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Tagesmail

Weltdorf LXXV

Hello, Freunde des Weltdorfs LXXV,

schon seit 2004 konnte man wissen, wie Abgaswerte bei Autos verfälscht wurden.

Seit Jahrzehnten schon hätte man vom bevorstehenden afrikanischen Exodus der Flüchtlinge wissen können.

Seit Jahrzehnten kennt man die Gefahren der Klimakatastrophe.

Seit über 200 Jahren weiß man von den Verwüstungen des Kapitalismus.

Schon seit Jahrzehnten wird die Türkei von der EU als nicht-christlicher Staat stigmatisiert und Erdogan auf die Bahn eines Despoten gedrängt. Wie lange unternimmt er seitdem alles, um eine einst vorbildliche muslimische Demokratie in eine Diktatur zu verwandeln? Wie lange schon lässt er kritische Geister ins Gefängnis werfen? Es war abzusehen, dass er die Schraube anziehen wird, um die Geisel Deutschland immer mehr zu erpressen.

Die deutschen Medien aber geben sich überrascht. „Wir sind sprachlos“, durfte Ulf Poschardt – Chefredakteur der WELT – der Republik auf allen Kanälen mitteilen. Sprachlos, dass der Bösewicht tat, was Bösewichter zu tun pflegen. Denis Yücel sitzt auf unbestimmte Zeit im türkischen Knast. Große Empörung, vor allem so originell: Wir sind Yücel, skandierte Döpfner in der WELT.

Fast keine Empörung über das bayrische Vorhaben, Gefährder – ganz nach dem Vorbild Erdogans – willkürlich lang einzusperren:

„Die CSU erwägt einen ungeheuerlichen Tabubruch: Sogenannte Gefährder sollen beliebig lange in Haft bleiben. Damit stellt die Staatsregierung die

Unschuldsvermutung auf den Kopf.“ (SPIEGEL.de)

Pfusch-Harmonie sind die Kennzeichen der deutschen Republik. Die Kanzlerin ist die oberste Pfuscherin – getragen von der harmonistischen Sehnsucht ihrer Untertanen. Mit ihren blitzgescheiten Kindern kann sie nicht reden. Da fehlen alle Fähigkeiten, über Adornos negative Dialektik, das Sein an sich, Luhmanns Systemtheorie und die postmoderne Genderideologie in gepflegtem Nasalton zu „kommunizieren“. Macht nichts, das erhöht die Schutzwürdigkeit von Muttern. Ist sie doch fähig, unter Aufbietung aller Kräfte jeden Tag eine warme Suppe auf den Tisch zu stellen – und sich still und demütig zu entfernen.

Rationale Politik ist im Portefeuille des christlichen Westens nicht vorgesehen. Je präziser und quantitativer sie in Maschinen und Mammonismus sind, je pfuschender sind sie in allen Angelegenheiten, die man nicht zählen und berechnen kann. Also in humaner Politik.

Rationale Politik erkennt man daran, dass die beiden Urfragen gestellt werden: Welche Probleme haben wir? Wie können wir sie lösen?

Eine Aufzählung der wichtigsten Probleme interessiert heute niemanden. Eine Lösung derselben wäre wie ein Schlag gegen die Gottheit, von deren Wohlwollen das Schicksal ihrer Lieblinge abhängt. Merkels Politik ist Pfusch – auf heilsgeschichtlicher Basis. Das Los der Menschheit grundlegend zu verbessern, wäre wie eine Misstrauenserklärung gegen den Himmel. Pfusch am Bau der Menschheit ist Gehorsam gegen den Allmächtigen. Sich pfuschend durchwurschteln, bis der Herr kommt, ist das Signum lutherischer Politik. Für Augustin, Luthers Lehrer, ist die Welt das Reich des Teufels, dessen Vernichtung das Privileg des kommenden Messias bleiben muss. Bis dahin muss mit dem „Tausendkünstigen“ gerauft und gepfuscht werden.

