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Weltdorf LXXVI

Hello, Freunde des Weltdorfs LXXVI,

ist Armut eine Zahl – oder ein psychischer Befund? Ist ein psychischer Befund die Wiederspiegelung der Realität – oder ein Hirngespinst der yesterday people?

In einer der reichsten Gesellschaften der Welt kann es keine Armen geben. Dafür sorgen die Springer-Gazetten mit dem pluralis luxuriae – dem Reichtums-Wir: WIR werden immer reicher. Was macht die Regierung mit UNSEREM Geld? Die Griechen sollen UNSER Geld nicht griechen. Faulenzer (vermutlich eingesickerte Aliens, die es auf ihren erdähnlichen Planeten nicht mehr aushielten) leben auf UNSERE Kosten.

Wenn Armut weniger als 60% des Durchschnittseinkommens sein soll: wie kann man arm werden in einer Gesellschaft, die unablässig reicher wird, empört sich die WELT. Das wäre der Skandal der Skandale, wenn mitten in einer Luxusgesellschaft Menschen am Existenzminimum darbten und verhungerten.

BILD hat sich vorsorglich zur Fürsprecherin des Volkes ernannt, damit sie ihre Schutzbefohlenen hart, aber gerecht an die Kandare legen kann. Gelobt sei, was hart macht, schreibt ein INSM-Funktionär in der WELT:

„Ich will nichts beschönigen, aber die hart anmutenden Reformen sind alles andere als hartherzig. Sie wurzeln in einem von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Teilhabe geprägten Verständnis des Begriffs „sozial“.

Was wollt ihr? Leben wir doch in einer der gerechtesten Welten aller Zeiten. Mehr hat der Schöpfer nicht hingekriegt. Die paar Macken, die er nicht vermeiden konnte, dienen einzig und allein dem Anreiz zur „Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und der Teilhabe.“ Ein bisschen Kontrast muss schon sein, damit das Gute sich vom

Bösen vorteilhaft abheben kann.

Gerüchtehalber soll der deutsche Philosoph Leibniz seine Verherrlichung des Seins als prophylaktische Absegnung des Neoliberalismus entworfen haben. Das ist natürlich Unfug. Den Neoliberalismus hat Leibniz nicht vorausgesehen, er hat ihn gesehen. Zuerst im Himmel, dann auf Erden. Seine Theodicee – seine Verteidigung Gottes – ist Neoliberalismus. Alles, was ist, ist gut – selbst wenn es böse aussieht. Böses aber sehen nur die Bösen. Die Guten sehen, dass ihr Schöpfer sich redlich bemüht hat. Das rechnen sie ihm als Vollkommenheit an.

Vergessen wir nicht: der englische Schöpfer ist, verglichen mit dem deutschen, ein Pfuscher. Ständig muss er das Uhrwerk der Schöpfung nachjustieren, weshalb Adam Smith die unsichtbare Hand eingeführt hat. Während der deutsche Gott ein Perfektionist war (okay, mit unvermeidbaren Mini-Fehlern), blieb der Gott Newtons ein Stümper. Die unsichtbare Hand blieb bis zum heutigen Tage unsichtbar. Dass brachialer Egoismus sich per Wunder in nationale Nächstenliebe verwandeln soll, konnte bis heute nirgendwo nachgewiesen werden.

Trump ist hier längst weiter: die ganze Welt beutet UNS aus, besonders unsere sogenannten Freunde wie diese Germans. Denen geht es so gut, dass sie Millionen Wirtschaftsflüchtlinge mit links aufnehmen können. Alles auf unsere Kosten, denn ihre Verteidigungskosten lassen zu wünschen übrig. Deshalb bin ich angetreten, UNSEREN armen Weißen wieder zu altem Ruhm und Herrlichkeit zu verhelfen, indem ich unseren Freunden in der Welt die rote Karte zeige.

