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Weltdorf LXXIX

Hello, Freunde des Weltdorfs LXXIX,

streicht die Talkshows. Sie erzeugen Erkenntnisekel. Zirkusvorstellungen mit der Peitsche. Streiten wird zur Trumpelshow mit sorgfältig choreographierten Beleidigungen. Begriffe werden geschändet, bleiben ungeklärt. Wird es interessant, schlägt sofort eine eifersüchtige Moderatorin drein, die es nicht erträgt, dass das Gespräch an ihr vorüberzieht.

Atomisiertes Fragen trennt jeden Redebeitrag von jedem. Die Stimme von oben drängt sich in den geringsten Versuch unmittelbarer Verständigung. Ohne diktatorische Vermittlung darf niemand mit niemandem. Es herrscht ein Okkasionalismus à la Malebranche: spontane Wechselwirkungen zwischen den Menschen sind verboten und werden „durch übernatürliche Beihilfe (assistentia supernaturalis) Gottes hervorgerufen.“ Autoritäre Sprüche – „hier bestimme ich“ – müssen dialogische Inkompetenz vollstrecken.

In einem echten Streitgespräch gibt es keine Moderatoren, die sich anmaßen, oberhalb und außerhalb der Gedankenprüfung zu stehen. Wenn sie glauben, dialogfähiger zu sein, müssen sie Partner des Gesprächs werden. Wer fragt, muss selbst befragt werden. Ein Dialog ist eine klassenlose Gesellschaft. Es gibt kein Monopol auf inquisitorisches Fragen, das sich jeder Prüfung entzieht.

Hier sitzt kein Analytiker oberhalb der Patienten, der seine lächerliche Unangreifbarkeit durch Anonymität schützen muss. Von der freudianischen Therapie haben sie den „doppelt verschanzten Dogmatismus“ übernommen, wie Popper das analytische Gefälle zwischen unfehlbaren Autoritäten und nichtswissenden Patienten genannt hat. Ein kleines Abbild der gesellschaftlichen Kluft zwischen alleswissenden Eliten und dem dumpfen Pöbel, der die Überkomplexitäts-Fähigkeiten der Führungsklassen nicht

bewundern will.

Die Moderatoren sind wie Merkel, die sich auf nichts einlässt und alle Fragen abwimmelt. Mit dem kleinen Unterschied: Merkel verschleiert ihre Inkompetenz durch philosophisch klingendes Schweigen, die Moderatoren verbergen ihre Standpunktlosigkeit durch unablässige Quasselgeräusche. So kokettieren sie zwischen ortloser Neutralität und simuliertem Engagement.

Die pankritisch klingende Haltung, die sich mit nichts gemein machen darf, nicht mal mit der Wahrheit, ist Katzbuckeln vor den herrschenden Mächten, die sie durch Abwimmeln wirklich kritischer Geister schützen müssen.

Konnten wir uns einigen? Haben wir uns genähert? Haben wir dazugelernt? Oder war das ganze für die Katz – und warum?

Solche nüchternen Fragen hört man nicht. Das Gespräch wird nicht besprochen. Die Gesprächsteilnehmer gehen, wie sie gekommen sind: was wäre das für eine Schande, sich vom politischen Gegner überzeugen zu lassen.

Ist es überhaupt möglich, demokratische Probleme durch sorgfältiges Streiten in Bewegung zu bringen, vielleicht sogar zu lösen? Sodass die Zuschauer der Sendung das gute Gefühl erhielten: es ist gut, in einer Demokratie zu leben?

Es ist möglich, Meinungsverschiedenheiten peu à peu zu überbrücken. Es ist möglich, eine irrationale Heilsgeschichte, die alle Menschen domestiziert, in eine rationale Lerngeschichte zu verwandeln, in der mündige Menschen das Steuer über ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Würde des Menschen wird zur Farce, wenn der mündige Mensch bei der Gestaltung seines Lebens nichts zu sagen hat.

