt es nur klerikal abgestandene Feste, deren Sinn niemand kennt, die keinen anderen Zweck haben, als den ökonomischen Untertanengeist zu zementieren.

Die Obrigkeit wurde modern und hat die Zeiten domestiziert. Die Vergangenheit ist tot, die Gegenwart wurde zur Magd einer despotischen Zukunft, die auf die Menschen zukommt, ob sie wollen oder nicht.

Liberal heißt frei, Liberalismus die Herrschaft der Unfreien, Neoliberalismus die Tyrannei weniger Ehrgeizlinge, die sich um ihr Ich kümmern, wenn sie die ganze Welt ihren gottgleichen Maschinen unterwerfen. Der fromme Zynismus einer deutschen Zukunftsöffnerin ist nicht mehr zu überbieten:

„Die Kanzlerin formulierte zur Cebit-Eröffnung zudem einen eindringlichen Appell, vom digitalen Wandel verunsicherte Menschen nicht zu missachten. Es gehe um „Millionen von Menschen, die zum Teil noch nicht wissen, was sie erwartet“, sagte Merkel. Sie in das neue Zeitalter der Digitalisierung mitzunehmen werde die Politik aber nicht allein schaffen, sagte sie an die Adresse der Industrie. Man müsse unter anderem das Bildungssystem anpassen und zum lebenslangen Lernen kommen.“ (WELT.de)

Lebenslanges Lernen ist lebenslanges Trimmen auf eine Zukunft mit unkalkulierbaren Risiken – die in ihrem Verhängnis längst kalkulierbar sind. Der Begriff

„Aus-Bildung“ verrät sich selbst: es ist aus mit der Bildung. Bildung wurde zur politischen Gesamtverdummung mit technischen Sättigungsbeilagen.

Die Indoktrinierung soll nicht äußerlich bleiben, sondern die gesamte Innerlichkeit der Menschen durchdringen. Einst nannte man dies Gehirnwäsche – wenn sie in real herrschenden Sozialismen stattfand. Welch feines Mitgefühl mit den Verunsicherten, die weder gefragt werden, noch ihre „irrationalen Ängste“ in demokratische Argumente verwandeln dürfen.

Es gibt zweierlei Arten von Populisten. Die guten sind bereits an der Macht, die bösen wollen an dieselbe. Die letzteren versprechen den Leuten das Blaue vom Himmel. Die ersteren kennen den Himmel in- und auswendig. Mit christlicher Almosen-Empathie treiben sie ihre Untertanen dahin, wohin diese nicht wollen. Seid fröhlich im Herrn, predigten einst Popen der Sklaventreiber den afrikanischen Leibeigenen, die unter katastrophalen Umständen ins herrliche Reich der Weißen verschifft wurden. Es ist zu eurem Besten, wenn ihr Gottes Lieblingen die Füße küsst.

Seit die Heilsgeschichte sich in Fortschritt verwandelte, gibt es im Westen eine führende Klasse, die sich anmaßt, der ganzen Menschheit den Heilsweg aufzuzwingen. Nennen wir sie Digital-Messianisten, die mit 0 und 1 jene göttliche Utopie herbeizaubern, die sie als irdische mit Hohn und Zorn an die Wand klatschen. Dann tun die Mächtigen, als wunderten sie sich über die Ängste ihrer Zukunftsvasallen. Wie kann man auf eine fremdgesteuerte, unbekannte Zukunft anders reagieren als mit Schrecken und Bangen?

Politische Feste in Deutschland werden von Rednern mit staatstragendem Bariton beherrscht. Das Volk wird außerhalb des Allerheiligsten mit Bratwürsten und Gerstensaft abgespeist. Es gibt Feste von einer derart seins-durchdringenden Trauer um einen nicht existenten Pantokrator, dass nicht einmal getanzt werden darf. Der Menschheit ist es verboten, unbeschwert und fröhlich zu sein.

