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Weltdorf LXXIII

Hello, Freunde des Weltdorfs LXXIII,

es ist unentschuldbar:

Trotzdem legen seit Monaten immer mehr sudanesische Frauen ihre ausgemergelten Säuglinge erschöpft an ausgetrocknete Brüste. Trotzdem teilen sich abgemagerte kenianische Hirten das letzte Getreide mit ihrem Vieh. Trotzdem müssen rund um den Globus sogar 800 Millionen Menschen mit leerem Magen schlafen gehen. Und zwei Milliarden fehlen wichtige Nährstoffe, um gesund zu leben. Warum?“

Trotzdem? Trotz was?

Schließlich wäre mehr als genug zu essen da für alle 7,5 Milliarden Bewohner dieser Welt. Schließlich sind die Mittel und Methoden besser entwickelt denn je, um Lebensmittel zu verteilen.“ (ZEIT.de)

Christiane Grefe will sich nicht länger von Phrasen abwimmeln lassen und beantwortet die Schuldfrage mit dem anklagenden Satz:

„Das Verderben des Menschen ist der Mensch“. Sie bezieht sich auf Bertold Brechts Satz: „Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“

Die Schuldzuweisungen klingen unmissverständlich. Klingen sie nur so – oder sind sie es auch? Wären sie eindeutig, müsste die Beantwortung der Frage nach der notwendigen Korrektur auch eindeutig sein. Was müsste geschehen, um das Elend des Menschen zu beenden? Der Mensch müsste sich verändern und sein schuldiges Verhalten einstellen.

Warum tut er es nicht? Kann er es nicht? Dann wäre Grefes Anklage eine Schicksalsaussage: furchterregend und fatalistisch. Die Dinge wären, wie sie sind. Lass fahren dahin, jede Hoffnung wäre ausgeschlossen. 

Gibt es überhaupt Alternativen zu den obigen Sätzen? Wer sonst, außer dem Menschen, könnte schuldig sein am Schicksal des Menschen? Götter gibt es

keine und die Natur lässt dem Menschen – abgesehen von seltenen Katastrophen – freie Hand, sein Schicksal zu gestalten.

Dennoch sind die meisten Menschen überzeugt, dass ihre Gattung gewissen Elementen unterworfen sind, gegen deren Gewalt sie nichts ausrichten können.

Erlöserreligionen nennen diese Gewalt Gott oder Heilsgeschichte, Marxisten sprechen vom materiellen Sein, Naturwissenschaftler von evolutionären Gesetzen, Neoliberale vom allmächtigen Markt, Pessimisten und Fatalisten von anonymen Schicksalsmächten, die sie Geschichte, Moira, Tyche, Zeit und Zufall nennen.

Die Philosophie des selbstbestimmten Menschen gab es in den Aufklärungsbewegungen, doch Religionen und autonomiefeindliche Ideologien haben die Wirkung der Aufklärung seit etwa 200 Jahren zur Unkenntlichkeit minimiert. Die Demokratien der Gegenwart, undenkbar ohne Selbstbestimmung des Menschen, werden von allgewaltigen Schicksalsmächten dominiert. Vor allem vom Gott der Heilsgeschichte.

Die Botmäßigkeit unter eine fremde Gewalt ist mit demokratischem Selbstbewusstsein nicht vereinbar. Wenn es den Demokratien nicht gelingt, sich von ihren heteronomen Mächten zu lösen, werden sie früher oder später kapitulieren müssen. Die jetzige Krise ist paradigmatisch für den Kampf zweier ineinander verbissener Kräfte, die nur ein Entweder-Oder kennen. Entweder der Mensch – oder Gott. Entweder anonyme Schicksalsmächte – oder der transparente Citoyen der Demokratie.