Freuds Therapiemethode war vordemokratisch. Die Attitüden der Moderatoren sind eine Mischung aus freudianischen Paschamethoden und verwilderter Mäeutik. Befragte lernen nichts über sich, wenn sie nicht systematisch befragt und mit den eigenen Aussagen konfrontiert werden. Hat man jemals die Rückmeldung gehört: Sie haben sich widersprochen?

Erkenntnissuche ist Aufspüren der eigenen Inkohärenz und deren möglicher Beseitigung durch Verstehen der subjektiven Widersprüche. Das kann nur im kleinen Zirkel geschehen. Ein Urdialog ist das Gespräch zwischen zweien. Talkshows sind aberwitzige Massenveranstaltungen, in denen das intensive Zweiergespräch in ein hektisch-rotierendes Rudelverhalten degeneriert.

In einem 80-Millionen-Volk gibt es sage und schreibe 100 Matadore, die einer öffentlich-rechtlichen Sophistenshow gewachsen scheinen. Nie werden Begriffe geklärt. Nie erhalten die Teilnehmer dieselben Fragen, damit jeder Stellung zum Thema beziehen und die Frontstellung zwischen den Streitenden sichtbar werden kann. Der Verlauf eines Gesprächs kann nicht durch Karteikarten bestimmt werden, sondern durch die zwingende Folge der sich herausschälenden Differenzen. Die Logik der Sache muss entscheiden, nicht die Aperçus einer überforderten Gesprächsleitung.

Versteckter Hass gegen die Vernunft soll zeigen, dass es ein lächerliches Unternehmen ist, Probleme per Diskurs voranzubringen. Es ist aufklärungsfeindlich, den Menschen als sündig vermauerten, keinem Argument zugänglichen Popanz vorzuführen. Erkenntnisekel soll verbreitet werden durch Entlarvung des autonomen Prahlhans‘, der aus eigener Kraft sein Schicksal meistern will.

„Der Psychoanalytiker kann jeden Einwand hinwegerklären, indem er zeigt, dass er das Werk der Verdrängung des Kritikers ist“. (Popper)

Gottgleiche Moderatoren können jedes Argument hinwegerklären, indem sie alles Radikale als herostratische Windmacherei abqualifizieren. Sie wissen von vorneherein, warum Wichtigtuer als Paradiesvögel auftreten müssen, um Schlagzeilen zu produzieren. Die Sucht nach Aufmerksamkeit ist das Äquivalent zum freudianischen Vatermordbegehren.

Besonders sadistisch wird das Schaulaufen, wenn die Medien, die den Kandidaten selbst ins Licht der Scheinwerfer zerrten, ihn hohnlachend wieder ins Dunkel zurückstoßen – mit der hämischen Bemerkung, er sei nichts als ein überforderter Gernegroß. Sie bestimmen, wer nach oben fährt, sie bestimmen, wer abstürzt. Welches Interesse sollten sie an einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft haben, von deren Stagnation sie behaglich leben?

Sie sitzen rund um den Dorfteich und bestimmen, wer im Sumpf quaken darf. Sie begannen in der Rolle der Priester, die einst zwischen Himmel und Erde vermitteln sollten, dann aber die Vermittlung in eine monopolistische Schlüsselfunktion verwandelten.

Erwählte wissen apriori, warum Heiden böse sind: sie sind vom Teufel besessen.

Arier wissen a priori, warum Juden vernichtet werden müssen: sie sind Feinde des Lebens.

Marxisten wissen a priori, warum Klassenfeinde beseitigt werden müssen: sie sind unverbesserliche Ausbeuter.

Analytiker wissen a priori, warum renitente Patienten neurotisch sein müssen: sie haben ihren Ödipuskomplex nicht bewältigt.

Neoliberale wissen a priori, warum linke Reformer Spinner sein müssen: sie wollen sich auf Kosten der Allgemeinheit ein schönes Leben machen.

Fortschrittsfanatiker wissen a priori, warum Kritiker der Technik Maschinenstürmer sein müssen: sie sind zukunftsunfähige Loser.