Als ein despotischer Zar einen preußischen Absolutisten besuchte, wurde der Große Zapfenstreich aus der Taufe gehoben. Die cäsaropapistische Machtdemonstration spürt man noch heute, wenn die Macht der Liebe mit schrillen Querflöten und dumpfen Posaunen wie in einem Feldgottesdienst zelebriert wird. Die rechtwinkligen Musikanten haben sogar den Ehrgeiz, nicht-militärische Musik zu prussifizieren. Da muss Peter Maffay, der Freund Gaucks, innerlich gezittert haben, ob er sein soldatenfreies „Über sieben Brücken musst du gehen“ noch wiedererkennen würde.

Am liebsten hätten sie auch den Text geändert: über sieben afghanische Brücken musst du in Reih und Glied marschieren. Wenn du durchkommst, wirst du in Deutschland zum Helden – oder zum Psychowrack erklärt. Zwei Prozent der Soldaten müssen ihr Leben für den Westen lassen, vereinbarten die NATO-Verbündeten und die deutsche Kanzlerin gelobte feierlich die Erfüllung der Helden-Quote.

Es ging schon mal anders. „Der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann zog 1974 eine Bootsfahrt auf dem Rhein mit geladenen Gästen dem militärisch-religiösen Ritual vor.“ Das war die letzte zivile Bravouraktion der ESSPEDEE. Danach gings nur noch bergab. „Bundespräsident Johannes Rau war der erste aus der SPD hervorgegangene Bundespräsident, der sich am 29. Juni 2004 mit einem Großen Zapfenstreich verabschieden ließ. Als Bundeskanzler wurde zuletzt Gerhard Schröder am 20. November 2005 in seiner Heimatstadt Hannover mit einem Großen Zapfenstreich aus dem Amt verabschiedet.“

Schröder ließ sich die militaristische Version von Sinatras My Way vortilirieren:

„Denn: Was ist ein Mann, was hat er denn schon?
Wenn nicht sich selbst, so hat er nichts.“

Ein liberaler Mann geht seinen Weg, wenn er den Weg von Millionen anderer Menschen mit Tretminen pflastert. Ich, ich, ich muss stets herhalten, wenn Andere, Fremde und Unschuldige dran glauben müssen.

Der wie in Bronze gegossene Pfarrer Hauck wurde von Chorälen zu mannhaft unterdrückten Tränen animiert. Die Verteidigungsministerin, wie eine Figur von Arno Breker mit tadellos sitzender Heldenfrisur, stand wie eine Eins daneben.

Ich bete an die Macht der Liebe,
die sich in Jesus offenbart;
ich geb mich hin dem freien Triebe,
wodurch ich Wurm geliebet ward;
ich will, anstatt an mich zu denken,
ins Meer der Liebe mich versenken.

Hersteller meines schweren Falles,
für dich sei ewig Herz und alles.

Das ist die wahre Antwort auf das Ich-Getue Sinatras: ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken. Wer ist das Ich? Ein Wurm und schwer Gefallener – der nur durch Gnade die Heilsgeschichte gewinnen wird. Macht und Liebe werden identisch. „Liebe, dann tu, was du willst“, hat Augustin die preußische Choralhymne vorweggenommen.

Nein, das waren nicht die letzten Verse, die im Modus der Staatsraison frei in den Äther drangen:

Freiheit, die ich meine
die mein Herz erfüllt
komm mit deinem Scheine
süßes Engelsbild!

Für die Kirchenhallen
für der Väter Gruft
für die Liebsten fallen
wenn die Freiheit ruft

Das ist rechtes Glühen
frisch und rosenrot:
Heldenwangen blühen
schöner auf im Tod.

Wolltest du uns lenken
Gottes Lieb’ und Lust,
wolltest gern dich senken
in die deutsche Brust!

Der beste Deutsche ist der tote Held, der sich frohlockend in den Himmel schwingt.