Die lange Friedens- und Wohlstandsepoche der Nachkriegszeit nährte sich allein vom Erschrecken über die Bestialität des Menschen, die nie mehr die Geschicke der Menschheit bestimmen sollte. Seitdem das Bedürfnis erloschen ist, alles besser zu machen, fallen die Völker in die Unmündigkeit ihrer Religionen zurück. Je ausgeprägter die Krisen, desto stärker die Sehnsucht, an die Fleischtöpfe eines himmlischen Vaters zurückzukehren.

Trumps Muskelspiele sind kein Beweis für seine Autonomie, sondern für seine Unterwürfigkeit, die sich – entlastet von jeglicher Selbstverantwortung – ungebunden und frei vorkommt, weil sie die Regeln des himmlischen Vaters nicht kritisch bewerten oder verändern muss. Im Einklang mit der Obrigkeit darf man deren Gesetze in gehorsamer Impertinenz exekutieren. Trump fühlt sich als Beauftragter eines Gottes, dessen ehernen Spielregeln – die er durch zunehmende Gottlosigkeit beschädigt glaubt – er die alte Weltgeltung zurückerobern will.

Der selbstbestimmte Mensch hingegen muss für alles selber sorgen: für die Entwicklung einer humanen Moral, für Übereinstimmung unter den Völkern, für das Übersetzen der individuellen Moral in übergreifende Politik, für die selbstkritische Entwicklung eines Lernverhaltens nach gründlicher Analyse des Fehlverhaltens in Irrungen und Wirrungen, für Trost und Ermutigung in Niederlagen – ohne Schuldvergebung durch allmächtige Götter.

Sollte dieser erkenntnisfähige und lernwillige Mensch der Verantwortliche für des Menschen Schicksal sein, wäre ein pessimistischer Schicksalsglaube unmöglich.

Vernunft ist Glaube an den verstehbaren, erklärbaren, rational lernfähigen Menschen. Glaube deshalb, weil es keine Garantien gibt, ob der Mensch seinen Fähigkeiten gerecht wird. Da jedes Verhalten unter dem Gesetz der selbsterfüllenden – oder selbstzerstörenden – Prophezeiung steht, gehört der Glaube zum eisernen Seelenbestand eines homo rationalis. Würde der Mensch nicht an sich selbst glauben, hätten seine humanen Fähigkeiten keine Chancen. Begeht der vernunftfähige Mensch Fehler, ist die methodische Vorgehensweise klar: welche Fehler wurden begangen? Warum wurden sie begangen?

Weiß ich, warum ich einen Fehler beging, ist meine kritische Selbsterkenntnis die Voraussetzung jeder Veränderung. Einsicht bewirkt automatisch die Korrektur meines Tuns. Das klingt naiv und war die Stimme des Sokrates, dem man zu Lebzeiten einen allzu schlichten Intellektualismus vorwarf. Abstraktes Einsehen würde nicht genügen, warf man dem Mann auf der Agora vor, der es nicht lassen konnte, die demokratischen Fähigkeiten seiner Zeitgenossen peinlich genau zu überprüfen.

Hätten die Kritiker sich die sokratische Mäeutik genauer angeschaut, wäre ihnen nicht entgangen, dass sokratische Einsicht keine theoretische Abstraktheit war, sondern alle Schichten des Menschen durchdringen muss. Vernunft grenzt Herz und Gemüt, Wille und Entschlusskraft nicht aus.

Woran erkenne ich, dass ich etwas erkannt habe? Dass meine Taten willig der Erkenntnis folgen. Folgen sie nicht, hatte ich keine oder nur eine eingeschränkte Erkenntnis.

Einen freischwebenden Willen gibt es nur bei den Deutschen, die sich von der Vernunft verabschiedeten, um ihren unmenschlichen Willen zur Macht auf den Thron zu setzen. Momentan wird wieder viel Wert auf Intuition gelegt – um die irrationalen Kräfte des Menschen als Offenbarungen der genialen und erfolgreichen Persönlichkeit zu preisen.