Eliten wissen a priori, warum der Pöbel anfällig ist für Populisten: er will alles Wesentliche väterlichen Führerfiguren überlassen.

Vermutungen über Mitmenschen sind unvermeidlich, als heuristische Forschungshypothesen geradezu notwendig. Als Mischungen aus Erfahrung und Vorurteil muss man sie dennoch selbstkritisch im Auge behalten. Geht es aber um sachliches Streiten, sind Vermutungen über die Herkunft der Gedanken auszuklammern. Es zählt allein das nackte Argument.

Ob Einstein aus Eitelkeit seine Relativitätstheorie erfand, ist belanglos. Ob jemand seine schrecklichen Kindheitserlebnisse kompensierte, um ein großer Künstler zu werden, ist uninteressant. Warum die Massen Trump wählten, wissen die Medien sofort: die Loser bejammern sich mal wieder.

Wahrheitsaspekte spielen im circus maximus nicht die geringste Rolle. Medien sind Erben der Wissenssoziologie, die alle unerwünschten Äußerungen einer Population zu unbewussten Defiziten ihrer sozialen Klasse reduzieren. Popper kritisiert die Wissenssoziologie, die schon immer wusste, dass man das rationale Element politischer Kritik vernachlässigen kann: „Der soziale Standort des Denkers bestimmt ein ganzes System von Meinungen und Theorien, die ihm als fraglos wahr oder evident erscheinen.“

Den Populisten werfen die Medien vor, sie würden sich anmaßen, die verborgene Meinung des Pöbels in stellvertretender Wortmächtigkeit zur Sprache zu bringen. Aber auch sie wissen stets besser, was die Loser bewegt, als diese selber.

Die neoliberale Zukunftswelt hat keine Erkenntnisprobleme mehr. Die Wirtschaft hat sich einem göttlichen Markt unterworfen, der für sie denkt. Die Mächtigen haben sich der Technik unterworfen, die alle Probleme der Menschheit maschinell lösen wird. Kein Bedarf an Diskurs. Kein Bedarf an Wahrheitssuche. Die Wahrheit der gegenwärtigen Eliten besteht in der Negation aller Wahrheit, die der Mensch sich anmaßt, zu suchen und zu finden.

Warum gibt es keine Debatten mehr? Weil es Google und hochintelligente Roboter gibt. Wozu den eigenen Kopf zerbrechen, wenn es Algorithmen gibt, die uns die archaische Mühe abnehmen? Bald kommen Gehirnforscher, die uns einimpfen, was wir zu denken haben.

Warum gibt es keine Grundlagenforschung mehr? Warum haben sich alle Naturwissenschaften der Wirtschaft unterworfen? Weil sie die Suche nach der Wahrheit an sich als überholt betrachten.

„Doch „reine Erkenntnis“, das Wissen um seiner selbst willen, zielt auf Wahrheit, die unverzerrte Erkenntnis der Wirklichkeit, die nur von dem erkannt werden kann, der keinen Bedürfnissen hörig ist, die stets zu Täuschungen führen. Die freie Forschung wächst aus der Muße, nicht aus der Notdurft des Daseins.“ (Friedrich Wagner)

Sollte Wagner Recht haben, sind wir längst in einer Epoche der Unwirklichkeit gestrandet. Denn die Wirklichkeit zu erkennen, wie sie ist, haben skeptische Philosophen und machthungrige Techniker längst für Nonsens erklärt. Wir erkennen, was wir tun. Was unabhängig von uns existiert, sind Phantome. Weshalb eine unabhängige Natur zerstört werden muss. Streng genommen, kann es gar keine geben. Weshalb wir sie, bevor wir unvermutet auf sie stoßen, beseitigt haben müssen, um nicht in Kalamitäten zu gelangen.

Jetzt wissen wir, warum wir die Muße ausgerottet haben. Hätten wir Muße, kämen wir in Gefahr, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist – und nicht, wie wir sie gerne hätten, um sie vor unseren Karren zu spannen. Die eskalierende Hetze der Gegenwart ist eine Flucht vor der Muße. Somit eine Flucht vor der Wirklichkeit, wie sie unabhängig von uns vorhanden ist.