Solches haben angelsächsische Krämerseelen nicht zu bieten. Um die mittelalterliche Theokratie Berlins zu vollenden, fehlt nur noch die eiserne Jungfrau, die sich nicht dem Drachen opfern lässt, sondern mit der Kraft der Unschuld das Untier aus dem Potomac zur Strecke bringt. Selbst der nüchterne Historiker Timothy Snyder hält die Deutschen für die letzten Hoffnungsträger des Westens. Die deutschen Medien – allesamt Königin-Luise-fixiert – konstatieren ohnehin, dass nur eine eiserne Jungfrau (rein psychisch gesehen) aus germanischen Landen dem Unhold die Luft abstellen wird.

Dabei sind sich die beiden Hübschen ähnlicher, als die deutsche Nationalpresse wahrhaben will. Beide sind Anbeter des Mammons, des unaufhaltsamen Fortschritts, des omnipotenten Erlösers und des Heils-Wettbewerbs aller gegen alle, mit einem Wort: des Christentums.

Bei Anne Will wurde vor dem allseits wuchernden Nationalismus gewarnt. Für den SPIEGEL die größte Gefahr der Gegenwart:

„Für den stärksten Moment sorgte ebenfalls Röttgen, als er gegen Ende der Sendung überaus ernst von der internationalen «großen Welle des Nationalismus» sprach, die inzwischen auch das Weiße Haus erreicht habe, und an die Entstehungsgeschichte der beiden Weltkriege erinnerte. So weit sei es zwar heute noch nicht, doch es stünden «die Grundlagen der demokratischen Zivilisation» auf dem Spiel. «Die Lage ist brandgefährlich».“ (SPIEGEL.de)

Doch was ist Nationalismus anderes als Wettbewerb der Nationen? Wer sind denn die Subjekte des Dauerkriegs jeder gegen jeden? Nicht mit Feuerwaffen, aber mit Waffen des Ausschließens, Erniedrigens und in die Bedeutungslosigkeit Hinabstoßens? Auch innerhalb der EU-Verbündeten bringt Deutschland es fertig, seine nationale Priorität ohne Rücksicht auf Verluste durchzupeitschen.

BILD ist eine ungenierte Germany-first-Propagandistin. „Unser Geld kriegen die europäischen Loser nicht.“ „Der Mond wird deutsch“. „Nur Merkel kann Trump Paroli bieten“.

Was ist deutsch an einem Projekt, an dem viele Staaten und internationale Wissenschaftler beteiligt waren? Nur ein regeneriertes Europa könnte Trump zur Raison bringen, keine deutsche Lady, die mit den Schultern in den Polstern versinkt, mit den Augen hilflos im Raume umherirrt und unterwürfig den Hausherrn um Shakehands bittet – anstatt ihm selbstbewusst die Hand entgegen zu strecken. Misstrauisch von der Seite beäugen: in dieser Disziplin ist Missis Coolness Weltmeisterin.

Trump wird zur Gefahr für das Leben der Gattung. „Halb Peru wird weggeschwemmt“, weil die Folgen der Klimaverschärfung immer heftiger zuschlagen. Was tut Trump? Er verhöhnt die Klimakatastrophe und streicht alle Gelder zur ökologischen Rettung.

Immer mehr Menschen fliehen vor drohenden Hungerkatastrophen. Was tut Trump? Er lässt eine Schreckensmauer in gigantischen Maßen errichten.

Während die Kluft zwischen Oben und Unten sich immer weiter öffnet: was tut Trump? Mit zunehmender Übernahme der Schulen durch reiche Tycoons stößt er die Kinder der Schwachen endgültig in den Abgrund.

Deutsche Elitisten fiebern schon, die zweite amerikanische Segregation auch in Europa einzuführen. Gute Schulen müssen Geld kosten. Wer keins hat, bleibt dumm. Wenn jetzt die Roboterisierung 4.0 bevorsteht, braucht man keine Überflüssigen mehr. Die Menschenverachtung der Selecti kennt keine Grenzen. Man notfüttere die Fußkrücken der Evolution mit einem Mindest-BGE und räume sie endgültig beiseite.