Gerade der kapitalistische Charakter lebt vom Willen. Wer reich werden will, dürfe sich nicht „als Opfer“ betrachten. Reichtum sei „vor allem eine Frage des Wollens. Der Ehrgeizige will sich durchsetzen, und er ist konfliktbereit“, erklärte ein Reicher. Bildung sei zweitrangig. Wichtiger ist das „implizite Wissen. Also das, auf das sich die Hochvermögenden neben den Zahlen oft verlassen – das Bauchgefühl. Jene Intuition, die auf Informationen und Erfahrungen beruht, die man gesammelt hat, aber nicht ausdrücken kann“. Dieses „implizite Lernen“ sei einer der „wichtigsten Schlüssel für den Erfolg der Superreichen und ihr ,verborgenes Wissen'“. Also das, was man früher die Schule des Lebens nannte. Jenes unbewusste und ungesteuerte Lernen außerhalb des Lehrplans.“ (SPIEGEL.de)

Der Kapitalismus ist Teil der Gegenaufklärung – bei uns auch „Deutsche Bewegung“ genannt –, die der Vernunft den Krieg erklärte, um einen chaotisch-triebgesteuerten Willen an seine Stelle zu setzen. Die Vergöttlichung des deutschen Willens findet ihren Höhepunkt in den Worten eines stahlharten Willensmenschen:

„Wenn wir diese Gemeinschaft bilden, eng verschworen, zu allem entschlossen, niemals gewillt zu kapitulieren, dann wird unser Wille jeder Not Herr werden. Und ich möchte schließen mit dem Bekenntnis, das ich einst aussprach, als ich den Kampf um die Macht im Reich begann. Damals sagte ich: Wenn unser Wille so stark ist, dass keine Not ihn mehr zu zwingen vermag, dann wird unser Wille und unser deutscher Stahl auch die Not meistern!“ (Aus Hitlers Rede zum 1. September 1939)

Die Moderne ist das Feld vernunftlosen Wollens. Diesem kommt es nicht auf die Wahl eines vernünftigen Zieles an, sondern auf das Kraftempfinden eines kopflosen Willens. Das rationale Ziel ist nichts, das rauschhafte, unbewusste Selbstempfinden des Weges ist alles. Gleichgültig, wo ich lande, Hauptsache, ich verliere beim riskanten Sprung ins Unbekannte den Verstand. Trumps Dekrete sind richtig, weil der Präsident es intuitiv so empfindet. Er sei kein Politiker, er mache Geschäfte „aus dem Bauch“, sagte der Selfmademan.

Das Wollen des Frommen ist ohnmächtig, also muss er sich dem Willen des Allmächtigen unterstellen:

„Denn ich tue nicht, was ich will; sondern, was ich hasse, das tue ich. So ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, daß das Gesetz gut sei. So tue ich nun dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. So ich aber tue, was ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht; sondern die Sünde, die in mir wohnt.“

Das ist Sokrates auf den Kopf gestellt. Das Gute, das ich will, ist saft- und kraftlos. Gerade, was ich nicht will, das muss ich tun. Was ich für gut halte, tue ich nicht, sondern das, was meine Herrin mir auferlegt und das ist die Sünde in mir. Ich bin nicht Herr über mich selbst, sondern bin dem Teufel – oder Gott untertan. Mich gibt es gar nicht. Ich bin die Marionette des Himmlischen oder Teuflischen.

Dass die Deutschen ihren Willen als unbesiegbar empfanden, lag daran, dass sie Erwählte des Himmels waren. Ihr adoptierter Wille war die Empfindung eines unbesiegbaren göttlichen Geschenkes.

Zur Psychologie der Erfolgreichen gehört die Ablehnung, Opfer der Verhältnisse zu sein:

«Wie Hochvermögende mit Niederlagen umgehen, ist der zweite wesentliche Unterschied zu den meisten anderen Menschen», sagt Zitelmann. Viele berichteten ihm, dass sie in schweren Krisen ruhig und gelassen geblieben seien. «Sie sehen sich nicht als Opfer», sagt Zitelmann. Wenn etwas grundsätzlich schieflaufe, suchten sie nicht die Gründe zuerst in den Umständen oder bei anderen, sondern bei sich. «Daraus resultiert ein Machtgefühl, weil ich es dann auch wieder ändern kann.»

