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Weltdorf LXXIV

Tagesmail vom 26.02.2017

Hello, Freunde des Weltdorfs LXXIV,

si vis pacem, para bellum: wenn du Frieden willst, greife zur Parabellum („deutsche Pistole mit Kniegelenkverschluss von Georg Luger“).

Josef Joffe ist ein Fan des Cicero-Satzes. Schluss mit dem waffenlosen Friedensgesäusel. Der Normalzustand der Menschheit ist der Krieg. Nicht Krieg, der Frieden ist rechtfertigungsbedürftig.

Allzu lange schlampampten die Völker im Frieden. Sie sind verwöhnt, verweichlicht und verzärtelt. Es wird Zeit, dass die Menschheit wieder den Ernst der Dinge erfährt. Merkels Panzer rollen bereits gen Osten, um Gorbis Friedensangebote bei seinem weniger friedenswilligen Nachfolger endgültig zu begraben.

Das können die Westler nicht auf sich sitzen lassen, dass ein Weltreich des Bösen freiwillig den Geist aufgab – ohne Tod und Verderben über die Erde zu bringen. Freihandel von Lissabon bis Wladiwostok, Friede allen Völkern: das war die Jahrhundertidee des Bauernsohnes aus Stawropol, dessen Name heute totgeschwiegen wird.

Seinen Nachfolger sekkierten und demütigten sie so lange, bis er in die weit geöffneten Arme der orthodoxen Popen zurückkehrte, um eine uralte zaristische Machtpolitik auf die russische Agenda zu setzen. Nun streiten sie sich wieder, aus welchem Imperium der Messias kommen wird, um die Menschheit zu erlösen: der Christus aus den Tiefen der Tundra oder der Christus aus dem amerikanischen Bible Belt.

Erlösen heißt retten durch Vernichten. Abrüsten ist ein Thema für Weicheier. Vorbereiten zum finalen Schlag um die Weltherrschaft: das ist das Thema der gegenwärtigen Weltkrise – und wird nirgendwo verschwiegen. Nur in Deutschland

 muss man hinter vorgehaltener Hand flüstern, um die Exportweltmeister nicht am Boomen zu hindern.

„Wer nun das Zivile mit dem Militärischen verrechnet, will Punkte in der atlantischen Propagandaschlacht gegen Trump sammeln (was okay ist), aber den harten strategischen Entscheidungen ausweichen. Die Deutschen haben fünfzig Jahre lang Sicherheit zum Discountpreis genossen. Wenn sie jetzt mehr einzahlen müssen, führt das nicht in eine „blinde Aufrüstungsspirale“ (Gabriel). Es ist die Korrektur einer einst verständlichen Abrüstungsspirale, die der Kreml als Gelegenheit wahrgenommen hat.“ (ZEIT.de)

Auch Joffe verschweigt die Gorbi-Epoche und heuchelt, dass die Schwarte kracht. Warum Putin – der noch vor wenigen Jahren im Bundestag eine bemerkenswerte Rede halten durfte – seine Politik schier ins Gegenteil verkehrte, wird mit keinem Jota erwähnt. Wie immer gilt unter Pfarrerskindern der Satz der Nächstenliebe: schuld sind immer die anderen. Schuld sind die bösen Feinde, die man sich redlich verdient haben muss, damit man sie mit Nächstenliebe und Parabellum standesgemäß überfallen kann.

Überall wird aufgerüstet. Trumps steigender Wehretat, um die Welt multipel auszulöschen, genügt noch nicht. Die Selbstvernichtung des Menschen muss multipel hoch multipel sein. Sollte Nord-Korea frech werden, wird die Trump-Regierung mächtig böse werden. Eine einzige bestückte Langstreckenrakete in die falsche Richtung – und Nord-Korea wird der Geschichte angehören. Der Planet wird endlich wieder zu dem, was er schon immer sein sollte: zum Gefechtsstand derer, die ihn unter sich verteilen wollen.

Lawrow, Putins Mann für die große weite Welt, kommt mit dem Vorschlag einer nachwestlichen Epoche souveräner Einzelstaaten zu spät. Der Vorschlag ist längst Wirklichkeit geworden. Grenzenlose Konkurrenz sucht scharf gegeneinander aufgestellte Einzelspieler – und das sind die Nationalstaaten.

