Kategorien
Tagesmail

Weltdorf LXIX

Hello, Freunde des Weltdorfs LXIX,

„Narziss verliebt sich in sein Spiegelbild; nicht erkennend, dass es sein eigenes ist, will er sich mit diesem Spiegelbild vereinigen und ertrinkt.“

Nein, so war‘s nicht, so harmlos kann‘s nicht gewesen sein. Es war vielmehr so:

Der Knabe begründete den Club „maligner“ Schwerkranker, in der Hoffnung, das kommende Abendland – das ohne seinen unheilvollen Einfluss zu einem Kontinent von Engeln zu werden drohte – mit Psychotikern zu infiltrieren, die sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Dem Club durften nur Personen beitreten, die die folgenden, wissenschaftlich erhärteten Bösartigkeitssymptome nachweisen konnten:

„Bösartige Narzissten tun alles, um an ihr Ziel zu kommen. Sie können intelligent und hochgradig funktionsfähig sein und so beispielsweise wichtige Jobs ausüben. Sie können charmant sein, emotional wirken, würdevoll, freundlich und sie können Beziehungen führen.“ Doch diese Menschen sind unter Umständen tickende Zeitbomben: „Sie können lügen, falsche Anschuldigungen erheben, dramatisieren, stehlen, manipulieren, verleumden oder Fakten verdrehen. Sie fühlen sich im Recht und sind so egozentrisch und besessen, dass sie dies nicht als falsch ansehen. Sie haben keine Schuldgefühle oder Reue und fühlen sich missverstanden.“ (BILD.de)

Das war die Rache des teuflischen Heidentums an der Kultur der Frommen, die kein Böses kennen, denen die abscheuliche Gestalt des Teufels unbekannt ist – und die allen Menschen Glück auf Erden und ewige Seligkeit im Himmel wünschen. Der christliche Westen wäre ein Garten Eden, mit wunderbar digitalisierter Flora und Fauna, nächstenliebenden Maschinen und unsterblichen Menschen, die Krankheit und Not überwunden haben und das Böse für die Erfindung von Gottlosen halten.

Wie kann man sich in sich selbst verlieben, wenn man kein „Selbst“ hat? Narziss hatte sich nie gesehen, wie konnte er wissen, wovon er fasziniert war? Er war nicht von

sich, sondern von der Schönheit hingerissen. Narziss schädigte keinen einzigen Menschen, nicht mal sich selbst. Sein Freitod war eine orgiastische Rückkehr zur Schönheit des Kosmos.

In klügeren Zeiten war Schönheit etwas Objektives. Verliebt sein hingegen ist das Subjektivste, das einem Sub-jekt widerfahren kann. Subjekt heißt „Untergeordnetes, Unterworfenes“. Die Philosophie der Moderne ist eine des Subjekts, eines Unterworfenen.

Wie kommt es, dass die „subjektive Wendung“ an der Schwelle der Neuzeit zu einer gigantesquen Philosophie des Übergeordneten, Unterwerfenden werden konnte, in der das Ich-Subjekt zu einem gottähnlichen Ding expandierte, von dem Heil und Unheil der ganzen Welt abhängig ist? Wie konnte es kommen, dass der Christ, der sich Gott unterordnen musste, zum Herrn der Welt aufstieg?

Weil die Abendländer schon immer „Fake News“ liebten, um dem scharfen Maßstab einer objektiven Sprache zu entgehen. Wer schon Ebenbild eines allmächtigen Gottes ist, der alles aus Nichts zaubert und ins Nichts vernichtet, der wird doch auch omnipotent über Sprache bestimmen können. Es ist doch nur der Umschlag ins Gegenteil, wenn man das Untergeordnete ins Allesbestimmende und Überordnende – verwandelt? verbiegt? verfälscht?

Von Verfälschung kann keine Rede sein, wenn man dem scharfsinnigen Schwaben folgt, der die Dialektik erfand, um dem heidnischen Diktat folgerichtiger Logik zu entkommen. Seitdem gilt: je unlogischer und widersprüchlicher, desto gottgleicher muss das wirre Stammeln sein. Die komplette Negation der Wahrheit durch die Widerrede des Bösen kann es nicht geben. Denn der Gottseibeiuns hat nur die pädagogische Funktion, die unentfaltete Wahrheit durch Provokation zur vollendeten Wahrheit am Ende aller Dinge hindurch zu manövrieren. Ende gut, alles gut: Gott wird sein alles in allem.

