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Tagesmail

Weltdorf LXXVIII

Hello, Freunde des Weltdorfs LXXVIII,

„Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.“

Ein prophylaktischer Verriss der Moderne durch einen wortmächtigen Fürstenknecht, der gar nicht daran denkt, Rechenschaft zu definieren als Verantwortung gegen Übermacht und Unrecht. Der lieber mit gescheiten Tyrannen parliert, als sich mit politischem Pöbel einzulassen.

Die Verachtung der Massen ist in Deutschland eine klassische Disziplin. Wer das Volk verteidigt, ist auch Anhänger des edlen Wilden, wie Edelschreiber Jens Jessen unerschrocken behauptet. Hat die Wissenschaft doch längst bewiesen, dass Wilde rohe Fleischfetzen verschlingen und die Lektüre der ZEIT verschmähen.

Es ist ein Verhängnis: deutsche Medien fühlen sich dem Tag verpflichtet und ignorieren die Geschichte; deutsche Historiker ignorieren den Tag und fühlen sich der Erforschung der Vergangenheit verpflichtet. Lehren aus der Geschichte gibt es für beide Zünfte nicht.

„Übermacht, ihr könnt es spüren,
Ist nicht aus der Welt zu bannen;
Mir gefällt zu konvergieren
Mit Gescheiten, mit Tyrannen.“

Selige Zeiten, als Tyrannen noch gescheit waren. Moderne Tyrannen – besonders aus dem österreichischen Hinterland – sind nicht mal der deutschen Sprache mächtig. Der Weltbestseller „Mein Kampf“ ist so dumm, dass deutsche Gelehrte riesige Kommentare verfassen müssen, dass man diesen Legastheniker überhaupt

versteht.

Doch Gott ist in den geistig Armen mächtig, wussten die bibelfesten Deutschen – und jubelten dem Flachkopf solange zu, bis dieser sich seiner himmlischen Berufung sicher war.

Die Deutschen haben aus der Geschichte gelernt: wer heute etwas werden will, muss mindestens Abitur haben. Gut ist ein Physikstudium, hilfreich ein Doktortitel, zur Not ein getürkter.

Da wundern sich die Deutschen, dass die Türken sie nicht mögen, wenn sie schwindeln als „türken“ deklarieren. Im Zuge der fortschreitenden Entsolidarisierung wäre auch an andere Nationalverben zu denken:

„Und wer franzet oder britet,
Italienert oder teutschet,
Einer will nur wie der andre,
Was die Eigenliebe heischet.“

Zerfällt die EU, beginnen die Franzosen zu franzen, die Briten zu briten, die Italiener zu italienern und die Deutschen zu täuschen, äh, zu teutschen. Hurra, da kommt Leben in die Bude, wenn mit öder Gleichmacherei Schluss gemacht wird.

Niemand weiß, was Gerechtigkeit ist. Dass sie aber mit Gleichheit nichts zu tun haben kann, das wissen alle Nobelpreisträger für Ökonomie und deutsche Professoren mit Namen Hüther, die sich in den edlen Dienst der Wirtschaft gestellt haben. Auch das deutsche Volksvertretungsblatt BILD weiß, dass übermäßiges Alimentieren des Pöbels nichts bringt, außer das Geld der Erfolgreichen zum Fenster rauszuwerfen. BILD-Blome bringt es auf eine dem eingeschränkten Verstand der Masse gerade noch verständliche Formel: „Viel bringt nicht immer viel“.

Hier hätten wir den klaftertiefen Haarnadelriss zwischen Erwählten und Verworfenen. Bei denen da oben gilt das genaue Gegenteil: viel bringt immer viel, mehr bringt mehr, unendlich viel bringt den Garten Eden – für die Eliten. Als eine ZDF-Frau wegen ungleicher Geschlechter-Entlöhnung vor Gericht ging, wurde sie vom – männlichen – Richter mit cooler Stimme belehrt: Das ist Kapitalismus, gnä Frau. Kann es sein, dass Sie weiblicher – also dööfer – verhandelten?