Die Nachkriegszeit der friedensstiftenden Internationale ist beendet. In der UNO sind es die Despoten, die ausgerechnet die Ressorts der Menschen- und Völkerrechte unter sich aufteilen. Das hängt damit zusammen, dass Amerika & Vasallen das Parlament der Völker behindern und auf alle Art schwächen. Beiträge werden nicht gezahlt, die Zusammenarbeit der Nationen auf allen Ebenen behindert. Trumps Wähler fühlen sich von der gottlosen Internationalen bedroht und fordern den Rückgang in den Isolationismus.

Von einer produktiven Rolle der Deutschen in der UN ist nichts zu hören. Merkel wagt es nicht, die destruktive Rolle Amerikas und Israels in der Völkergemeinschaft an den Pranger zu stellen.

Sacharjas Endzeit-Prophetie können fundamentalistische Apokalyptiker auswendig. In Deutschland weiß niemand, wer Sacharja ist. Was hierzulande unerwünscht ist in heiligen Schriften, wird – hastenichgesehen – ins Gegenteil umgedeutet. Max Webers Entzauberung ist eine seiner größten Fehldiagnosen. Nicht die Verwandlung von Brot und Wein in himmlische Substanzen ist der Zauber, sondern die magische Verwandlung eines totalitären Vernichtungsbuches in ein Handbuch humaner Philosophie.

„Und das wird die Plage sein, womit der HERR plagen wird alle Völker, so wider Jerusalem gestritten haben; ihr Fleisch wird verwesen, dieweil sie noch auf ihren Füßen stehen, und ihre Augen werden in den Löchern verwesen und ihre Zunge im Munde verwesen. Zu der Zeit wird der HERR ein großes Getümmel unter ihnen anrichten, daß einer wird den andern bei der Hand fassen und seine Hand wider des andern Hand erheben. Denn auch Juda wird wider Jerusalem streiten, und es werden versammelt werden die Güter aller Heiden, die umher sind, Gold, Silber, Kleider über die Maßen viel. Und da wird dann diese Plage gehen über Rosse, Maultiere, Kamele, Esel und allerlei Tiere, die in demselben Heer sind, gleichwie jene geplagt sind.“

Was sind Apokalyptiker – die in allen drei Erlösungsreligionen mehr oder minder demselben Endzeitglauben anhängen?

„Die Anhänger dieser Bewegung glauben, dass sie Rollen eines Drehbuches übernommen haben, das zum Teil bereits geschrieben ist. Religiöse Apokalyptiker nehmen an, dass das Drehbuch von Gott stammt, der Teufel und diverse Dämonen steuern zwar ihren Teil zur Handlung bei, müssen sich am Ende aber der Autorität des göttlichen Erzählers beugen.“ (John Gray, Politik der Apokalypse)

In der Geschichte der Erlöser gibt es keine Freiheit. Die Drehbücher sind in heiligen Büchern festgelegt. Die Menschheit muss den Drehbüchern peinlich genau folgen. Das Ende der Geschichte ist programmiert: ganz wenige werden errettet, die Massen der Massen kommen ins ewige Feuer.

„Eine die Welt umspannende Erzählung mag dem Leben derer, die sich von ihr leiten lassen, einen Sinn verleihen, zerstört ihn aber im Leben anderer.“ (Gray)

Es wäre ein folgenreicher Irrtum, nur Heilsgeschichten als Apokalypsen zu bezeichnen. Fast keine der großen Polit-Ideologien, die nicht identisch wäre mit einem vorprogrammierten Ablauf der Geschichte. Die NS-Ideologie war ebenso ein 1000-jähriges Reich wie der Marxismus, dessen Reich der Freiheit sich unabhängig vom Willen der Menschen realisieren wird. Auch Hayeks evolutionärer Markt untersteht keinem menschlichen Willen, sondern gehorcht überirdischen Mächten.

Warum lösen die Staaten nicht ihre Probleme, die ihnen aus allen Poren kriechen? Weil sie nicht dürfen. Aus eigener Kraft Probleme lösen, das wäre ein blasphemischer Akt. Die Klimakatastrophe ist für Gläubige eine berechtigte Strafe Gottes, der zu entfliehen so vergeblich wie sinnlos ist.

Warum sind die deutschen Grünen am Ende? Weil sie das Kunststück vollbringen, immer christlicher zu werden, ohne zu sehen, dass Christen an die ökologische Apokalypse glauben müssten. Über archaische Texttreue sind sie längst hinaus. Was in der Bibel steht, bestimmen – halten zu Gnaden – sie noch immer selbst. Hier rächt sich, dass Deutsche nicht in der Lage sind, ihren Offenbarungen eindeutig zu widersprechen. Stattdessen bleiben sie an den Text fixiert – den sie nach Belieben verfälschen. Sie sagen Ja, indem sie Nein sagen, sie sagen Nein, indem sie Ja sagen. Gemäß dem Motto ihres Heilands: eure Rede sei Jaja und Neinnein.