Wie kommt es nur, dass sie sich beim Pfusch am Bau so rational vorkommen? Weil sie sich anderen Nationen überlegen fühlen. Wirtschaftlich gelingt ihnen alles. Warum sollte das nicht für ihre gesamte Politik gelten?

Deshalb folgt dem misslungenen Pfusch oft das Wörtchen: „überraschend“. Oder „plötzlich und unerwartet“. Überraschend verhält sich Erdogan wie Erdogan. Das konnte man in Deutschland nicht wissen. Merkel hat sich ihm in der Flüchtlingsfrage völlig ausgeliefert: überraschend, dass der Fuchs vom Bosporus die Ohnmacht der Magd Gottes nach allen Regeln der Kunst für sich ausnutzt.

Merkel sah die Flüchtlinge täglich den Balkan durchqueren. Doch niemand reagierte in der EU, um das Problem zeitnah oder prophylaktisch zu lösen. Sie belauerten sich, wer die erste Schandmauer errichten würde. Nach der samaritanischen Erleuchtungstat kehrte Merkel – unter Wahrung der Schamfrist – zurück zu ihrer früheren Brutalopolitik. Da kam ihr Erdogan wie gerufen, der sich anbot, die ungeliebten Massen in grenznahen Lägern aufzunehmen.

Damit hatte sich Merkel dem Tyrannen bedingungslos ausgeliefert. Der fand Gefallen an der Peitsche, die Merkel ihm überreichte, um die Europäer nach Belieben zu züchtigen. Seitdem duckt sich die Meisterin des Pfuschs, um ihren Retter nicht unnötig zu provozieren.

„Enttäuschend und bitter“: mit diesen pietistischen Worten aus der pastoralen Selbsthilfegruppe, reagierte Merkel auf die Verhaftung des WELT-Korrespondenten. Keine scharfe und unmissverständliche Kritik an der Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit. Die Kanzlerin spielt das empfindsame Weibchen, dem nur ihre eigenen Seelenregungen wichtig sind. Politische Kritik ist ihr verboten – in diesem Punkt wird sie von allen Medien in Schutz genommen. Schließlich sind wir auf Erdogan angewiesen und müssen diplomatische Regeln einhalten.

Merkel feiert den Reformator, der dem Volk aufs Maul schaute und auch sonst keine Probleme hatte, brachiales Deutsch zu reden. Das hält sie nicht davon ab, die Sprache der Unterwürfigkeit zu säuseln. Jetzt fehlte gerade noch, dass Erdogan in den Ruhrpott eilen würde, um auf deutschem Boden für seine Autokratie zu werben. Dazu Bommarius in der BLZ:

„Die deutschen Behörden beteuern, angesichts dieser Reisepläne Erdogans hätten sie zwar „Bauchschmerzen“, doch seien ihnen durch das geltende Recht die Hände gebunden, ein Auftrittsverbot also unmöglich. Dann muss die Entscheidung eben von der Politik, von der Bundesregierung getroffen werden. Sie darf nicht akzeptieren, dass der angehende Diktator die Meinungs- und Versammlungsfreiheit des Grundgesetzes missbraucht, um für ein Referendum zu werben, mit dem die Abschaffung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der Türkei auf unabsehbare Zeit irreversibel wäre.“ (Berliner-Zeitung.de)

Unter Bauchschmerzen ja, so könnte die geplagte Mutter der Nation den Besuch Erdogans kommentieren. Da es den Deutschen gut zu gehen scheint, empfinden sie jedes Wölkchen am Himmel als „überraschend, plötzlich und unerwartet.“ Wie kann es der deutsche Gott wagen, seine friedlich im Tiefschlaf malochenden Schäfchen mit unvorhersehbaren Nackenschlägen zu überraschen?

Merkels Politik kann nicht scheitern, denn es gibt keine Merkelpolitik. Stellen wir uns vor, die Wirtschaft läge am Boden und könnte der Nation keinen Halt bieten, dann entlarvte sich ihre nichtexistente Politik auf der Stelle als Flop. Längst hätte man sie gepfählt und davongejagt. Das Wohlgefühl der kapitalistischen Epoche besteht ausschließlich aus dem Herunterrasseln von Konjunkturzahlen.