Bedeutende Manager sollen gar nicht mehr wissen, warum sie sagenhafte Boni kriegen. Doch irgendwie muss dies seine Richtigkeit haben – sonst hätte der männerfreundliche Markt nicht sein Placet gegeben. Es wird seine freudianische Richtigkeit haben, wenn der Markt männlich, die soziale Marktwirtschaft aber weiblich ist. Mit Frauen kann man‘s ja machen: werkeln sie nicht am liebsten fer umme oder um Gotteslohn – wie wirtschaftsfreundliche Umfrager herausgefunden haben? Man würde ja ihre Seligkeitschancen mindern, wenn man sie nach kalten Gleichheitsprinzipien dem Himmel vorenthielte. Sie wollen nicht bezahlt, sie wollen geliebt werden.

Dieses anthropologische Defizit ist der natürliche Vorsprung des Mannes, dessen Quantitäten sich in der Wirtschaft längst in eiserne Qualitäten verwandelt haben. Lieben und geliebt werden kann nicht gemessen werden. Also haben sie im Geschäft gerechter Ungleichheiten nichts zu suchen. Männer hingegen wissen genau, warum sie das 100-fache eines austauschbaren Leihmalochers verdienen müssen. Sie bringen ja auch das 100-fache an Profit – während ein Arbeiter den Betrieb nur kostet.

Löhne sind Kosten, Boni sind Ankurbelungsmaßnahmen. Das war der Kern der Schröder‘schen Stimuluspolitik durch Lohnminderung der Massen. Was wäre geschehen, wenn der deutsche Proletenkanzler die Wirtschaft durch Boni-Minderung der Karrieristen hätte anheizen wollen?

Solche Fragen verraten nur tragisches Unwissen über die dialektischen Gesetze des Patriarchats. Die Umwandlung von Qualität in Quantität, die Rückübersetzung von Quantität in Qualität ist ein – männlicher Hoheitsakt. Wie Gott seine Kreaturen willkürlich benamsete, so legen hohe Männer fest, wie viele Moneten das Tun der Massen in die Kassen spült. Willkürlich, doch gerecht, wie die Alleinentscheider behaupten. Ihre Willkür ist das Gesetz des Seins. Sie bestimmen, also ist es.

Bei so viel Omnipotenzgehabe ginge den Frauen die Luft aus – wenn sie wirklich sähen, was die Herren der Macht sich anmaßen. Die stockende Durchschlagskraft der weiblichen Emanzipation beruht auf dem letzten irrationalen Respekt der Frauen vor Wesen, denen sie selbst zum Leben verhalfen. Weshalb sie gar nicht so genau hinschauen, was diese Scherzkekse den ganzen Tag treiben. Es schaudert sie, die letzte Wahrheit über ihre Leibesfrüchte zu erfahren.

Eines Tages aber – und er rückt immer näher –, werden sie keine Scheu mehr haben, den Rest ihrer Verehrung abzulegen und den Hasardeuren genauestens auf die Finger schauen. Dann schnackelt‘s. Schon rüsten die Frauen in aller Welt. In Rumänien, Amerika, in der Türkei, selbst in Belarus oder Weißrussland.

Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt entlarvt den weißen Mann in einer Art und Weise, wie es in Deutschland wegen Pietät vor dem männlichen Gott nicht möglich wäre. Hierzulande meditieren Edelschreiberinnen der ZEIT lieber über das Thema, warum sie so wundersam evangelisch sind. Pastorentöchter und Pastorengattinnen sind noch immer die Traumberufe ehrgeiziger Protestantinnen.

Woher kommt die Frauenfeindlichkeit des amerikanischen Präsidentendarstellers – der sie keinesfalls erfunden hat? Warum tat man so erstaunt und empört, obgleich die Frauenfeindschaft tiefe amerikanische Wurzeln besitzt? Sie stammt vom

„ …Bild des einsamen, omnipotenten Mannes. Das hat mit der Idee der Frontier zu tun, des weiten unbekannten Westens, der vom einsamen Pionier erobert wird. Es ist kein Zufall, dass der Westen immer wieder als „jungfräuliches Land“ beschrieben wird. Der einsame männliche Held spielt in der amerikanischen Fantasiewelt eine enorme Rolle. Das taucht immer wieder auf – in der „Eroberung“ des Weltalls etwa. Oder bei der atomaren Aufrüstung, die Atomraketen sind phallische Gebilde mit Namen wie „Little Boy“ und „Big Boy“. Wir haben in Amerika endlose Metaphern für das Erobern und das Penetrieren. Der Urgrund dieses Mythos ist jedoch, dass der Mann nicht aus dem Leib einer Mutter geboren worden ist. Der amerikanische „Self Made Man“ erschafft sich also wortwörtlich selbst. Mysogynie ist in dieser amerikanischen Fantasie des „Self Made Man“ impliziert. Dabei geht es nicht nur darum, Vater und Mutter zu leugnen, sondern vor allem auch den Ekel Faktor. Die Männerfantasie blendet aus, dass der Mann zwischen den Beinen einer Frau zur Welt gekommen ist.“ (Berliner-Zeitung.de)