Das Jein-Jein-Sagen der Deutschen auf allen Ebenen ihres Soseins ist das beherrschende Merkmal ihrer kollektiven Psyche. Ihrem religiösen Über-Ich wollen sie treu bleiben – aus Angst vor ewigen Strafen –, ihrem aufgeklärten Ich-Ideal aber nicht untreu werden. Von ihrem Meisterdenker Hegel erhielten sie die Erlaubnis, Widersprüche als Kennzeichen höherer Wahrheit zu betrachten. Dem entspricht die trübe Sintflut ihrer täglichen Ungereimtheiten und Widersprüche in relevanten Bereichen.

Beispiele:

Gerechtigkeit sei ein ewiger Prozess, der immer Gewinner und Verlierer hervorbringe, sagte Claus Kleber gestern im ZDF.

Gerechtigkeit ist aber das gerade Gegenteil: der Versuch, die Kluft zwischen Siegern und Losern zu vermeiden, indem man grenzenlosen Gewinn und beschämende Armut verhindert.

Gerechtigkeit für alle sei eine Illusion, schrieb Marion Horn in BILD.

BILD, Vertreterin, Fürsprecherin und Erlöserin des Volkes, lässt bei der erstbesten Gelegenheit das Volk fallen und huldigt einer Gerechtigkeit für Privilegierte. Das ist Trump-Ideologie pur. Ist denn Gerechtigkeit zum Luxusbesitz der Eliten geworden?  

Gerechtigkeit muss für alle da sein, sie bedeutet Zusammenhalt der Gesellschaft auf gleicher Augenhöhe.

Über Gerechtigkeit zu streiten, habe keinen Zweck, schrieb der Ökonom Marcel Fratzscher, denn jeder habe seine eigene Meinung.

Eben drum, weil jeder seine eigene Meinung hat, muss über unterschiedliche Meinungen gestritten werden. Wenn wir nicht mehr über unsere Differenzen debattieren können, sollten wir den demokratischen Marktplatz endgültig einpacken.

Für Thomas Schmid ist Demokratie eine Sache der Eliten. Weshalb die Bürgerlichen deren Interessen in besonderem Maße verteidigen müssten.

„Kein Flugzeug käme in die Luft, kein Verkehr flösse, kein Kranker würde operiert, kein alter Mensch gepflegt. Aber umgekehrt gilt eben auch, dass buchstäblich nichts davon ohne Fachleute, gut Ausgebildete, kurz: ohne Eliten möglich wäre. Angesichts des sich abzeichnenden Sturms gegen Eliten müsste es die originäre Aufgabe einer Partei sein, die sich bürgerlich nennt, mit Kraft und selbstbewusster Verve die Heranbildung und Pflege der so unverzichtbaren Eliten zu fördern und dazu auch zu stehen.“ (WELT.de)

Welch ein Unfug. Eliten sind nicht die Tüchtigen und Fleißigen der Mittel- und Unterschichten, sondern die Mächtigen oberhalb der arbeitenden Bevölkerung, die sich die Früchte der Arbeit anderer unter den Nagel reißen. Was wird bei der bevorstehenden 4.0-Roboterisierung der Gesellschaft aus all denen, deren Arbeitsplätze weg-irrationalisiert werden? (Von Rationalisierung kann keine Rede sein.) Dann wird die Elite auf eine winzige Schar von Supermaschinisten schrumpfen. Der Rest könnte vor die Hunde gehen – darunter fast die ganze jetzige Bourgeoisie.

Eine Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Zum Volk gehören alle, die unter dem Schutz demokratischer Gesetze stehen – also auch Flüchtlinge, Säuglinge, Alte und Behinderte.

Deutsche Eliten wissen fast nichts mehr über die Grundbegriffe einer lebendigen Demokratie. Grundbegriffe sind nicht identisch mit den vielfach geschundenen Kompromissbegriffen der Parteien. Die Parteien verschwimmen zu einer einzigen amorphen Masse, weil sie das Grundsatzdenken eingestellt haben.