Das Funktionieren der Wirtschaft ist nicht Merkels Verdienst. Ängstlich ist sie nicht vor deutschen Din-A4-Männlein, die sie allein durch ihren sanften Gorgonenblick entsorgt. Vor echten Machos aus der Fremde aber geht ihr Selbstgefühl auf Grundeis. Weshalb sie auch vor Trump sofort in die Knie ging: Beschlüsse müssen gehalten werden, erklärte sie gehorsam, um den Zorn des Großen Bruders nicht zu erregen.

„Aber wie verhält es sich eigentlich mit jenen 0,7 Prozent des BIP für die Entwicklungshilfe, zu denen sich die Industrieländer schon seit langem verpflichtet haben? Das findet die Bundesregierung nicht ganz so wichtig, dafür sind derzeit nur 0,4 Prozent des Kuchens übrig. Was im Übrigen mit dazu führt, dass immer mehr Flüchtlinge aus den betroffenen Länder ihr Heil im Norden, nicht zuletzt in Deutschland, suchen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Mit den Schwachen kann man‘s ja machen. Nach oben buckeln. Das ist preußisch-klerikale Dienstauffassung.

Plötzlich googeln wir Menschenrechte“, schreibt Margarete Stokowski. Als ob man in behäbigen Zeiten vergessen dürfte, was Völker-und Menschenrechte sind. Muss man Krisen und Notstände herbeibeten, um sich zu erinnern, dass wir in einer Demokratie leben?

„Wieso plötzlich so viele Menschen den größten Irrsinn glauben“, ist ein SPIEGEL-Artikel über Verschwörungstheorien überschrieben. Einem Experten stellen sie die Frage:

„Wieso sind plötzlich so viele Leute bereit dazu, den größten Irrsinn zu glauben?“ (SPIEGEL.de)

Plötzlich glauben viele Leute den größten Irrsinn? Kann es noch eine bizarrere Frage geben, als in einer religiösen Kultur nach einem Irrsinns-Glauben zu fragen?

Der größte Irrsinn aller Zeiten besteht in der Mär, ein allmächtiger Mann, der sich Gott nennt, habe die Erde aus Nichts erschaffen. Ein fast gleichmächtiger Mann, der sich Teufel nennt, damit die Kreaturen vor ihm zittern, würde um die Seelen der Kreaturen gegen seinen göttlichen Rivalen einen Vernichtungskampf führen. Ein Sohn des ersteren würde auf die Erde kommen, sich zum Scheine töten lassen – um glorios aufzuerstehen und gen Himmel zu fahren. Eines unbestimmten Tages würde er wiederkommen, um die Erde zu vernichten, eine neue aus dem Hut zaubern, die Seinen dem Himmel und die anderen der Hölle ausliefern. Bis heute ist er noch nicht vorbeigekommen, macht aber nichts. Glauben und Hoffen müssen sich an unlösbaren Aufgaben bewähren. Amen.

Eine irrwitzigere Verschwörungstheorie ist noch nicht erfunden worden. Himmel und Erde wurden zu keinem anderen Zweck erschaffen, als einer Handvoll Leuten das Heil zu sichern, und den Massen der Massen das ewige Feuer.

Noch abenteuerlicher ist die Antwort des Experten:

„Weil Verschwörungstheorien den Zufall beseitigen und dem Einzelnen die Chance geben, eine simple Erklärung für etwas zu finden, was ihn nervt, verängstigt oder belastet. Wir alle haben schon mal auf ein Ikea-Regal eingeschlagen, weil wir es nicht zusammengekriegt haben, und den Leuten, die die blöde Bedienungsanleitung geschrieben haben, böse Absicht unterstellt. Verschwörungstheorien erlauben, mit dem Finger auf Schuldige zu zeigen. Das können dann wahlweise die Politik, die Medien oder auch die Flüchtlinge sein.“

Denken ist Reduktion kognitiver Dissonanz. Wer keine Dissonanzen und Widersprüche wahrnimmt, das Rätselhafte der Realität nicht bemerkt, von keinem Erkenntnishunger angetrieben wird, um sich ein Bild zu machen über die Welt, der weiß nichts von der Freude des Strebens nach Wahrheit.