Eindrucksvolle Sätze über den amerikanischen Mythos des omnipotenten weißen Mannes – auch wenn der Begriff Christentum nicht fällt. Der Mythos einer erwählten Nation kann nur eine Religion der Erwählten sein. Trumps Ekel vor weiblichen Körperflüssigkeiten entlarvt sein biblizistisches Nervenkostüm. Noch immer gilt die Frau als unrein, weil die Männer die fließenden Verlockungen der weiblichen Lust ins Gegenteil verdrehen müssen, um ihre eigene Verführbarkeit mit Ekelfantasien zu zähmen. Das verführerische Weib ist schlimmer als der Tod:

„Und siehe, da begegnete ihm ein Weib im Hurenschmuck, listig, wild und unbändig, daß ihr Füße in ihrem Hause nicht bleiben können. Jetzt ist sie draußen, jetzt auf der Gasse, und lauert an allen Ecken. Und erwischte ihn und küßte ihn unverschämt und sprach zu ihm: Ich habe Dankopfer für mich heute bezahlt für meine Gelübde. Darum bin herausgegangen, dir zu begegnen, dein Angesicht zu suchen, und habe dich gefunden. Ich habe mein Bett schön geschmückt mit bunten Teppichen aus Ägypten. Ich habe mein Lager mit Myrrhe, Aloe und Zimt besprengt. Komm, laß uns buhlen bis an den Morgen und laß uns der Liebe pflegen. Denn der Mann ist nicht daheim; er ist einen fernen Weg gezogen. Er hat den Geldsack mit sich genommen; er wird erst aufs Fest wieder heimkommen. Sie überredete ihn mit vielen Worten und gewann ihn mit ihrem glatten Munde. Er folgt ihr alsbald nach, wie ein Ochse zur Fleischbank geführt wird, und wie zur Fessel, womit man die Narren züchtigt, bis sie ihm mit dem Pfeil die Leber spaltet; wie ein Vogel zum Strick eilt und weiß nicht, daß es ihm sein Leben gilt.“

Die Anziehungskraft des Weibes ist die köstliche Frucht der attraktiven Mutter Natur. Der Fromme muss die weibliche Natur verteufeln, schmähen und ihren Tod herbeiwünschen, damit eine neue Natur entstehen kann.

Lust ist die List der Erde, um den Menschen in ihren Bann zu ziehen. Lust muss eine Erfindung des Teufels sein. Geschlechtsverkehr darf mit Lust nichts zu tun haben und allein der Fortpflanzung dienen. Lust ist die List der Frau, den Mann hörig zu machen. Wie sagte ein weiblicher Star aus Hollywood? „Ich bin erstaunt über die Macht der Vagina.“ Eines Tages wird der Erlöser mit Feuer die Erde vernichten und die Macht der Lust auslöschen. Indem die Algorithmiker die Lust des Mannes auf die Maschine übertragen, haben sie das Existenzrecht von Frau und Natur schon bestritten:

„Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon. Meinet ihr, daß ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden und das Meer ist nicht mehr.“

Die Stoiker waren voller Bewunderung für die Schönheit der Natur, die sie Kosmos nannten: die Schöne und Geordnete. Ein stoischer Schriftseller betete zu „der Heiligen Göttin Erde, Mutter der Natur, die du alles Leben bringst und wiedererweckst von Tag zu Tag.“ Ein Philosoph formulierte voll Überschwang: „Die Mutter Erde ist die rätselhafte Kraft, die alles zum Leben erweckt Alles Leben entspringt der Erde und alles endet in ihr. Die Erde erzeugt alle Dinge und nimmt sie wieder in sich auf die Göttin ist der Anfang und das Ende alles Lebens.“ Auch diese Formel entwendete der Erlöser und münzte sie auf sich: „Ich bin das Alpha und Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“

Altbischof Huber, die Grünen und alle Christen, die ihre Bibel nicht lesen, wollen die Schöpfung bewahren – obgleich der Herr sie persönlich beenden wird.