Keine Talkshow, die fähig wäre, streng über Elite, Gerechtigkeit, Geschichte, Apokalypse, Fortschritt zu debattieren. Sie stürzen sich sofort in die Unendlichkeit empirischer Peanuts, ohne den geringsten Versuch zu unternehmen, die Fundamente zu erörtern, um die empirischen Unterschiede abzuleiten und zu überprüfen.

Warum haben die Linken fast keine Chancen, die Macht der Konservativen zu brechen? Weil sie nicht den Mut aufbringen, philosophische Grundsatzdebatten anzuregen. Das Parteiengelände der Kompromisse ist ausgelaugt und planiert. Es müsste tiefer gegraben werden, um an die Wurzeln unseres Lebens zu gelangen.

Die Konservativen haben es leichter, ihre Macht zu bewahren. Sie haben keinen Ehrgeiz, grundlegende Dinge zu verändern. Ihnen genügt es, auf den beruhigenden Charakter des Vorhandenen hinzuweisen. Das ist Merkels Stärke. Sie kann unaufgeregt und stumm bleiben. Solange der Laden läuft, spricht er für sie.

Die größte Macht der Eliten besteht in ihrer selbstverliehenen Kompetenz, die Menschen auszuzeichnen und überschwänglich zu loben. Da sich in der Gesellschaft niemand anerkannt fühlt, haben sich die Eliten ein Preisungs-Monopol gesichert. Sie erfinden Orden und Ehrenzeichen in unendlicher Variation, um jene an sich zu binden, auf deren Tätigkeiten sie dringend angewiesen sind. Die Höhe des Lohns allein macht es nicht. Es muss auch Lametta dabei sein. Selbst der kluge Gregor Gysi lässt sich vom Teufel reiten und von karnevalistischen Eliten einen Orden wider den tierischen Ernst verleihen. Er sei noch nie in seinem Leben geehrt worden, sagte er in seiner Narrenrede. Wenn selbst ein bedeutender Linker nach Ehrungen durch jene Eliten ausgehungert ist, die er in seinem politischen Alltag attackiert, verstehen wir allmählich den diskreten Charme der Bourgeoisie.

Vom Nobelpreis über den Oscar bis zum goldenen Bambi sind die Lobpreisungen der Geehrten von obszöner Maßlosigkeit. The one and the only: hier kommt der unvergleichliche, wunderbare, einzigartige XY. Das sind Superlative, die sie nicht mal ihren Göttern verleihen. Die Kluft zwischen oben und unten ist nicht nur wirtschaftlicher Art. Oben residieren die Gottgleichen, unten die Verworfenen und Überflüssigen.

Was ist das für ein elitärer Inzest, wenn der frisch gewählte amerikanische Präsident drei Bälle besucht, an denen allein Reiche und Erfolgreiche teilnehmen dürfen? Wenn Zeitungen ein Jubiläum feiern, müssen just jene Eliten die Lobrede halten, die im Alltag von ihnen kritisiert werden müssten. Nirgendwo spielt die Bevölkerung eine Rolle – außer der Rolle der Zaungäste und Claqueure für die Berühmten und Schönen.

Hier geht es um unbewusste Korruption der Nähe und Distanzlosigkeit. Wer sich zur selben unentbehrlichen Klasse der Gesellschaft zählt, der hat keine innerliche Freiheit mehr, die Mitglieder seiner Klasse zu überprüfen, wie es notwendig wäre. Eliten, zu denen sich die Medien zählen, leben vom Bestand der Gesellschaft. Generelle Kritik, die diesen Bestand gefährden könnte, müssen sie mit aller Kraft unschädlich machen.

Man dürfe sich nur von Menschen ehren lassen, die man selber ehren könne: das war die Devise des Philosophen Günther Anders.

Warum wollen deutsche Intellektuelle stets neue Erzählungen, Geschichten oder Narrative bieten? Warum so gut wie nie strenge Gedanken, Analysen, Debattenbeiträge?

Erzählungen sind Abkömmlinge apokalyptischer Erzählungen. Die Heilsgeschichte entbehrt jeder logischen Eindeutigkeit. Die irdische Zeit der Menschen wird in pittoresquen Einzelgeschichten erzählt. Ohne es zu bemerken, definieren sich Literaten als Erfinder von Geschichten, die dem Schema der Heilsgeschichten folgen.

Göttliche Offenbarungen sind wie transzendente Märchen für Erwachsene. Hier gibt es keine abstrakten Abhandlungen, keine handlungsfreien Gedanken und Reflexionen. Der Erfolg der Religionen beruhte auf der Anschaulichkeit von Mythen und Erzählungen, gegen die die gedankliche Strenge der Philosophie nicht ankam.