In Deutschland gibt es keine armen Weißen. Wer dies behauptet, muss ein Fake-Schulz sein. Will dieser ungebildete Bartträger in seinen billigen Anzügen überhaupt den Schwächsten helfen? Oder will er nur auf der sozialromantischen Welle ins Kanzleramt reiten? Bis jetzt sprach er nur von Peanuts (ALG I). Doch erst ab ALG II beginnt die Hartz-4-Tortur. Dazu Sonja Vogel in der TAZ:

„Aber die heiligen drei Säulen der Agenda 2010 treffen vor allem die ALG-II-Bezieher: 1. die Gängelung von Arbeitslosen durch Kürzungen und Strafmaßnahmen, 2. die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Senkung der Löhne und 3. die durch das Schröder’sche Paradigma der Eigenverantwortung vorangetriebene Entsolidarisierung. Wer arm ist, ist seither selbst schuld. Eine Millionen Sanktionen wurden 2015 ausgesprochen, etwa 140.000 Menschen wurden im Schnitt 104 Euro pro Monat gekürzt. Bleiben 305. Wie soll man davon leben, wenn schon der Regelsatz von 13 Euro pro Tag – minus Stromkosten, Versicherung, Internet, Handy vielleicht 8 Euro – nicht ausreicht? Zuletzt hat das Sozialgericht Gotha beim Bundesverfassungsgericht einen Vorlagenbeschluss eingereicht, um prüfen zu lassen, ob die Sanktionen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Wieder einmal. Aber was für eine Frage ist das überhaupt: Darf der Staat den von ihm zur Deckung der Grundbedürfnisse des Lebens festgesetzten Minimalbetrag kürzen?“

Es gibt nicht nur Arme in Deutschland. Es gibt Arme unterhalb des gesetzlichen Lebensminimums. Und dies von Staats wegen. Die Armen sind nicht einfach arm geworden. In vorsätzlicher Bosheit haben sie sich arm gemacht, um ihre persönliche Schuld (die es „plötzlich und unerwartet“ doch gibt) den schuldlosen Verhältnissen oder dem gütigen Väterchen Staat aufzuhalsen. Vor soviel selbstzerstörendem Hass auf die Tüchtigen und Erfolgreichen kann man sich nur schaudernd abwenden.

Nach Hayek muss man an die Gerechtigkeit des Marktes glauben. Sehen tut man sie nicht. Im Gegenteil. Das ökologische Produkt geht vor die Hunde, naturzerstörende CO2-Vehikel verkaufen sich wie warme Semmel. Die Gerechtigkeit des Marktes ist dem Verstand des Menschen unzugänglich. Er sieht nur, was vor Augen ist, Gott allein kennt die verschlungenen Methoden seiner Weltregierung. Wider den Augenschein sollen sie glauben: diese vermaledeiten, ständig ihre Vernunft rühmenden, Erdenbewohner. Hayeks Markt spricht zu den Marktteilnehmern wie der Schöpfer zu Hiob:

„Siehe Gott ist zu hoch in seiner Kraft; wo ist ein Lehrer, wie er ist? Wer will ihm weisen seinen Weg, und wer will zu ihm sagen: „Du tust Unrecht?“ Gedenke daß du sein Werk erhebest, davon die Leute singen. Denn alle Menschen sehen es; die Leute schauen’s von ferne. Siehe Gott ist groß und unbekannt; seiner Jahre Zahl kann niemand erforschen. Den Allmächtigen aber können wir nicht finden, der so groß ist von Kraft; das Recht und eine gute Sache beugt er nicht. Darum müssen ihn fürchten die Leute; und er sieht keinen an, wie weise sie sind.“

Der Neoliberalismus ist ein Züchtigungsinstrument Gottes, mit dem er seine naseweisen Kreaturen zur Demut erzieht. Arbeitet und malocht im Schweiße eures Angesichtes, den Rest überlasst ihr mir. Die einen werden just for fun berufen und erben die Reichtümer der Welt, die anderen soll der Teufel holen: das ist das heilige Gesetz eines „gerechten Gottes“ seit Bestehen der Welt.

Warum wird das Thema Gerechtigkeit im christlichen Westen mit Abscheu in die Mülltonne getreten? Weil es zweierlei Gerechtigkeiten gibt. Die eine ist von Gott, die andere die Erfindung der Menschen. Zwei unvereinbare Gerechtigkeiten, ineinander verbissen und verschlungen, sich gegenseitig die Augen auskratzend, bestimmen die Geschichte des christlichen Abendlandes.