Verschwörungstheoretiker gehören zu den kritischsten Geistern, die sich ihre Zweifel nicht ausreden lassen, bis sie glauben, eine Antwort gefunden zu haben. Fast alle großen Geister galten anfänglich als Verschwörungstheoretiker, deren verrückte Thesen auf vehemente Abwehr stießen, bis sie nach vielen Jahren und heftigen Kämpfen in den Konsens der Wissenschaft aufgenommen wurden.

Erscheint ein revolutionärer Denker, der die Paradigmen seiner Zeit auf den Kopf stellt, so müssten – sagte Max Planck – erst die Platzhirsche der Wissenschaft aussterben, damit sich die neuen Erkenntnisse durchsetzen könnten.

Newton stellte die für seine Zeit unerhörte These auf, dass Himmel und Erde denselben Gesetzen gehorchen würden. Bis dahin galt die aristotelische Trennung des Kosmos in eine Welt oberhalb und unterhalb des Mondes (supralunar und sublunar). Über dem Mond sei alles vollkommen, unterhalb würde minderwertige Materie für Zufälle und Ungereimtheiten sorgen.

In der Stoa hingegen galt: der Kosmos ist perfekt, Zufälle gibt es nicht. „Nur die Begrenztheit menschlichen Wissens nimmt zu diesem Namen ihre Zuflucht, wenn sie die Ursache nicht erkennt.“ (Max Pohlenz, Die Stoa)

Der phänomenale Stoiker auf dem römischen Thron, Mark Aurel, wollte sein Leben so einrichten, dass er dem Zufall keine Chance ließe. Denn Zufall hieß: hier hat der Kosmos ein irrationales Loch. Ein Mensch, der sich dem Zufall überließe, würde seine Vernunft verraten.

Nach Hayek, dem vernunftfeindlichen Neoliberalen, wird der überkomplexe Markt von Zeit und Zufall regiert. In den Augen der Stoiker wäre dies ein Plädoyer für Irrsinn und Unvernunft. Wer seine Moral leichtsinnig dem Zufall unterstellte, hätte keine selbstbestimmte Moral. Er würde sein Mäntelchen nach dem Wind hängen.

Nun ist ein großes Getöse um die Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs entstanden, auf die sich eine ganze Chaostheorie beruft. Fragt man nach, ob die Naturgesetze der alltäglichen Wirklichkeit vom Wurmfraß zerstört werden, hört man nur Ausflüchte. Die Wahrscheinlichkeiten – oder mangelhaften Kausalitäten – würden nur für den Nanobereich der Wirklichkeit gehören. In der Tat, wenn es anders wäre, könnte man nicht verstehen, warum sich Flugzeuge zuverlässig in die Lüfte heben, warum programmierte Maschinen sich nicht in teuflische Aliens verwandeln. Das Vertrauen der Menschen in die zuverlässige Natur wäre längst am Boden zerstört. Könnte es sein, dass die Naturwissenschaftler Erkenntnisse gewonnen haben, bei deren philosophischer Deutung sie überfordert sind?

Ständig machen sie neue Entdeckungen im All und auf Erden. Doch was diese Erkenntnisse für unser Leben bedeuten, darüber hören wir nichts. Die Masse der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse haben nur noch einen Sinn: sie sollen in Macht verwandelt werden. Wissen ist Macht und sonst nichts.

Vielleicht hatte Sokrates schon zu seiner Zeit gar nicht so unrecht, als er erklärte, die damalige Naturphilosophie sage ihm nichts mehr. Weshalb er sich der Natur seines Selbst zuwandte. Was nützt es mir, das Draußen zu erkennen, wenn ich nicht weiß, welch eine Bestie ich selbst bin. Das war keine subjektive Abwendung von der Natur, sondern von grenzenlosen Außenerkenntnissen, die dem Menschen keinen Aufschluss mehr über ihn selbst geben.