Populäre, verständliche Philosophie oder gesunder Menschenverstand sind in Deutschland verpönt. Sie gelten als unoriginelle und minderwertige Nachahmungen.

Dabei gibt es seit dem skeptischen Ende der griechischen Philosophie keine originelle Philosophie mehr. Die wichtigsten Denkmöglichkeiten des menschlichen Lebens haben die Griechen erschöpfend durchdekliniert.

Im Abendland gab es nur misslungene Kompromissbildungen aus heidnischem Denken und theologischer Offenbarung. Wo die Philosophien neu schienen, waren sie nicht philosophisch, wo sie philosophisch schienen, waren sie nicht neu. Die deutschen Dichter und Denker glaubten, genial und originell zu sein. Dabei schäumten sie nur überlieferte Denkformationen auf.

Noch heute wird das Denken allein auf Neuigkeit überprüft. Besonders bei linken Positionen, die „wieder mal aufgewärmt werden“ – wie die Hartz-4-Sozialgesetzgebung durch den neuen SPD-Kandidaten – kann man lesen: nichts Neues unter der Sonne.

Bei konservativen Parteien, die ausdrücklich das Alte bewahren, ist dieses Urteil nie zu lesen. Das Kritische muss neu, kreativ und originell sein. Sonst braucht es sich erst gar nicht an die Öffentlichkeit zu wagen. An Merkel hingegen wird das Unaufgeregte und Gelassene des Alten und Bewährten gerühmt. Neuzeit, dein Name ist Irrsinn und Begriffsverwirrung.

Das waren einige Beispiele für den Sprachverfall in apokalyptischen Zeiten, in denen die Menschen nicht mehr fähig sind, den kritischen Verstand, den sie als Kinder noch hatten, in Anwendung zu bringen. Je größer das Tohuwabohu, je stärker das Sprachengewirr, umso eher kommt der, der da kommen soll. Es ist, als ob die Menschen, auf die finale Beschleunigung der Geschichte programmiert, sich selbst den Boden unter den Füßen entziehen wollten, um den Messias zum baldigen Kommen zu nötigen. Sie legen sich freiwillig auf den Bauch, um das Geschenk der Gnade zu erzwingen.

Einer der wichtigsten Ideologen der amerikanischen Apokalypsebewegung ist der aus Deutschland eingewanderte Philosoph Leo Strauss, Schüler des streng katholischen Nationalsozialisten Carl Schmitt. Strauss ist einer der Urväter der Neokonservativen, die zu einem nicht geringen Teil die Alt-Right der Trumpisten beeinflusst haben. „Leo Strauss war nie überzeugt, dass die liberale Demokratie die beste Staatsform sei. Er hätte die Idee, die liberale Demokratie könne sich über die ganze Welt vebreiten, erstaunt oder gar empört von sich gewiesen.“ (Gray)

Den Liberalismus verachtete Strauss. „Das Endergebnis des Liberalismus sei ein Nihilismus, der den Liberalismus selbst untergrabe.“ Die verantwortlichen Eliten hätten das Recht, die Bevölkerung nach Strich und Faden anzulügen – ähnlich der heiligen Lüge bei Platon. Die Massen könnten die Wahrheit nicht ertragen. Durch Mythen und beruhigende Erzählungen müssten sie vor Resignation und Pessimismus geschützt werden. „Manche Kritiker sehen in Strauss den Theoretiker, auf dessen Lehre die Strategien der Desinformation zurückgehen, welche die neokonservativen Mitglieder der Bushregierung einsetzten.“ Die amerikanische Demokratie hielt er für instabil und zukunftslos. Er plädierte für die Wiederbelebung des Naturrechts – aber nicht des Naturrechts aus Vernunft, sondern aus dem Glauben an die Offenbarung.