Hier hat Goethe schärfer gesehen als die Willkürdeuter der Gegenwart, die jede Zeitgeistideologie nach Belieben ihrer Heiligen Schrift entnehmen. Selbiges gilt auch für die modernen Deuter des Koran, die nichts unterlassen, um den Originaltext in Wohlgefallen aufzulösen:

„Sonst, wenn man den heiligen Koran zitierte,
Nannte man die Sure, den Vers dazu,
Und jeder Moslim, wie sich’s gebührte,
Fühlte sein Gewissen in Respekt und Ruh.

Die neuen Derwische wissen’s nicht besser,
Sie schwatzen das Alte, das Neue dazu;
Die Verwirrung wird täglich größer
,
O heiliger Koran! O ewige Ruh‘!“

Was die Verehrung der Natur betrifft, ist die griechische Kosmosbewunderung identisch mit der Naturreligion der Eingeborenen und Indianer. Warum musste man die Naturfrommen flächendeckend vernichten oder zwangsmissionieren? Damit Priester und Soldaten nicht in Versuchung geführt werden. Natur muss unter den Scherenhänden der Frommen zur hässlichen Alten werden, damit man sie mit Abscheu auslöschen kann. Smohalla, ein Indianerhäuptling, erzählt die Geschichte von der Sünde, die Natur zu entstellen und zu liquidieren:

„Es ist eine Sünde, unser aller Mutter zu verletzen oder zu schneiden, aufzureißen oder zu zerkratzen, wie es die landschaftliche Arbeit erfordert. Ich soll in der Erde graben? Soll ich ein Messer nehmen und es in die Brust meiner Mutter stoßen? Du sagst mir, ich soll alle Steine ausgraben und wegtragen? Muss ich ihr Fleisch verstümmeln, so als ob ich ihre Knochen begehre? Dann kann ich nie wieder in ihren Körper eingehen und wiedergeboren werden.“

Der amerikanische Feminismus, der die Kritik an der Religion als wesentlichen Baustein seiner Philosophie enthält, ist dem deutschen um Welten überlegen. Namen wie Marilyn French und Barbara Walker sind vom abendländischen Erdboden spurlos verschwunden.

Von all diesen politischen und ökologischen Perspektiven ist in den sechs Selbstporträts protestantischer Edelschreiberinnen der ZEIT nichts zu finden. Ihre selbstgestellte Frage: warum sind wir bloß so protestantisch? beantworten sie mit Beobachtungen ihrer pietistischen Gehorsamsethik.

Anne Hähnig hält ihren Glauben für die Unterstützung ihrer Skepsis:

„Protestantisch an mir ist, dass ich so skeptisch bin. Vor allem gegenüber Leuten, die Großes versprechen. Das hat sein Gutes. Mich kann man nicht so schnell verschaukeln, mir kann man auch nichts Überflüssiges verkaufen. Und ich glaube, für Diktatorenverehrung wäre ich auch nicht besonders anfällig. Aber es hat auch seine Nachteile. Ich verwechsle manchmal Visionäres mit Angeberei.“ (ZEIT.de)

Fromme sind nur skeptisch gegen die teuflische Welt. Alles Heilige glauben sie blind. Keine einzige Anmerkung zur protestantischen Anfälligkeit, einem messianischen Führer zu folgen. Keine einzige Anmerkung zu Römer 13, jede Obrigkeit als Obrigkeit von Gott anzubeten. Keine Anmerkung über die amerikanischen Puritaner, einem säkularen Politprediger wie Obama zu folgen.

Protestantismus ist deutsch. Was nicht deutsch ist, kann nur minderwertig sein. Das gilt auch für den Biblizismus der amerikanischen Brüder und Schwestern, der in Deutschland gar nicht – oder nur mit Verachtung – zur Kenntnis genommen wird. Keine Anmerkung über protestantische Medien, Silicon Valley als das technische Goldene Jerusalem in den Himmel zu heben.