Das Dogma der Kreativität, die eine Welt aus Nichts erschaffen will, ist der Zwang, alles in unsere Gewalt zu bringen, um unabhängiges Sein zu eliminieren. Wir wollen es nur noch mit uns selbst zu tun haben. Das ICH muss kosmischen Ausmaßes sein, damit es niemandem begegnen kann, das nicht ICH wäre. Bei Fichte stand das Ich noch einem Nicht-Ich gegenüber. Das Ich der Moderne will es nur noch mit dem eigenen Spiegelbild zu tun haben. In seiner gigantischen Aufgeblasenheit ist es xenophob geworden.

Wenn der biblische Gott keine fremden Götter neben sich duldet, verlangt der futurische Gott, nichts neben sich zu dulden, was nicht Ich wäre. Wer ist das moderne Ich? Der weiße Mann, der keine Nebenbuhler duldet. Das wäre das Ende des Geschlechterkampfes, denn ein zweites Geschlecht gäbe es nicht mehr.

Alles läuft auf Erkenntnisekel hinaus. Schon wieder Gerechtigkeit gähnen die Edelschreiber, wenn sie eine Talkshow kommentieren müssen. Gerechtigkeit wird mit Anführungszeichen versehen, um die schreckliche Wiederholung des Gleichen anzuzeigen. Linke Positionen werden mit den Worten kommentiert: nichts Neues unter der Sonne, diese Klassenkampfparolen habe man oft genug gehört.

Die Medien fühlen sich wie im Zirkus, sie wollen unterhalten werden. Öfter mal was Neues, sich öfter neu erfinden: das ist das Gesetz des getauften Events. Sie wollen keine Wahrheit, sie wollen Sensationen. Nur merkwürdig, dass die Parolen der Mächtigen vom Fortschritt und Wachstum nicht unter das Verdikt des Alten fallen. In den Händen der Eliten ist die alte Macht an der richtigen Stelle.

Was ist Erkenntnisekel? Er ist nicht identisch mit der antiken Skepsis, dem letzten Wort der hellenischen Philosophie. Zwar zweifelten schon manche Skeptiker an der Fähigkeit des Menschen, die Wahrheit der Wirklichkeit zu erkennen: theoretisch. In praktischer Hinsicht aber waren sie felsenfest überzeugt, durch ihren radikalen Zweifel der Wahrheit einen Dienst zu leisten. Und sich selbst einen praktischen. Wer sich keinen Illusionen hingeben muss, fährt ein in die „Meeresstille der Seele“.

Diese Skeptiker waren Schüler des Sokrates, der sein theoretisches Nichtwissen formulierte, aber in der Praxis darauf beharrte, für seine unbestechliche Moralität selbst seinen Tod zu riskieren.

All diese Wertungen stehen heute auf dem Kopf. Theoretiker propagieren, alle Probleme des Menschen durch den Fortschritt der Technik zu lösen. Praktisches Lernen wird dem Einzelnen nicht zugetraut. Warum hat Moral alle Bedeutung verloren? Weil es Maschinen gibt, die alle Moral des Menschen überflüssig machen.

Erkenntnisekel ist die Aversion des frommen Abendländers gegen die Vernunft. In der Aufklärung schien die Vernunft gesiegt zu haben. Doch schon die Romantik verschmähte den kategorischen Imperativ, sich seines eigenen Kopfes zu bedienen. Stattdessen fühlte man sich genial befähigt, die Wahrheit poetisch und fromm zu „divinisieren“. Wozu mühsam suchen, wenn man in göttlicher Schau alles finden kann.

Es dauerte noch 100 Jahre, bis der Erkenntnisekel im Nihilismus Nietzsches und in den kapitalistischen Gründerjahren auf den Höhepunkt kam. Im Dritten Reich schlug er um in mörderischen Messianismus.