Die neue Bildungsministerin – welch Zufall: eine Milliardärin! – unterstützt „die „School Choice“-Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass Schüler selbst entscheiden können, wo und wie sie unterrichtet werden – an einer öffentlichen oder einer privaten Schule, in der Nachbarschaft oder weit weg. Die Bewegung unterstützt zudem sogenannte Charter Schools: Sie sind öffentlich, werden aber in der Regel von Unternehmen oder Privatleuten betrieben. Aus Sicht von Lehrer Gardener geht es Betreibern von Charter Schools häufig nur um dieses Geld: „Sie gucken die Kinder an und sehen Dollarzeichen“. Die Schule wird zum Unternehmen – alles, was nicht für die Schüler ausgegeben wird, steckt sich der Betreiber als Gewinn in die Tasche. Um die Ausgaben zu senken, stellen diese Schulen zum Beispiel billige Lehrkräfte ohne Zertifikat ein, erklärt Terrence Martin von der Detroit Federation of Teachers, einer Gewerkschaft für Lehrer. Am Ende dieser Entwicklung könnte die Bildung in den USA weitestgehend in der Hand von Unternehmen liegen.“ (SPIEGEL.de)

Was tut die deutsche Kanzlerin, um die alles überrollende Trump-Lokomotive zu stoppen? Würde Trump Putin heißen, wäre er schon längst international geächtet und mit Sanktionen überzogen worden. Wissen wir, was Merkel ihrem Gastgeber wirklich sagte? Außer Floskeln, Andeutungen und einstudierten Grimassen ist nichts gewesen.

Der Unterschied zwischen beiden besteht ausschließlich in der antagonistischen Körpersprache. Während Trump lutherisch grobianistisch auftritt, benutzt die lutherische Pastorentochter die pfäffische Sprache der christlichen Umwertung aller Werte. Und ihre deutschen Presse-Kohorten bejubeln die Überlegenheit ihres „sachkundigen, nüchternen“ Kasperle-Theaters. Sich dumm stellen wurde zum Bildungsideal einer einstigen Denker-und-Dichter-Nation.

Ulf Poschardt hielt es nicht länger in seinem Porsche. In der WELT musste er den Selbstzufriedenen – die man früher hedonistisch nannte – den Spiegel der fortschrittlichen Tüchtigkeit vorhalten:

„Dem Land geht es gut. Aber wer sich nicht anstrengt, verliert. Das Jahr 2017 steht im Zeichen eines Lagerwahlkampfes der anderen Art: die Ehrgeizigen gegen die von sich selbst Gelangweilten.“ (WELT.de)

Geizige haben keinen guten Leumund, Ehrgeizige sind die Retter der Welt. Ab welchem Einkommen beginnt das Glück? Falsche Frage, moniert Poschardt. Wohlstand ist keine Lizenz für Wohlbehagen. „Ein umfassender Wohlfühlpragmatismus hat jedwede Ambitionsregung vertrieben.“

Ambition wozu, wenn es – wie Umfragen angeblich beweisen – den meisten doch gut geht? Wenn es um die Verdienste des Neoliberalismus geht, kann es den Deutschen gar nicht gut genug gehen. Gleichzeitig müssen Hayeks Propheten darauf achten, dass es den Deutschen nicht zu gut geht. Sonst legen sie sich in die Hängematte: sie vernachlässigen den Wettbewerb aller Völker. Langeweile, so die Kategorie des Bösen bei Poschardt, erfanden im vorrevolutionären Frankreich die übersättigten Adligen.

In der Urpolis langweilte sich niemand. Wer nicht arbeitete, streunte auf der Agora und belästigte seine Mitbürger mit der Frage, ob sie gute Demokraten seien. Allein ihre politischen Pflichten ließen nicht die geringste Langeweile aufkommen. Wer seinen Unterhalt nicht durch entfremdete Arbeit verdienen musste, hatte Muße. Hieß etwa Aristoteles und wurde zu einem der bedeutendsten Gelehrten der Welt. Wer ein denkendes und politisch verantwortliches Leben führt, hat gar keine Zeit, um sich zu langweilen.