Wie kann man nach menschlicher Gerechtigkeit fragen, wenn Gerechtigkeit die unerforschliche Weisheit des Schöpfers ist? Die Gerechtigkeit Gottes besteht in höllischen Strafen für die Mehrheit seiner Kreaturen. Gott erfreut sich an den gerechten Qualen der Bösen im ewigen Feuer:

„Der ursprüngliche Urheber der Höllenqualen ist Gott selbst. Der Zustand der Qual ist von Gott absichtsvoll angeordnet, um die Gerechtigkeit Gottes zu rühmen. Die ewigen Flammen der Hölle können nicht heiß genug gedacht werden für die Rebellen. Wenn sie Millionen von Zeitaltern so gebrannt haben, wird Gott das Übel nicht gereuen, das sie befallen hat. Gott wird sich ein Vergnügen daraus machen, über sie Gericht zu halten. Niemand könnte den Verworfenen helfen, außer Gott selbst. Doch der wird sich an ihrem Elend ergötzen“. (Der englische Theologe des frühen Kapitalismus, Richard Baxter, zitiert nach R. B. Perry: Amerikanische Ideale)

Die ewig strafende Gerechtigkeit zählte zu den göttlichen Vollkommenheiten. Oder wie Reverend Bellamy ausführte: „Die rächende Gerechtigkeit Gottes muss als etwas Schönes betrachtet werden. Alle Himmel lieben die unendlich glorreiche Majestät, dass die Sünden der Rebellen bestraft werden, wie sie es verdienen. Und solange wir dies nicht einsehen wollen, dass es etwas Schönes ist im Verhalten Gottes, die Sünden höllisch zu bestrafen, leben wir in Feindschaft mit der Schöpfung.“ (Nach Perry)

Nach Tertullian bestehen die himmlischen Wonnen der Erlösten im Vorrecht, die Höllenqualen der Verworfenen auf einem Logenplatz zu delektieren. Nietzsche wagte es nicht, Tertullians voyeuristische Sadismen ins Deutsche zu übersetzen. So grausam empfand er sie.

Darwins Selektionstheorie ist nichts anderes als die Transformation der göttlichen Gerechtigkeit ins Biologische. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.

Hayeks Neoliberalismus ist Theologie, Vollstreckung der göttlichen Gerechtigkeit mit wirtschaftlichen und technischen Mitteln. Jetzt komme mal einer und stelle sich trotzig gegen den Allmächtigen HIMSELF. Nein, hinweg mit diesem Thema. Darüber kann man nicht reden, hier hat jeder seine eigene Meinung.

Es ist nicht Gottes Lohn- und Straf-Gerechtigkeit allein, die die Suche nach irdischer Gerechtigkeit tot schlägt. Auch Platons Urfaschismus, der die Gerechtigkeit als Kern seiner Politeia betrachtet, hat jedes Nachdenken über rationale Gerechtigkeit dem Verdacht ausgesetzt, selbst faschistisch zu sein. Popper hatte recht, dass man den Himmel auf Erden nur mit totalitären Methoden realisieren kann. (Hölderlin hatte diese Erkenntnis in Hyperion zum ersten Mal ausgesprochen.)

Doch er lag vollkommen daneben, dieses Verdikt auf alle weltlichen Vernunft-Utopien zu übertragen. An diesem Punkt unterwarf er sich seinem österreichischen Freund Hayek – ohne es zu bemerken. Selbst Isaiah Berlin und John Gray wandeln noch auf Poppers Spuren, wenn sie alle Utopien als faschistische verwerfen.

Eine rationale Utopie wäre die einzige seriöse Alternative zum herrschenden Neoliberalismus. Warum gibt es keine Alternativen zur suizidalen Weltwirtschaft – nicht nur bei Merkel & Co? Weil die Furcht, Gottes menschenfeindliche Gerechtigkeit zu attackieren, die vor religiöser Furcht schlotternden Zeitgenossen davon abhält, eine Alternative zum Allmächtigen zu suchen. Du sollst keine Götter haben neben mir. Schon gar nicht Menschen, die sich erkühnen, sich frech auf seinen Thron zu setzen.

Gott zu verjagen und sich an seine Stelle zu setzen, heißt nicht, seine absurde Irrtumslosigkeit und Vollkommenheit zu übernehmen. Der mündige Mensch ist selbstbewusster als Gott. Auf tönerne Perfektion kann er verzichten und sich zu seinem Erkennen in Versuch und Irrtum bekennen. Es fällt ihm kein Zacken aus der Krone, wenn er – lernt. Allemal sind selbstkritische Wesen jenen Popanzen überlegen, die beim leisesten Zweifel an ihrer heiligen Persönlichkeit ihren Kritikern die Fresse polieren.