Das ist die eigentliche Kluft zwischen Siegern und Verlierern. Erfolgreiche sehen sich nie als Opfer. Sie jammern nicht, zeigen nie mit dem Zeigefinger auf andere, um Fremden die Schuld an ihrem Bankrott zu geben. Jesus opferte sich der Welt – um als Opferlamm die Welt zu besiegen. Seinen Feinden signalisiert er: Selbst, wenn ich mich eurem Willen unterwerfe, habt ihr keine Chance, meinen Siegeswillen zu brechen.

„Die Kraft erreicht ihre Vollendung in Schwachheit. So will ich nun am liebsten mich der Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi bei mir Wohnung nehme. Daher habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten. Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“

Das ist die Siegespsychologie der Pastorentochter, die immer dazu einlädt, dass man sie unterschätze und für zu schwach halte. Das gilt vor allem für Muskelmänner. Kaum zeigen sie ihren Bizeps, liegen sie auf dem Boden – und die schwache Merkel enteilt in stillem Siegesgrinsen.

An dieser Stelle tut sich zwischen Deutschland und Amerika ein Graben auf – der bereits im Neuen Testament vorgezeichnet war. Stark sein durch Schwäche ist Zeichen der leidenden Kirche oder der Kirche, die noch unterwegs ist. Die Amerikaner hatten ihren Leidensweg im alten Europa bereits absolviert. Den neuen Kontinent erlebten sie als Neu-Kanaan, das verheißene Gottesreich am Ende aller Tage. Hier verwandelte sich die Kirche der Leidenden in die Kirche finaler Geschichtssieger.

Ähnliches empfanden die Deutschen in ihrem eschatologischen 1000-jährigen oder Dritten Reich. Die Gefühle der triumphierenden Kirche in Amerika müssten sie problemlos nachvollziehen können. Doch das würde bedeuten, dass sie die theologische Struktur des Dritten Reiches erkennen und anerkennen würden.

Der Graben zu Amerika ist kein prinzipieller, sondern beruht auf einer heilsgeschichtlichen Differenz. Während die Deutschen zurücksanken in die Zeit strategischer Demut, überquerten die Amerikaner bereits den Jordan und marschierten ins Gelobte Land ein.

Dort wurden sie zum ersten Mal konfrontiert mit dem ganz und gar unbekannten und verstörenden Problem der nationalen Niederlage. Noch nie hörte man in der Inaugurationsrede eines Präsidenten Sätze des Selbstmitleids, Amerika sei zum Opfer der Welt geworden. Leichtsinnig habe sich das Land der Freigebigen von anderen ausnehmen lassen:

„Wir haben Billionen und Aberbillionen von Dollar im Ausland ausgegeben, während die amerikanische Infrastruktur zerfallen ist. Wir haben andere Länder bereichert, während sich der Reichtum, die Stärke und das Selbstbewusstsein unseres eigenen Landes sich über dem Horizont aufgelöst hat. Der Reichtum unsrer Mittelklasse ist von ihr gerissen und in der ganzen Welt verteilt worden. Viele Jahrzehnte lang haben wir ausländische Industrien auf Kosten der amerikanischen Industrie reicher gemacht, die Armeen anderer Länder finanziell unterstützt, während wir unsere eigene Armee ausgehungert haben. Wir haben die Grenzen anderer Länder verteidigt, aber uns geweigert, unsere eigene zu verteidigen.“ (Trump)

Während Amerika sich für das Wohl der Welt geopfert habe, würde die Welt mit Undank und Häme reagieren. Besonders die Deutschen, für die man so viel getan habe, würden sich mit unerträglicher Arroganz „revanchieren“. Das waren unhörbare Worte zwischen den Zeilen. Amerika fühlt sich heilsgeschichtlich degradiert und aus Gottes eigenem Land in die Niederungen ordinärer Sündervölker verwiesen. Mit 9/11 begann die Rückversetzung des unüberwindbar Gelobten Landes in ein Land, das von Gottes Racheengeln gezeichnet wurde.