„Es gibt etwas, was ich Erkenntnisekel nenne, Lisaweta. Der Zustand, in dem es dem Menschen genügt, eine Sache zu durchschauen, um sich bereits zum Sterben angewidert (und durchaus nicht versöhnlich gestimmt) zu fühlen,der Fall Hamlets, des Dänen, dieses typischen Literaten. Er wusste, was das ist: zum Wissen berufen werden, ohne dazu geboren zu sein.“ (Nietzscheverehrer Thomas Mann, Tonio Kröger)

Aus einem Buch von Ernst Jünger: „Unsere Hoffnung ruht in den jungen Leuten, die an Temperaturerhöhung leiden, weil in ihnen der grüne Eiter des Ekels frißt.“

Armin Mohler, Mitarbeiter Jüngers und Verfasser des Buches „Die konservative Revolution in Deutschland“, erklärt die praktischen Konsequenzen, die aus diesem eitrigen Ekel folgen. „Mit diesem magischen Nullpunkt betreten wir den innersten Kreis des deutschen Nihilismus. Es ist der Glaube an die unbedingte Zerstörung, die in unbedingte Schöpfung umschlägt.“

Was wir heute erleben, ist die Neuauflage der konservativen Revolution, die das Numinose als Quelle ihrer Kraft betrachtet. Nihilistischer Höhepunkt ist das Bedürfnis, alles zu zerstören, um alles neu aufzubauen. Das entsprach dem Wunsch eines Erlösers, dessen Ekel an dieser Welt ihn verführte, sie mit Stumpf und Stil zu vernichten, um eine nagelneue an Land zu ziehen. Zerstörung schlägt um in Schöpfung: Christi Erlösungswerk durch Vernichtung der Welt ist Vorbild aller totalitären Nachahmer, die die Bösen dieser Welt ausrotten müssen, um den Guten den Endsieg zu bescheren.

Was wir in stalinistischer und nationalsozialistischer Formation erlebten, war die Wiederholung jenes frühen Weltbebens, in der das Christentum die Weisheit der hellenischen Welt vernichtete, um sein eigenes Heilswerk in theokratischer Despotie zu errichten. Die Attraktivität der griechischen Vernunft war durch die gigantische Kluft zwischen Eliten und hungernden Massen an ein Ende geraten.

Da konnte der Rat der Weisen, sich aus dem Elend in sich selbst zurückzuziehen und sich mit der Welt nicht mehr einzulassen, nicht genügen. Die Abscheu vor einer Philosophie, die keine Kraft mehr hatte, die ungerechte Wirklichkeit nach ihren Moralvorstellungen zu prägen, führte zur radikalen Abkehr von allem eigenständigen Denken.

„Die Welt hatte lange genug erlebt, wie sich die Philosophen um die Wahrheit bemühten, ohne zu einem einheitlichen Ergebnis zu kommen und verlangten nach einem festen Grund der Erkenntnis; und wenn früher der Widerstreit der Meinungen manchen zur Skepsis getrieben hatte, so flüchtet sich jetzt ein neues Geschlecht zu der Offenbarung, die den Verzicht auf eigenen Wissensanspruch forderte, aber dafür allem Grübeln und Zweifeln ein Ende machte.“ (Max Pohlenz, Die Stoa)

Geschichte steht unter Wiederholungszwang, wenn sie ihre irrationalen Momente nicht gemeinsam aufarbeitet. Hier befinden wir uns erneut: als das christliche Dogma die Welt überwand. Die Gegenwart ist ihrer gloriosen Versprechungen überdrüssig geworden. So viele visionäre Träume – und so viel Elend auf der Welt. Das ist der Widerspruch, der jedes moderne Herz zerreißt – und wenn es noch so sehr in bewusstseinslose Maloche und lächerliche Machtphantasien flieht.

Die Menschheit wird irre an ihren Götzen und verliert das letzte Vertrauen in ihre von allen Seiten geschmähte Vernunft. Wie es eine protestantische ZEIT-Edelschreiberin beschrieb: im Vertrauen auf die Gnade Gottes eliminiert sie ihr sündiges Ich und nimmt ihr wiedergeborenes Glaubens-Ich dankbar aus den Händen des Erlösers entgegen.