„Das Bürgertum muss sich weiterhin als revolutionäre Kraft verstehen. Es gibt kein Establishment. Freiheit und Wohlstand müssen jeden Tag erkämpft werden. Eine politische Programmatik ohne diesen Eros des Kampfes kippt ins Dekadente.“

Eros des Kampfes klingt wie Eros und Thanatos oder Lust an der Selbstzerstörung. Kampf gegen wen? Kampf gegen Menschen ist das Ende der Solidarität. Poschardt sollte bei Merkel das Ende des Wertekanons reklamieren.

Freiheit muss politisch erkämpft werden – gegen jene Kräfte, die durch ökonomischen Machtzuwachs die Rechte des Pöbels auslöschen wollen. Wo bleiben die demokratischen Ambitionen des Chefredakteurs? Politische Fähigkeiten äußern sich in Nachdenken und Debattieren. Das nannten die Griechen Muße. Eine Tugend, die vom christlichen Abendland zum Müßiggang verteufelt wurde.

Heute gibt es keine Zeit mehr, denn Zeit ist Geld und Geld darf nicht vertändelt werden. Einst revoltierte das Bürgertum gegen den gelangweilten Adel. Seitdem es selbst die Macht errungen hat, muss es ständig gegen seinen eigenen Schlendrian revoltieren. Mönchische Askese war die Geißelung der eigenen sündigen Triebe. Bei Poschardt wird Askese zur Geißelung des Wohlbehagens.

„Waren diese Beschleunigungen der Geschichte durch Ungehorsam früher gegen die Zentren von Macht und Unterdrückung gerichtet, hat mit der Selbstermächtigung der Bürger diese Rebellion einen im Zweifel gegen die eigene Bequemlichkeit gerichteten Charakter angenommen.“

Was ist Ehrgeiz? „Ehrgeiz ist die tägliche Rebellion gegen die Zufriedenheit mit sich selbst. In einem bürgerlichen Universum umgreifender Selbstverantwortung ist der Fortschritt je nach Wirkungsmacht des Einzelnen eben auch ein Produkt eigener Möglichkeiten. In sozialistischen Konzepten treibt das Kollektiv, im Bürgerlichen der Einzelne. Nicht zwingend einsam, aber auch im Zweifel ganz alleine. Marktwirtschaft und offene Gesellschaft sind die Bühnen und Kraftfelder, in denen das möglich ist.“

Das ist Paulus pur: „Schon seid ihr satt geworden“. Wer satt ist und keine Sorgen haben muss, jemals zu hungern, dem geht es gut auf Erden. Aus der Sicht welthassender Christen ist es die größte Sünde, mit sich in Frieden zu leben – ohne den großen Friedensstifter zu benötigen.

Sind es nicht die Ehrgeizlinge, die nichts mit sich anfangen können und die ganze Welt ihren wirren und naturschädlichen Fortschrittsideen unterwerfen müssen, um das flüchtige Gefühl zu haben, nicht nutzlos zu sein? Ihre Nützlichkeit besteht darin, anderen Menschen ihre Verdrossenheit und Unzufriedenheit aufzunötigen. Wenn Fremde unter ihrem Joch stöhnen und ächzen, haben sie das Gefühl ihrer Unentbehrlichkeit gefunden. Pascal kannte das Geheimnis der modernen Rastlosigkeit, keinen Tag ruhig in seinem Zimmer zu verbringen:

„Die Menschen haben einen geheimen Trieb, der sie dazu bringt das Vergnügen und die Beschäftigung außen zu suchen, der aus dem Gefühl ihres beständigen Elends hervorgeht. Ihr Lebensplan veranlaßt sie durch unruhige Geschäftigkeit nach der Ruhe zu streben und sich immer ein zu bilden: die Befriedigung, die sie nicht haben, werde kommen, wenn sie einige Schwierigkeiten, die sie vor Augen sehen, übersteigen und sich dadurch die Pforte zur Ruhe eröffnen können. So verfließt das ganze Leben. Man sucht die Ruhe, indem man einige Hindernisse bekämpft und wenn man sie überstiegen hat, wird die Ruhe unerträglich.“ (Pascal)

Poschardt rechtfertigt den Terror der Zukunft, den zu besiegen nur jene in der Lage sind, die das Unausweichliche zum Gebot ihrer Freiheit machen. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, sagte der schwäbische Philosoph, der den Prozess des Weltgeistes kaum anders definierte als ein Neoliberaler den Automatismus der Evolution.