Der Klassenbeste hat das Gefühl, von allen Freunden und Gegnern überholt zu werden. Trumps Empathie mit amerikanischen Arbeitern ist ein Ersatzsymptom für das Mitleid mit sich selbst und der ganzen Nation. Der mächtigsten Nation der Welt scheint das Gefühl der charismatischen Unbesiegbarkeit zu entschwinden. Sie fühlen sich verwundbar und überfremdet von Menschen, die ihnen das Erstgeburtsrecht des weißen, angelsächsischen protestantischen Mannes aus den Händen reißen.

Der Riese ist weidwund und angeschlagen. Er schlägt zurück mit gefährlicher Unberechenbarkeit. Sollen die Völker zittern, sie haben‘s nicht besser verdient.

Die Reaktion der Deutschen, die von der amerikanischen Unterstützung am meisten profitierten, ist am ärgerlichsten. Sie verschanzen sich hinter religiöser Ignoranz, um die biblische Nationalpsychologie ihrer besten Freunde nicht zu verstehen. Ja, sie erwecken den Eindruck, dass man sie hinters Licht geführt habe, seitdem sie Trumps Amerika als unbekanntes Land erleben müssen.

Das Verderben des Menschen ist der Mensch – welche Folgerungen zieht Christiane Grefe aus ihrer mutigen These? Muss der Mensch sich ändern? Was sind die Ursachen seines apokalyptischen Versagens?

Hier geht der Autorin der Mut aus. Statt eindeutiger Antworten, die zu einer eindeutigen Politik führen, beginnt sie die Spuren zu verwischen:

„Die Antwort ist vielfältig, der Hunger hat viele Gesichter.“

Sie nennt vier Gründe, die den Hunger der Menschen verursacht hätten: den Krieg, den Klimawandel, die Vernachlässigung der Subsistenzwirtschaft und politischer Zynismus. Das sind bereist sekundäre und tertiäre Folgen menschlicher Schwächen, aber keine Primärursachen.

Die primären Gründe liegen in der Psyche der weißen Eliteklassen, die von einer uralten Erlösungsreligion geprägt sind. Das Christentum ist nicht erfunden worden, um das Elend der Welt zu beseitigen. Es sollte die sündige Verstocktheit der Welt angreifen, um sie im Namen einer jenseitigen Überwelt zu besiegen. An ihrem Elend ist die Welt selbst schuld. Warum auch fiel sie von Gott ab? Ihre Nöte sind gerechte Strafen Gottes für ihr sündiges Fehlverhalten.

Zwar gibt es viel Protest in der Schrift gegen die anmaßenden Reichen. Doch nicht das Reichsein an sich wird verworfen, sondern das Reichsein, das sich seines Erfolges rühmt. Auch Armut an sich ist kein Zeichen des Auserwähltseins. Nicht selten gilt Armut als selbstverschuldetes Übel: als Folge von Faulheit, Zuchtlosigkeit und Genußsucht:

„Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weise an und lerne! Ob sie wohl keinen Fürsten noch Hauptmann noch Herrn hat, bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte. Wie lange liegst du, Fauler? Wann willst du aufstehen von deinem Schlaf? Ja, schlafe noch ein wenig, schlummere ein wenig, schlage die Hände ineinander ein wenig, daß du schlafest, so wird dich die Armut übereilen wie ein Fußgänger und der Mangel wie ein gewappneter Mann.“

Diese Verse dienten hartleibigen calvinistischen Kapitalisten zur Legitimation ihrer Ausbeutung der Armen und der Missachtung der Bettler. Selbst bei deutschen SPD-Aufsteigern wie Schröder & Clement hörte man noch deutlich die biblische Verachtung ihrer eigenen Klientel, deren angebliche Arbeitsunwilligkeit sie mit Hartz-4-Maßnahmen bestrafen mussten. Zuerst werden die Schwachen ausgeblutet, dann werden sie wegen selbstverschuldeter Faulheit bestraft. Das ist das Lied frömmelnder Blutsauger seit Jahrhunderten. Warum sollten Christen die Nöte anderer verändern, wenn sie an ihnen unschuldig sind?