Die Wissenschaftsredakteure der Medien sind Sensationsspezialisten geworden, die stets ein groß Geschrei anstimmen. Doch am Ende ihrer Artikel ist man so klug als wie zuvor. Neue erdähnliche Planeten wurden entdeckt. Hoffnung für die Elon Musks dieser Welt, mit siegessicherem Grinsen der Menschheit – sprich: zwei Hanseln – eine jenseitige Sternenexistenz zu sichern. Liest man nach, wissen sie über die neuen Sterne fast noch nichts. Eine Reise dorthin würde länger dauern, als die Menschheit bereits auf Erden existiert.

Ist das Ganze Irrsinn, so hat es doch Methode: die Methode der Vernebelung des kritischen Denkvermögens. Verglichen mit diesen interstellaren Phantasmagorien sind irdische Verschwörungstheorien die reinsten Vernunft-Paradigmen.

Verschwörungstheoretiker bemerken die Ungereimtheiten diverser Groß-Meldungen – und rasten und ruhen nicht, bis sie diese Ungereimtheiten zu ihrer Zufriedenheit ausgeräumt haben. Natürlich müssen sie nicht Recht haben. Wieso aber wissen die Schwätzer der Gegenseite a priori, dass sie Unrecht haben müssen? Sind sie Gott, der ohne Untersuchung seine Schöpfung in- und auswendig kennt?

Der Allwissenheitswahn der Kritiker ist absurder als alle Erkenntnisse der Verschwörungstheoretiker zusammen genommen. Bis heute weiß niemand, wer John F. Kennedy erschossen hat? Nur den Präsidenten der mächtigsten Macht der Welt? Soll das ein Scherz sein?

Angesichts der zunehmenden Vernetzung der Superreichen soll man annehmen, die Mächtigen würden keine Strategien entwickeln, um den „Krieg der Reichen gegen die Armen“ (Warren Buffett) zu gewinnen? Zumal die Welten der Eliten immer anonymer und undurchsichtiger werden?

Wer zur Bilderberg-Konferenz eingeladen wird, muss zuvor Verschwiegenheit geloben! Wenn Merkel zum SPIEGEL-Fest kommt, wird verheimlicht, was sie den Redakteuren im Kabinett zuflüstert. Und all diese Versteckspiele dreist coram publico. Schaut her, wir gehören zu jenen Schichten, die Zugang haben zum Allerheiligsten, die Massen haben vor dem Tempel zu bleiben. Adam Smith wollte den Kapitalisten, die sich auf privater Ebene begegnen, verbieten, dass sie im Hinterzimmer verschwiegene Geschäfte ausbaldowern.

Was noch vor Jahren als Verschwörungstheorie galt, ist inzwischen nicht selten zu einer trivialen Wahrheit geschrumpft. Wer früher die Wallstreet als dämonisches Zentrum der Weltwirtschaft bezeichnete, rennt heute mit derselben Meinung offene Türen ein. Das Maß an hintergründigem Intrigantentum der Mächtigen kann vermutlich gar nicht überschätzt werden. Gewiss, Verdächtigungen allein genügen nicht. Das Verbot von Verdächtigungen aber auch nicht.

Ein Verdacht ist eine Hypothese. Hypothesen können richtig oder falsch sein. Wer von vorneherein jede Hypothese mit dem Vorschlaghammer einer „Verschwörungstheorie“ erschlägt, sollte sich prüfen, was er selbst zu verheimlichen hat. Anstatt Verschwörungstheorien in Pro und Contra penibel zu debattieren, kommen selbstgefällige Experten, die – wie einst priesterliche Exorzisten den Schwefelgeruch des Teufels witterten – einer abenteuerlich klingenden Behauptung von weitem die psychotische Abstammung ansehen.

Von simplen Erklärungen kann in den meisten Fällen keine Rede sein. Die Rechercheure knien sich mit Leidenschaft in die kleinsten Details des Untersuchungsobjekts. Sie können völlig daneben liegen. Aber auch Kopernikus, Kepler, Galilei und Einstein galten anfänglich als verrückt, ja, wurden als Ketzer verfemt.