Lernen ist das Gegenteil zur genialen Selbstherrlichkeit algorithmischer Erfinder und Entdecker, die Zukunft der Menschen solipsistisch zu bestimmen. Lernen ist aber auch das Gegenteil zur hündischen Vergötzung (Verzeihung, ihr liebwerten Hunde) und Unterwerfung unter selbsternannte Jahrhundertgenies.

Inzwischen gibt es biblische Prophetie als Wissenschaft. Öfter mal was Neues – und wenn es die ältesten Klamotten sind:

„Wie wird sich Politik verändern? Oder Musik? Welche Produkte werden Kunden in Zukunft wollen? Damit befassen sich Studenten der Zukunftsforschung. Ihr Wissen ist bei den großen Playern in der Wirtschaft begehrt. Wie werden wir in zehn Jahren leben, oder in hundert?“ Junge Studenten verlockt man aufs Glatteis, indem man Neues verspricht: „Statt sich in einem der Fachgebiete zu vertiefen, wollte er lieber neue Methoden lernen. Es habe ihn fasziniert, „etwas zu erforschen, was es nicht gibt.“ (SPIEGEL.de)

Geht es noch wahnwitziger? Erforschen kann man nur, „was es gibt“. Erforschen ist Erkennen der Wirklichkeit, die wir nicht nach Belieben phantasmagorieren können. Erkennen ist Wahrnehmen der Objektivität. Alles andere ist Fiktion, Kunst – oder Glauben. „Glauben ist eine Zuversicht auf das, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht.“

Zu vorsichtigen Prognosen ist man berechtigt, wenn man weiß, wie die jetzigen Dinge laufen. Vorausgesetzt, sie verändern nicht ihre Fließrichtung und Fließgeschwindigkeit, lassen sich diverse Hochrechnungen des Bestehenden für die allernächste Zukunft machen. Immer ohne Gewähr, wie man bei Voraussagen von Wahlergebnissen oft genug beobachten kann.

Die Wissenschaft lässt alle Rationalität fahren und erniedrigt sich zur Prophetie. Tiefer kann der Fall der ratio nicht sein, die einst dadurch entstand, dass sie Abschied nahm von allen magischen und traumtänzerischen Fähigkeiten. Die Spökenkieker der Zukunft wollen selbst entwerfen, was sie prophetisch schauen. Hier ist die Gottähnlichkeit der Moderne auf den obszönsten Punkt gebracht.

Der Mensch kann nur erkennen, was er selber macht, hatte der italienische Philosoph Vico erklärt. Ich erkenne, was ich selber herstelle. Warum fehlt der Menschheit dann aber die Erkenntnis über den ganzen Kladderaddatsch, den sie bisher in Eigenregie zusammenpfuschte? Selbst, wenn er erkennen würde, was er selber tut: wie will er dann die Natur erkennen, die er nicht selbst erschaffen hat? Bliebe nur die Möglichkeit, die fremde Natur zu zerstören, damit er sie durch ein eigenes Produkt ersetzen kann. Erkennen und selbst fabrizieren wären dann eine Einheit. Er sollte sich aber nicht wundern, dass er beim Zerstören der Natur auch seine eigene Gottähnlichkeit vernichten würde.

Es begann mit Descartes: ich denke, also bin ich. Vico machte es konkreter: ich stelle her, also erkenne ich. Kant erschuf nicht das unerkennbare Ding an sich. Doch ohne Prägung des Dings durch menschliche Kategorien wäre die Welt ein unerkennbarer Klumpen. Der deutsche Idealismus ließ sich in Gottähnlichkeit von niemandem mehr übertreffen: Ich setze mich – und also setze ich die Welt. Was wäre die Welt ohne mich? Solange es mich gibt, hat die Welt eine Chance. Sollte es mich nicht mehr geben, wäre das Universum verloren.

Im Denken hatten die Deutschen bereits die Welt erfunden, geprägt und erobert, lange, bevor sie dieselbe mit Gewalt zu beherrschen suchten. Mit vernünftiger Philosophie haben solche theologischen Spekulationen nichts zu tun.

Nun also beginnt die Wissenschaft, dem lieben Gott in die Karten zu gucken. Wie stets mit Bewunderung vom SPIEGEL unterstützt, der sich angeblich der Aufklärung verpflichtet fühlt. Wir brauchen keine ordinären Fake News. Die Wissenschaften produzieren sie täglich in szientifischen Maskeraden. Der Wiener Positivismus, der streng wissenschaftlich sein wollte, verfiel schnell in Bewunderung aller schamanischen Zauberkünste dieser Welt.