Macht und Reichtum sind für Christen keine satanischen Erfindungen. Im Gegenteil, sie sind Belohnungen Gottes, die die Gläubigen in Demut empfangen dürfen. Dass westlicher Reichtum die Ursache der Misere ehemaliger Kolonialländer sei, weisen sie mit Empörung zurück. Weil Christen nicht schuldig sein können, kann es auch keine Lösungen – keine einfachen Lösungen – geben. Lösungen sind verboten, denn sie suggerieren, dass die Nöte beendbar wären.

Um Lösungen prinzipiell zu negieren, müssen Spuren a priori verwischt werden. Alles muss komplex und vieldeutig sein, damit keine Schuldigen an den Pranger gestellt werden können. Der Markt kennt keine rationalen Ursachen, er handelt nach Zeit und Zufall. Was auch immer geschieht, geschieht: der Name des Marktes sei gepriesen.

Die Schuldunfähigkeit gilt nicht nur für den Kapitalismus, sondern auch für den Kommunismus, einem anderen Wort für Marxismus:

„Im Namen keiner Ideologie wurden mehr Menschen umgebracht, keine Weltanschauung hat mehr Leben verbogen: Der Kommunismus, ganz korrekt ausgedrückt der Marxismus-Leninismus besonders in seiner stalinistischen und seiner maoistischen Spielart, war verheerender als Hitlers Rassenhass und seine Wahnidee vom „Lebensraum im Osten“. (WELT.de)

„Kommunisten wollten das dumme Volk zum Glück zwingen“. Auch der Neoliberalismus will das dumme Volk durch Abhängigkeit, lebensunfähige Löhne, Deklassierung und Ausgrenzung zum „Glück“ der Abgehängten und Loser nötigen.

Der Urheber des Kommunismus ist ein deutsches Genie namens Karl Marx. Anstatt ihn auf die Anklagebank zu setzen, wird er von deutschen Linken wie ein Erlöser angebetet. Seine theoretischen Fähigkeiten sollen davon ablenken, welches Unglück er über Millionen von Menschen gebracht hat. Auch Bertold Brechts Satz ist nicht eindeutig. Als Marxist glaubte Brecht, dass nicht der Mensch, sondern die materiellen Verhältnisse das Schicksal des Menschen bestimmen würden.

Die Verlierer der heilsgeschichtlichen Konkurrenz sind an ihrem Elend selber schuld. Die Gewinner können gar nicht schuldig sein. Selbst wenn sie schuldig wären, wären sie unschuldig. Warum? Ihr himmlischer Vater vergibt ihnen alle Schuld, wenn sie ihn darum bitten. Die Religion der Schuldvergebung eliminiert alle Schuld, somit alle Ursachen weltlicher Katastrophen.

Wessen Schuld ständig unter den himmlischen Teppich gekehrt wird, der kann aus seinen Fehlern nicht lernen. Wer ist denn nun schuld? Der Gottseibeiuns, der Satan, der Teufel, das inkarnierte Böse. Mit dem Bösen haben Wiedergeborene nichts mehr zu tun.

Herr, vergib ihnen nicht, denn sie wollen nicht wissen, was sie tun.

Die Schuld, die der Mensch dem Menschen antut, ist unentschuldbar. Nur Erkennen begangener Schuld kann zukünftiger Schuld entgehen.

 

Fortsetzung folgt.