Für intelligente Menschen ist es völlig natürlich, für alles, was einen ängstigt, nervt oder belästigt, Erklärungen zu suchen. Das nannte man einst Denken und Forschen oder Suchen nach der Wahrheit. All dies wird im ekligen Zusammenhang von Verschwörungstheorien der Lächerlichkeit preisgegeben.

Selbstverständlich ist Wahrheitssuche die Suche nach Ursachen oder Schuldigen. Was wäre ein Kommissar, der es ablehnte, den Schuldigen einer kriminellen Tat zu suchen?

Nun entlarvt sich der Antiverschwörer bis auf die Knochen: Politik und Medien sollen per se an allen Dingen schuldlos sein! Wir haben es hier mit einer obszönen Exkulpationstheorie zu tun. Eliten, ihr seid an nichts schuldig. Jeder Finger, der auf euch weist, ist ein Finger aus dem Verrücktenkabinett. Eine fulminantere Weißwaschung derer, die die Macht haben, hat es noch nie gegeben.

Nur Eliten können schuldig werden, denn sie allein haben die Macht zur Gestaltung der Wirklichkeit. Nur in einem Punkt kann auch das Volk schuldig werden: wenn es widerstandslos die Eliten den Karren in den Sumpf fahren lässt.

Doch das allein genügt dem Experten nicht. Im Zuge des universell herrschenden Narzissmus wird der kritische Geist als Profilneurotiker attackiert:

„Aber mit Verschwörungstheorien kann sich der Einzelne zudem aus der Masse herausheben, weil er derjenige ist, der versteht, wie der Hase läuft. Wenn ich weiß, wer wirklich die Welt regiert oder was wirklich hinter den Kondensstreifen von Flugzeugen steckt, dann bin ich was Besonderes.“

1. Jeder Mensch ist von Natur aus etwas Besonderes. 2. Wenn es ihm gelänge, ein wichtiges Rätsel der Menschheit aufzuklären, hätte er seiner natürlichen Besonderheit die Besonderheit des Tüchtigen hinzugefügt.

Unfasslich, dass überall die Bevölkerung aufgefordert wird, etwas Besonderes werden zu sollen – sei es als Unternehmer, Erfinder oder Mondfahrer. Gerade dieser Wille nach Erkenntnis wird ihm hier als Eitelkeit der Eitelkeiten angerechnet.

„Sind Sie geeignet, ein Superreicher zu werden?“ fragte vor Tagen der SPIEGEL in einem Artikel über die Psyche der Erfolgreichen. Man wäre kein Mensch, wenn man in seinem Leben nichts Besonderes werden wolle.

Das sind die verborgenen Konditionierungen der Bevölkerung durch die Medien – die oft selbst nicht wissen, dass sie ihr Publikum durch paradoxe Interventionen verwirren und am eigenen Nachdenken hindern. Heute Hü, morgen Hott: Hauptsache, der Pöbel wird systematisch weich gekocht und an sich irre gemacht.

Wie unterscheidet man berechtigte Kritik von unberechtigter?

„Man kann ganz berechtigte Kritik an TTIP oder Stuttgart 21 üben. Aber wenn man dahinter die große Verschwörung postuliert, macht man es den Mächtigen leicht, die Einwände beiseitezuwischen. Dann muss man sich mit Details gar nicht beschäftigen.“

Ohne sich in die Materie einzuarbeiten, weiß der Experte von weitem, wo die berechtigte Kritik an einer Sache endet und die unberechtigte beginnt. Wer sind die Leidtragenden? Nicht die Eliten mit ihren Finessen und Rankünen – die sie an anderer Stelle gar nicht verleugnen –, sondern die kleinen NGOs, die sich mit erstaunlicher Leidenschaft und mühsam erworbener Sachkenntnis in die Materie eingearbeitet haben. Wer die öffentlichen Debatten um Stuttgart 21 unter der Leitung eines überforderten Heiner Geißler gesehen hat, weiß, wovon die Rede ist. Heute geben die Verantwortlichen zu, dass viele Ziele ihres Projektes mit hoher Wahrscheinlichkeit unrealisierbar sind. Nicht zuletzt wegen Stuttgart 21 ist Ex-Bahn-Chef Grube zurückgetreten.