„Gegensätze aufzuheben ist das einzige Interesse der Vernunft“. (Hegel)

Gibt es keine Gegensätze mehr zwischen Wahrheit und Lüge, kann es auch keine Unwahrheiten mehr geben. Widersprüche haben dieselbe förderliche Funktion für die synthetische Wahrheit am Ende der Zeiten, wie Mephisto für die Entwicklung des Faust. Jesus hatte die Unwahrheit der Welt am Kreuz überwunden, Hegel übersetzte den Sieg in philosophische Begriffe. Die Wahrheit der christlichen Lehre musste nicht mehr bewiesen, sie musste nachträglich exekutiert werden. Hegel spöttelte über die Verteidiger der christlichen Lehre, die so taten, als hinge der Endsieg des Glaubens von ihrem dogmatischen Lehrbuch ab: „Die Wahrheit der christlichen Religion wird immer bewiesen, man weiß nicht, für wen, denn wir haben nicht mit den Türken zu tun.“

Die Wahrheit des Glaubens ist nicht, sie wird. Im Werden saugt sie alle Widersprüche in ihr dialektisches Mahlwerk, mit dem sie alles zum endgültigen Wahrheitsbrei zermalmt. Den Kampf der Widersprüche bringt sie zur göttlichen Versöhnung. Das Böse oder der Widerspruch ist keine Macht an sich. Seit dem Sieg des Erlösers über Tod und Teufel ist der Endsieg des Wahren nicht mehr gefährdet. Die vorhandenen Kämpfe sind nur noch Scheinkämpfe, die den Restmüll der Geschichte wegschwemmen müssen, um dem kommenden Messias Blumen zu streuen.

Unschwer zu erkennen, dass Hegel die philosophische Grundlage für die deutenden Hexenkünste der romantischen Theologen (Schleiermacher) lieferte, die aus jedem X ihrer Heiligen Schrift ein Y machen konnten. Die „weltliche Philosophie“ der Postmoderne immer in gleichem Schritt und Tritt hinterher. Aus Ich, dem Subjekt, das vollständig von der objektiven Realität abhängt, wird das Ich der Moderne, das sich über die Natur erhoben hat und alles aus der Gewalt seiner Allmacht bestimmt. Hegels „Objektiver Geist“ wird zu Fichtes allmächtigem „Ich“.

Was bedeutet die Vergöttlichung des Ich, die Umkehrung des griechischen Ichs, das in Erkennen und Handeln vom Kosmos abhängig blieb?

Gegenüber der Natur blieb das heidnische Ich immer ein Untergeordnetes, das seine Wahrheit im Nachdenken über die vollkommene Ordnung des Objektiven suchen musste. Es ist ein Märchen der Gelehrten, dass es bei Sokrates eine subjektive Wendung der griechischen Philosophie gegeben habe. Sokrates wandte sich ab von der äußeren Natur – die ihm nichts sagte –, um sich seiner inneren Natur zuzuwenden. Die Erkundung des sokratischen Ich durch das Gebot: „erkenne dich selbst“ war die Komplettierung der naturphilosophischen Devise: erkenne die Natur – die ebenfalls zur Selbsterkennung des Menschen führen sollte.

Fichte, die deutsche Krönung der modernen Gigantomanie, vollendete die Gottwerdung des Ich: „Bisher hatten alle Philosophen die Wirklichkeit außer sich gehalten. Das Sein war draußen, war die Welt der Dinge an sich. Jetzt ergab sich: dieses Denken und Handeln ist selbst die eigentliche Wirklichkeit und sie hat ihre Einheit im Ich. „Es gibt nur Geist“. Hier schafft das Denken seinen eigenen Gegenstand und muss sich ganz durchsichtig sein, weil es sich selbst schafft. Die Trennung von Gewissheit und Wahrheit ist hier aufgehoben. Man weiß, was man ist. Hier gibt es kein bloß theoretisches Erkennen mehr. Es ist Tathandlung. Stärker konnte sich die Lehre von der Absolutheit des Geistes, vom Ideal der Person, vom Schöpfertum nicht formulieren. Die Welt ist nicht fertig, sondern wir stehen mitten im Schöpfungsprozess. Eine Welt als Produkt des vollendeten und erschöpften Schaffens gibt es nicht. Bisher war das geistige Leben von dem Göttlichen getrennt, jetzt ist das geistige Leben das Leben Gottes, es gibt nichts außer ihm. Die Ewigkeit bricht nicht erst jenseits des Grabes an, sondern sie kommt mitten in die Gegenwart hinein. Das war eine Umstimmung des religiösen Bewusstseins von der größten Bedeutung. Mitten in der Endlichkeit, schreibt Schleiermacher, werden wir durch das gottähnliche Ich eins mit dem Unendlichen, ewig seiend in jedem Augenblick.“ (Hermann Nohl, Die Deutsche Bewegung)

Fichte ist der Höhepunkt der Deutschen Bewegung, jener Vergottung des Ichs, das mit der Welt schalten und walten kann, wie es will. Die theologische Antinomie – dass Gott und die Seinen keiner menschlichen Logik und Moral verpflichtet sind – wird zum Inbegriff einer unfehlbaren Wahrheit.

„Antinomie als der sich selbst aufhebende Widerspruch ist der höchste Ausdruck der absoluten Identität“. (Hegel)

Mit anderen Worten: Wahrheit wird vom göttlichen Ich produziert, sie hängt nicht ab von außer-menschlichen Größen. Da das Ich vereint ist mit Gott, kann es keine Macht geben, die dem Menschen vorschreiben könnte, was er zu tun und machen hätte.