„Kaum ein Beruf bleibt von den Fallwinden der Modernisierung verschont. Der Drift in die Zukunft ist durch die Digitalisierung bis in das Handwerk hinein wuchtig geworden. Fast nichts bleibt, wie es ist, und nur die im Wandel Souveränen sind in der Lage, diese Zukunft gestaltend fortzuschreiben. Das ist gewissermaßen der direkteste Gegensatz zum entspannten Wohlfühlen der Gegenwart.“

Drift in die Zukunft – so kann man den futuristischen Totalitarismus auch umschreiben. Entspanntes Wohlfühlen nennt man in ordinären Klassen Glück. Glück auf Erden ist nicht vorgesehen, dekretiert der Kommentator. „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks“, so Hegel. Das ist exakt das Programm jener Erdenhasser, die dem Menschen nur irdisches Leiden auferlegen – damit sie im Jenseits selig werden.

Am Schluss lässt Poschardt die elitäre Katze aus dem Sack: „Ehrgeiz ist keine Sache des Alters, auch nicht der Hierarchie. Bemerkenswert ist in Zeiten des Strukturwandels oft genug, dass der Gestaltungsehrgeiz, der revolutionäre Impuls hierarchisch von oben nach unten durchgestellt wird.“

Woran erkennt man den Pöbel? Nicht an der Unzufriedenheit. Da müssen die Fans der falschen Populisten oder der AfD etwas missverstanden haben. Im Grunde geht es ihnen viel zu gut. Aufmerksame Wächter der Eliten müssen den hinterlistigen Unzufriedenheitssdarstellern den Marsch blasen. Ehrgeiz muss von oben nach unten durchgestellt werden. Das klingt wie eine Anordnung des Kapitäns an den Maschinisten im Bauch des Schiffs, der sich allzugern auf die faule Haut legt.

Poschardt scheut sich nicht, die Entrechteten endgültig ad acta zu legen: „Die sozialistische Idee der Revolte dachte Fortschritt als Auflehnung der Entrechteten, die bürgerliche Idee der Revolte definiert Fortschritt als Addition individueller Emanzipations- und Karriereschritte, unabhängig von Herkunft und Gegenwart. Nur wer nichts mit sich anzufangen weiß, kann zum Großen und Ganzen nichts beitragen.“

Emanzipation wovon, wenn die Bürgerlichen ohnehin auf der Kommandobrücke stehen? Karriere wozu, wenn die Eliten der Gesellschaft – nach Elitenforscher Hartmann – fast nur aus Elitenklassen stammen?

Kein Wörtchen Poschardts zu den Menschheitskatastrophen, kein Wörtchen zu den Klimagefahren, kein Wörtchen zum Ehrgeiz der Trumps und Putins, die Welt zum Spielplatz ihrer kranken Ambitionen zu machen. Kann es sein, dass die Edelschreiber sich beim neutralen Beobachten der Welt zunehmend langweilen? Dass sie von der Geschichte ein schillernd-hektisches Event-Programm fordern, um den Überdruss an ihrem sterilen Voyeurismus mit Protokollieren zu tarnen? Wie medienfeindlich muss jedes Schlaraffenland sein! Wie klug, jede Utopie als inhumane Versuchung verbieten zu lassen!

Harter Schluss: Heitere Selbstzufriedenheit muss das Ziel einer mündigen Menschheit sein. Selbst Frieden auf Erden herzustellen: das wäre der Triumph der Humanität.

 

Fortsetzung folgt.