Doch nun mit Donnerhall zu des Pudels Kern.

„Eine These ist, dass Verschwörungstheorien das Sinndefizit auffüllen, das die Aufklärung geschaffen hat. Also eine Reaktion auf die Entzauberung der Welt sind. Im 18. Jahrhundert schwand der Glaube an den göttlichen Schöpfungsplan, wo alles letztlich Sinn ergibt, auch wenn er sich dem Einzelnen nicht immer erschließt. Also muss da jemand anderes sein, der lenkend in die Welt eingreift. An die Stelle Gottes traten die Verschwörer.“

Warum gibt es die Seuche der Verschwörungstheoretiker? Weil diese Phantasten es wagen, nicht an Gott zu glauben. Würden sie blind und vertrauensselig glauben, ließen sie das sündige Nachbohren und würden sich zufrieden geben, dass alle Dinge der Welt in Gott begründet sind. Wer diesen Kinderglauben besitzt, muss keine absurden Vermutungen über schuldige Eliten aus dem Ärmel ziehen.

Der Unglaube ist die Quelle eines satanischen Wissenwollens. Mensch, begnüge dich mit dem Grundsatz deines infantilen Glaubens, dass Gott alles in allem sei. Die Aufklärung ist der Ursprung aller krankhaften Neugier. Das ist ein Rückfall zu Augustin, dem theologischen Verächter der griechischen Neugierde:

„Für Augustin ist curiositas – Neugierde – Teil der Augenlust, die nichts anderes ist als ein sündiger Selbstgenuss des Menschen. Die autonome Fähigkeit des Menschen, die Gesetze der Natur zu erkennen, ist ein Akt der „impia superbia“ gegen Gott – einer blasphemischen Überheblichkeit gegen Gott. Neugierde gebraucht die Welt nicht als Instrument zum Heil, sondern als Mittel, sich selbst zu genießen. Damit verhindert sie die „selbstvergessene Anschauung Gottes im seligen Leben. Wer schwierigen, überkomplexen Dinge nachforsche, disqualifiziere sich selbst. Denn Gott offenbart das zum Heil Notwendige in ausreichender Klarheit. Neugierde wird zum Laster, weil sie versucht, sich von der Offenbarung unabhängig zu machen.“ (Nach dem Artikel „Neugierde“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie)

Nun offenbart sich die aufklärungsfeindliche pauschale Jagd auf alle Verschwörungstheoretiker: insgeheim hält man sie für Feinde des Glaubens. Die Botschaft ist klar: Pöbel, such nicht nach Ursachen und Schuldigen, schon gar nicht bei den führenden Klassen. Es gibt keine Obrigkeiten, die nicht von Gott wären. Augustin hätte sich auf Paulus berufen können:

„Denn es steht geschrieben: „Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.“ Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? Denn dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben.“

Der SPIEGEL, der sich, laut Chefredakteur Brinkbäumer, der Aufklärung besonders verpflichtet fühlt, weiß entweder nicht, was Aufklärung ist. Oder die Linke in der Redaktion weiß nicht, was die Rechte tut. Sollte die heutige Wissenschaft ähnlich denken wie der Verschwörungsexperte im SPIEGEL-Interview, wüssten wir, warum sie nur noch sinnlose und vernunftfeindliche Sensationen liefert.

Warum gibt es keine rationale Politik? Weil keine Ursachen, Schuldigen und Verantwortlichen zugelassen werden. Stets werden alle Spuren sorgfältig verwischt mit dem Hinweis, alles sei undurchdringlich und überfordere den Verstand des Pöbels. Lösungen zu finden, indem man Ross und Reiter bei Namen nenne, sei zu einfach. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, mit seiner jämmerlichen Vernunft sein Geschick auf Erden zu gestalten.

Das, mit Verlaub, ist die Verschwörungstheorie der Gegenwart!

 

Fortsetzung folgt.