Evelyn Finger kann überhaupt keinen Grund entdecken, ihren Protestantismus als etwas Besonderes herauszuheben. Sie glaubt an „konfessionsübergreifende Wunder“. Klingt bereits verdächtig nach Oikumene mit Gottlosen und entwurzelten Internationalisten.

Für Anna von Münchhausen war es die Musik von Bach, die sie in der Konfession ihrer Mutter hielt. Entscheidend aber wurde für sie das sola gratia, allein durch den Glauben:

„Die Erkenntnis, dass ich als fehlsames, ichsüchtiges, scheiterndes Wesen von Gott angenommen werde, allein aus Gnade, wurde für meine Existenz ein überzeugendes, unabweisbares Fundament.“

Auch die emanzipierte Frau muss sich vor einem männlichen Erlöser zu Null erniedrigen, um keine Null zu sein. Wie kann man ein selbstbewusstes Ich werden, wenn man sein Ich vor Gott auslöschen muss?

Merle Schmalenbach ist hart gegen sich selbst. Das verdankt sie Luther – in Dank und Undank:

„Ich gebe Luther die Schuld. Er hat dem Menschen die Verantwortung für sein Handeln aufgebürdet. Jeder soll selbst seine Berufung finden. Das klingt in der Theorie gut. Nach Weiterentwicklung und Selbstentfaltung. Doch wehe, wir Protestanten werden dieser Verantwortung nicht gerecht, wehe, wir sind zu laisser-faire, wehe, wir verschwenden unsere Ressourcen und unsere Zeit. Dann plagt uns das schlechte Gewissen. Das treibt uns an.“

Jeder bleibe im Stand, in den ihn Gott berufen hat. Das ist Luther. Verantwortung übernehmen für sein Handeln wäre Rühmen seiner Autonomie, die schlimmste Sünde, die ein bußfertiger Christ begehen kann. Nur Gott kann Verantwortung für den Menschen übernehmen. Diesem Gott hat sich der Mensch bedingungslos auszuliefern. Schmalenbach verfälscht Luthers Rechtfertigungstheologie zum Fundament heidnischer Selbstbestimmung.

Elisabeth Niejahr hält sich für streitsüchtig und moralisch rigoristisch:

„Damit meine ich den unbändigen Drang, eine Position zu vertreten oder durchzusetzen, die man aus moralischen Gründen für richtig hält – und zwar no matter what, also ohne große Rücksicht auf Umgangsformen, auf die Nerven anderer und auf das eigene Wohlbefinden. Muss man erklären, was genau an moralischem Rigorismus protestantisch ist? Mir begegnet diese Geisteshaltung oft bei Menschen, die wie ich in Pfarrhäusern aufgewachsen sind. Vermutlich ist sie inspiriert durch den berühmten Satz, mit dem Martin Luther sich einst wehrte, seine Lehre zu widerrufen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“ Aber man muss das Zitat nicht kennen, um zu denen zu gehören, die sich für eine als richtig erkannte Sache gern mal ungeschickt verkämpfen, die als sperrig gelten, anfällig für Tränen der Wut und manchmal sogar richtige loser sind.“

Hat Streiten etwas mit bourgeoisen Höflichkeitsregeln zu tun? Da hülfe ein kleiner Blick in die platonischen Frühdialoge, wo man dem authentischen Sokrates beim methodischen Dialog zuschauen kann. Intensives Streiten geht an die Nerven. Kein Gefühl ist verboten. Freilich, wer sich aufrecht für eine Sache einsetzt, wird im Neoliberalismus der Pastorentochter Merkel keinen Pfifferling gewinnen. Na und?

Niejahr schwankt von Satz zu Satz. Wofür steht sie eigentlich? Sie schildert nur die Labilität ihres Innenlebens. Ihre Moral – die sie für rigoristisch hält –, zeigt sich nicht. Aus sicherer Deckung bewundert sie, wozu sie selbst nicht fähig ist. Noch viel Platz für Bewunderung männlicher Heroen.