Die Macht der Erlöser besteht in der selbstfabrizierten Ohnmacht der Moderne, die immer mehr zu ahnen beginnt, dass die futurischen Versprechungen eine gewaltige Fata Morgana sein könnten.

Mehr als ein halbes Jahrhundert des Friedens und völkerverbindender Freiheit, das Ende aller undemokratischen Regimes schien gekommen – und doch: mit welchem Ergebnis? Wohin wir sehen: wuchernder nationaler Egoismus und nachlassende Solidarität mit den Elenden und Schwachen dieser Welt.

Wie kann man dieses plötzlich hereinbrechende enttäuschende Fazit einer so hoffnungsvollen Epoche erklären? Nur dadurch, dass der stolze Mensch sich übernommen hat. Er muss Abschied nehmen von seinen trügerischen Fähigkeiten, eine friedliche Utopie auf Erden zu errichten. Wir müssen demütig werden und Unterschlupf suchen beim wahren Messias.

Religiöse Populisten sind ihren säkularen Plagiatoren immer um eine Nasenlänge voraus. Papst Franziskus verurteilt alle politischen Populisten, indem er sich als fehlbaren und sündigen Christen bekennt, der jede Idealisierung als Aggression empfindet.

„Der Papst äußert sich besorgt über den Aufstieg des Populismus in den westlichen Demokratien: „Populismus ist böse und endet schlecht, wie das vergangene Jahrhundert gezeigt hat“, sagt Franziskus. „Populismus bedeutet, das Volk zu benutzen“, er brauche immer einen Messias und auch die Rechtfertigung, die Identität des Volkes bewahren zu müssen.“ (ZEIT.de)

Sprach der Vertreter des christlichen Originals gegen alle bösartigen Nachahmer. Eine durchschlagende Werbung für die uralte Erlöserreligion, die es noch immer verstanden hat, mit wechselnden Maskeraden Menschen in ihren Bann zu ziehen. Nun ist wieder Bußfertigkeit angesagt. Auch bei des Papstes Schwester im Herrn, der lutherischen Pastorentocher Angela.

Einmal die triumphierende, dann die leidende, einmal die überhebliche, dann die unterwürfige, doch immer Tod und Teufel überwindende Kirche Jesu Christi, des Allherrschers über das Universum.

„Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beides, satt sein und hungern, beides, übrighaben und Mangel leiden. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“

Der christliche Westen steht in abschüssiger Gefahr, seinem selbstverschuldeten Elend durch Absage an jegliche Vernunft zu entfliehen. Das wäre die apokalyptische Vernichtung der Welt.

Dem muss mit allen Kräften einer menschen- und naturliebenden Ratio widerstanden werden. Das Suchen nach der Wahrheit gehört zum Kern der Demokratie. Ohne Philosophie keine Agora, ohne Agora keine geistige Elastizität, in der Klassenunterschiede keine Rolle spielen.

Nicht vor Gott, vor der Erkenntnissuche sind alle Menschen gleich. Das Argument und nur das Argument entscheidet, das durch Mehrheitsentscheidungen nicht dogmatisch fixiert, aber solange in der Schwebe der Auseinandersetzung bleibt, bis es eine Form gefunden hat, in der das Volk sich wieder entdeckt. Irrt das Volk, muss es die Folgen seines Irrtums selbst tragen.

Demokratie ist eine lernende Sozietät. Haben Demokratien keine Lerngeschichte, geraten sie unter das despotische Joch einer Verfallsgeschichte.

In der Nachkriegszeit erlebte Deutschland seine Lerngeschichte. Die Einführung des Neoliberalismus hat dieses unfreiwillige Kapitel schleichend, aber nachhaltig beendet und in eine vernunftfeindliche Wohlstandswüste verwandelt, in der nur noch Kontostände zählen.

Am Börsenindex hängt doch alles, ach, wir Armen.

 

Fortsetzung folgt.