Für Strauss, der aus einem orthodoxen jüdischen Elternhaus kam, gab es eine unüberbrückbare Kluft zwischen Vernunft und Offenbarung. Eben deshalb müsse Amerika, wenn es nicht untergehen wolle, auf den Boden der biblischen Religion zurückkehren. „Athen und Jerusalem, der rationale Kosmos der griechischen Philosophie und die biblische Vision der göttlichen Schöpfung sind unvereinbar. Wie Martin Buber, Franz Rosenzweig und andere gläubige Juden des frühen 20. Jahrhunderts nahm Strauss es als gegeben hin, dass erste und letzte Fragen nur in einem Akt des Glaubens zu beantworten sind. In der Vernunft sah er kein taugliches Mittel gegen den Nihilismus.“ (Gray)

Wir sehen, dass die Trump-Bewegung nur ein Abklatsch von Gedanken ist, die lange vorher in den Köpfen illustrer Denker entstanden und in dicken Büchern propagiert wurden. Erst nach längerer Inkubationszeit dringen sie in die Öffentlichkeit, wo sie zu Schlagwörtern des politischen Alltags werden. Nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern das Denken der Menschen. Wer die Verhältnisse ändern will, muss sich auf das Denken einlassen. Aktivismus allein genügt nicht. Wenn das impulsive Tun der Menschen nicht von nachhaltigen Denkakten fundiert ist, wird es schnell absterben.

Während Josef Joffe sich für militärisches Aufrüsten einsetzt, um den Frieden zu garantieren, plädiert Gesine Schwan in einem exzellenten SPIEGEL-Artikel für eine umfassende humane Flüchtlingspolitik. Ohne den Namen Merkel zu nennen, kritisiert Schwan die Bundesregierung:

„Die Bundesregierung beschönigt Abschottung und Abschiebungen mit hohlen Phrasen der Humanität. Nötig wäre stattdessen eine nachhaltige Flüchtlingspolitik im Interesse der Menschenrechte – und in unserem eigenen.“ (SPIEGEL.de)

Es ist nicht nur Trump, der mit Waffen, ja mit dem Einsatz von Atombomben droht, um die Macht Amerikas zu sichern. Europa unter der Führung Merkels ist außerstande und unwillens, dem verhängnisvollen Kurs eines Blindwütigen eine konsequent universelle Friedensperspektive entgegenzustellen. Eine solche schildert die Politologin in überzeugenden Sätzen:

„Auch unsere Sicherheit hängt davon ab. Je mehr Menschen wir von ihren Lebenschancen ausschließen, je mehr wir demütigen und frustrieren, je mehr Neid, Ressentiment und Hass wir schüren, desto mehr bereiten wir dem Terror bei uns den Boden. Dem sind dann keine Polizei, keine Armee, kein Geheimdienst mehr gewachsen. Damit schaufeln wir unserer Freiheit und Sicherheit das Grab. Sie sind nur als Recht für alle zu haben, nicht als Privileg der Reichen. Umgekehrt schaffen wir für unser Land und für Europa kulturellen und auch wirtschaftlichen Reichtum, wenn immer mehr Menschen z.B. mehrere Sprachen beherrschen und Handelsbeziehungen in aller Welt aufbauen können. Es gibt aufschlussreiche Studien über amerikanische Städte und Kommunen, die so langfristig gedacht und nachhaltig geplant haben und nun einen Aufschwung erleben. Die Kinder der Flüchtlinge bauen weltweite Beziehungen auf. Wir haben die Wahl: Entweder mauern wir uns ängstlich ein und verspielen unsere Zukunft oder wir entwickeln Deutschland und Europa auch dank der Diversität der Flüchtlinge weitsichtig, klug, mutig und solidarisch in unserem eigenen wohlverstandenen Interesse weiter. So gestalten wir die Globalisierung bei uns und in Afrika. Diese Wahl sollte uns nicht schwer fallen.“

Grays Untersuchung der apokalyptischen Weltpolitik endet unmissverständlich: „Der Mythos vom Weltende hat namenloses Leid über die Menschheit gebracht und ist gefährlich wie eh und je.“

Dennoch muss seinen politischen Schlussfolgerungen energisch widersprochen werden, wenn er schreibt: „Die Politik eignet sich nicht zum Vehikel der Menschheitsbeglückung. Im besten Fall ist sie die Kunst, in angemessener Weise auf den Fluss der Ereignisse zu reagieren. Dazu ist keine hochfliegende Fortschrittsvision notwendig, sondern nur der Mut, unausrottbaren Übeln ins Auge zu sehen.“

Das klingt nach Poppers Utopieverbot, das nicht bedacht hat, dass eine rationale Utopie nichts zu tun haben muss mit einem illusionären Himmel auf Erden. Es genügt nicht, unausrottbaren Übeln kontemplativ ins Auge zu schauen.

Nirgendwo steht in ehernen Lettern, wozu der Mensch fähig ist. Das Äußerste müssen wir für möglich halten, damit wir unseren Kindern eine Zukunft auf Erden ermöglichen.

 

Fortsetzung folgt.