In Iris Radisch brodelt es immer noch gegen die Dominanz der Männer – bei den Katholiken:

„Das Protestantische hat sich von der Oberfläche in unzugänglichere Regionen zurückgezogen. Ab und zu schickt es eine Meldung nach oben. Zum Beispiel, wenn in meiner Zeitung schon wieder eine ganze Seite über Seine Heiligkeit den Papst gebracht wird, zucken in mir protestantische Zornesrestreflexe. Was soll dieses ehrfürchtige Getue um ein Kirchenoberhaupt? Sind wir nicht alle gleich vor Gott?“

Menschen waren noch nie gleich vor Gott, was man dem doppelten Ende der Heilsgeschichte unschwer entnehmen kann. Der „Kulturprotestantismus“ Radischs gebärdet sich, als sei das Neue Testament die Urfassung von Simone de Beauvoirs emanzipatorischem Urbuch „Das andere Geschlecht“. Das Gegenteil ist der Fall. Wie Christus das Haupt des Mannes, ist der Mann das Haupt der Frau. Radisch ist Literaturkritikerin, die sich verpflichtet fühlt, den Text der Bücher exakt zu entziffern. Nur die Heilige Schrift soll die unrühmliche Ausnahme in dieser Regel bilden? Theologen sprachen einst von der doppelten Wahrheit.

In einer früheren Buchkritik beschreibt Radisch das Ende der Poststrukturalismus und das Wiederaufkommen des Existentialismus:

„Der Poststrukturalismus hat seinerseits seine beste Zeit hinter sich. Erschöpft von endlosen Dekonstruktionen und Fiktionalisierungen, sucht das philosophische Denken im Augenblick nach neuen Perspektiven und nach neuerlichem Bodenkontakt. Sarah Bakewells Wiederentdeckung der Pariser Existenzialisten passt in diese Stimmung. … Und sie hat recht: Die Existenzialisten treffen im Augenblick einen blank liegenden Nerv. Bedroht vom Islamismus, schockiert vom Rechtspopulismus, vermessen durch die Neurobiologie, eingezwängt in Algorithmen und überwacht von Konzernen, kehrt man zu den alten existenzialistischen Fragen zurück, als komme man nach langer Irrfahrt endlich wieder nach Hause. „Wenn man liest“, schreibt Bakewell, „was Sartre über Freiheit, Beauvoir über die subtilen Mechanismen der Unterdrückung, Kierkegaard über Angst, Albert Camus über die Revolte, Heidegger über die Technik und Merleau-Ponty über Kognitionswissenschaften zu sagen hat, beschleicht einen oft das Gefühl, die neuesten Nachrichten zu lesen.“ (ZEIT.de)

Die eine Zeitgeistphilosophie geht, die andere kommt. Niemand weiß warum. Journalisten sind dem Tag verpflichtet und ignorieren die Vergangenheit zur Deutung der Gegenwart. Und wo steht Iris Radisch? Schwimmt sie mitten im Strom, erfüllt vom Ehrgeiz, den Wandel der Zeiten als erste Prophetin geschaut und verkündet zu haben?

In den sechs Selbstbeschreibungen der Edelprotestantinnen fehlen alle Bezugnahmen zur politischen und philosophischen Realität. Größer kann die Kluft zwischen Siri Hustvedt und den ZEIT-Damen nicht sein. Die deutschen Ladies sind pflichtbewusst und hart gegen sich selbst. Ihr lutherisches Berufsethos ist Gehorsam gegen alles, was Macht besitzt – auch wenn sie gelegentlich vom Furor der Empörung gestreift werden. Dann warten sie so lange in stiller Ergebung, bis die Anfechtung an ihnen vorüber gegangen ist. Ihre hausgemachte Theologie ist der übliche biblische Deutungsbrei aus der Zauberkraft einer Wünschelrute. Noch immer beobachten sie die Welt durchs Schlüsselloch ihres schlichten Dorfkirchleins, das vom Brausen der Bach-Toccata erfüllt ist.

All dies verbindet sie mit Merkel, die, wo immer sie sich in der lärmenden Welt aufhält, in ihrer isolierten Gebetsnische sitzt und den Herrn der Geschichte walten lässt. Demütig erfüllt sie die niederen Wurschteldienste einer Magd Gottes – und überlässt die Schicksalsentscheidungen einem unbesiegbaren männlichen Gott.

Eines unbestimmten Tages werden alle Katharina von Boras als Selige in den Himmel einziehen – wo engelgleiche Männer ihnen den Platz zu Füßen des Erlösers anweisen werden.

 

Fortsetzung folgt.