Wie immer geht es um Ideenproduktion für die Industrie, die sich Anregungen für ihre Marktprodukte erhofft. Wissen ist Macht. Vorauswissen ist Übermacht. Selbst über Unvorstellbares wollen sie nachdenken. Ein Blick in heilige Schriften würde genügen, um ihnen Stoff über Unvorstellbares en masse zu liefern.

Beim Nächstliegenden aber versagten sie jämmerlich: „Eine Entwicklung hat Steinmüller vor Jahrzehnten nicht vorhergesehen: «Die friedliche Revolution in der DDR».“ Doch was sind das für unbedeutende Marginalien – im Vergleich mit Unsterblichkeitsmaschinen und Intelligenzbestien aus den Laboren der Zukunftsheroen?

Es sind quietistische Unterwürfigkeitsfragen, die gestellt werden. Wie wird Politik sich verändern? Oder Musik? Die Fragen lauten nicht aktivistisch und energisch: Welche Politik wollen wir? Welche Politik sollten wir wollen, um die Erde für den Menschen zu retten? Der Liberalismus – besonders der Neoliberalismus – bläht sich als die größte Freiheitsepoche der Weltgeschichte. Das blanke Gegenteil ist richtig. Die Grundelemente unseres Daseins werden von einer Handvoll Größenwahnsinniger bestimmt – und wir nicken ergeben mit den Köpfen.

Ja, als Deutsche fühlen wir uns privilegiert, wenn wir die Zukunftsdespotien von Silicon Valley besonders enthusiastisch bejubeln. Damit bejubeln wir unsere eigene Knechtschaft. Propheten waren Knechte Gottes, die tun mussten, was ihnen auferlegt wurde. Nicht wenige murrten und taten ihren Dienst in innerlicher Empörung.

Wie wildgewordene Schüler schnalzen die Deutschen mit dem Finger, wenn es um die Aufgabe geht, in Kalifornien Lehr- und Wanderjahre in höherer Prophetie zu absolvieren. Die Knechtischsten der Knechte sind Industrielle, die alles unter dem Aspekt des Profitemachens betrachten. Hauptsache, Ideen lassen sich in Produkte verwandeln. Die japanischen Eliten sind nicht mehr willens – oder nicht mehr fähig-, ihren Frauen Lust zu bereiten. Was macht die Entwicklung mit uns? fragt der SWF die nächste Woche, wenn Sexmaschinen den menschlichen Partner überflüssig machen?

Eine der Lieblingsfragen deutscher Interviewer: Was macht das mit dir? Alles passivisch. Alles fatalistisch. Alles seinsgehorsam. Natürlich bestimmt das Sein das Bewusstsein, wenn das Bewusstsein zuvor den Löffel abgegeben hat. Womit wir wieder bei den Armen wären, die es bei uns nicht geben darf. Denn sie erwecken den Eindruck, sich den Fortschrittszwängen, pardon den Zukunftschancen, bocksbeinig zu widersetzen. Also müssen sie ins Korsett der Freiheit zurückgezwungen werden.

Der INSM-Funktionär hat keine Hemmungen, philosophische Begriffe in den Mund zu nehmen: es käme darauf an, den aus Trägheit oder Bosheit Schuldigen wieder zur Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Teilhabe zurückzuführen. Das klingt besonders attraktiv, wenn die 4.0 Revolution bevorsteht, die fast alle Arbeitsplätze der Weltwirtschaft vernichten wird. Die doofen Massen dürfen dann zugucken, wie sie auf die Straße gesetzt werden.

Doch halt: Selbstbestimmte erkennen sofort ihre Chancen, kreativ zu werden; Eigenverantwortliche reißen sich am Riemen und gehen putzen, Teilhabende flanieren auf dem Ku‘damm, um am Flair der Welt zu partizipieren.

Freunde, wir gehen unvergleichlichen Zeiten entgegen. Wären die Armen wirklich die heimlichen Rebellen, würden sie das Stigma der Schuldigen mit Karacho zurückweisen und den Behörden den Hobel ausblasen. Armut ist ein Glanz von innen: daraus sollte man eine Transparenzmaschine konstruieren. Bevor wir das Thema unvermittelt abbrechen müssen, noch schnell etwas zum Meditieren:

„Der Mensch ist sich auch dessen bewusst, dass sein eigenes Interesse mit dem Gedeihen der Gesellschaft enge verknüpft ist, und dass die Glückseligkeit, ja vielleicht die Erhaltung seines Daseins von ihrer Erhaltung abhängt. Deshalb hegt er einen Abscheu gegen alles, was dahin zielen kann, die Gesellschaft zu zerstören, und ist bereit, sich jedes Mittels zu bedienen, das ihm ein so verhasstes und schreckliches Ereignis zu verhindern vermag. Ungerechtigkeit aber wirkt mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft zu zerstören. Darum versetzt ihn jede Handlung, in der sich Ungerechtigkeit kundgibt, in Unruhe und er eilt, sozusagen einen Prozess zu hemmen, der, wenn man ihn um sich greifen ließe, rasch allem, was ihm teuer ist, ein Ende bereiten würde. Kann er ihn nicht durch sanfte und ruhige Mittel Einhalt tun, muss er ihn mit Gewalt niederschlagen.“

Hoppla, wer hätte vom sanftmütigen Adam Smith solche rabiaten Töne erwartet? Wenn nicht anders, – mit Gewalt gegen Silicon Valley? Das wäre ein terroristischer Akt gegen den ganzen Westen. Könnte es sein, dass die Unzufriedenen dieser Welt deshalb solche Rabauken wie Trump zum Heros küren, weil sie all diese Systemzwänge schlechterdings nicht mehr ertragen? Auch wenn sie die Gründe ihres kulturellen Unbehagens nicht präzis benennen können?

Würde diese These stimmen, wäre unser kollektives Es am Ende der westlichen Illiberalität angekommen – auch wenn es sich als grenzenloser Fortschritt kostümiert. Wie erklären wir aber, dass solche forschen Widerstandstöne im zweiten Buch von Smith, dem Urbuch des modernen Kapitalismus, kaum noch vorkommen? Was ist geschehen zwischen dem warmen Lobredner auf die Sympathie der Menschen und dem Tauschtheoretiker, der davor warnt, der Nächstenliebe der anderen zu vertrauen?

Nach Adam Smith I haben wir Gerechtigkeit längst verfaulen und verkommen lassen. Die Gesellschaft ist zerstört. Auch wenn wir alles unternehmen, die Yesterday People durch Ausschließen und Stigmatisieren an die Ränder der Städte zu verjagen und unsichtbar zu machen.

Die Debatte um Armut wird unter Abwesenheit der Objekte geführt. Zahlen werden heruntergerasselt. Die Selbstschilderung der Betroffenen interessiert keinen Schreibtischtäter, der jedes Jahr einmal seinen Alibi-Bettler am Wegesrand sieht. Niemals eine alleinerziehende Mutter, die sich mit Ach und Krach durchschlägt. Niemals jene Abgestürzten, die sich vergraben und verstecken, weil sie sich schämen. Bei jedem Thema heißt es bei den Fakten-Anbetern: und dann machte ich mich auf und fuhr quer durch N-Amerika gen Alaska. Warum keinen Spaziergang ins nächste Armenviertel? Oder wissen die Elitenschreiber nicht mehr, wo sie zu finden sind?

Von den utopischen Sozialisten in Frankreich wollte Marx partout nichts wissen Sie waren ihm zu schwärmerisch, zu moralisierend, zu wenig wissenschaftlich. Deshalb ein abschließendes Zitat von Proudhon. In seiner ersten Abhandlung über das Eigentum schrieb er:

„Gerechtigkeit ist die Anerkennung des Anderen als einer der unseren rechtsgleichen Persönlichkeit. Sie ist die freiwillige und gegenseitige Achtung der menschlichen Würde, wo immer, in welcher Person und unter welchen Umständen auch immer sie gefährdet sei, und welchen Gefahren auch immer uns ihre Verteidigung aussetze.“ (Nach Gide, Rist, „Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen“)

Von Marx kann man nichts lernen, außer Feinden und unbotmäßigen Freunden die Köpfe abzuschlagen. Von Proudhon können wir lernen, dass wir in einer der ungerechtesten und menschenfeindlichsten Epochen der Weltgeschichte leben. Was folgern wir daraus?  

 

Fortsetzung folgt.