Die Deutsche Bewegung ist der Urgrund der deutschen Selbstvergottung im Dritten Reich. Der philosophischen Gigantomanie der Deutschen, die direkt in den Herrenglauben der Nationalsozialisten mündete, entspricht der biblizistische Glaube der Amerikaner, das Neue Kanaan der Heilsgeschichte zu sein.

Im totalitären Reich arischer Herrenmenschen gab es keine demokratische Gegenkraft, um die Despotie der Siegerrasse zu mildern und einzuschränken. Die Deutschen setzten auf Ausrotten und Unterjochen, um der Welt das Heil zu bringen.

Die Amerikaner wollten den Völkern die Vorzüge der Freiheit bringen – ohne zu bemerken, dass ihre Befreiungskriege und ihre dominanten Wirtschaftsmethoden der Gleichberechtigung aller Menschen ins Gesicht schlugen. Die Deutschen vollstreckten Zwangsbeglückung mit Mord und Totschlag, die anderen bevorzugten den strangulierenden Freihandel und die Dauerpräsenz ihrer Militärgewalt.

Nach dem 2. Weltkrieg war Amerika die vortrefflichste Demokratie der Welt. Doch jetzt, nach vielen Verschleißerscheinungen und Niederlagen, rebelliert der Neoliberalismus gegen die lästigen Verpflichtungen einer mündigen Volksherrschaft und scheut sich nicht, die demokratischen Bestandteile abzumontieren. Auch Trump ist ein gefühlstrunkener Fichteaner, dem nichts verboten scheint.

In seinem Gedicht „Dem Allgegenwärtigen“ zeigt der fromme Klopstock das ganze Maß deutscher Selbstvergötzung:

„Hier steh ich Erde! was ist mein Leib,
Gegen diese selbst den Engeln unzählbare Welten,
Was sind diese selbst den Engeln unzählbare Welten,
Gegen meine Seele
!“

Hegel wird später schreiben, dass selbst das Verbrechen eines Menschen höheren Wertes ist als die Sonnensysteme. Da darf Faust, unfehlbar in seinem dunkeln Drange, nicht fehlen:

„Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen,
Mit meinem Geist das Höchst‘ und Tiefste greifen,
Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,
Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,
Und, wie sie selbst, am End auch ich zerscheitern.“

Der Chor der Geister ahnt und beklagt, was täglich realistischer erscheint: die Zerstörung der schönen Welt:

„Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt
!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber,
Und klagen
Über die verlorne Schöne.“

Das sind die gemeinsamen Grundlagen der deutschen und amerikanischen Hybris. Die Deutschen haben ihre faustischen Zerstörungsvisionen mit schrecklichem Ergebnis in die Tat umgesetzt. Die amerikanischen Visionen sind zur Ideologie des ganzen Westens, ja, zur realen Politik der Völkergemeinde geworden. Hier geht es vordergründig nicht um absolute Herrschaft einer überlegenen Rasse und die Vernichtung eines „diabolischen“ Volkes, hier geht es um die „Rasse“ der ökonomisch Stärksten, die Erniedrigung der Schwachen und die Beschädigung der gesamten Natur.

Noch steht alles in den Anfängen. Prophetische Voraussagen sind nicht möglich, denn die Geschichte ist nicht festgelegt. Was geschehen wird, hängt von der demokratischen Potenz aller Völker ab, die besser daran täten, den Anfängen zu wehren, als den vertanen Chancen einer planetarischen Prophylaxe zu spät nachzutrauern.

Die Rolle der Deutschen ist kaum einzuschätzen. Ihr demokratisches Selbstbewusstsein ist gestiegen, ihre Empörung gegen Trump war spontan und überwiegend einhellig. Ihr guter Wille, in der Welt friedensstiftend zu wirken, ist nicht zu bestreiten. Doch Wollen und Können sind zweierlei.

Können beruht auf der Kooperation aller menschlichen Ich-Instanzen. Das historische Bewusstsein der Deutschen ist mangelhaft. Was wissen sie über die gemeinsamen Wurzeln westlicher Naturverwüstung bei ihren Dichtern und Denkern, auf die sie noch immer kritiklos stolz sind? Gibt es einen einzigen Deutschlehrer in der Republik, der auf die Ähnlichkeit zwischen Faust und Trump hinwiese? Der das gottähnliche Ich Fichtes als die Hauptursache der ökologischen Selbstvernichtung bezeichnen würde?

In Gymnasien wird kaum noch Goethe gelesen, geschweige philosophische Kurse angeboten. Freies Denken als Hauptbedingung aller Bildung wird den Erfordernissen karrieristischer Erfolgsmethoden geopfert. Die lutherische Obrigkeit will Fachleute, keine Demokraten.

Eine Kanzlerin glaubt unverrückt an eine Konkurrenzwirtschaft, die alle Solidarität vernichtet. Ihre demütige Selbstdarstellung scheint ein Kontrast zum amerikanischen Präsidenten zu sein. Der Schein trügt: die Letzten werden die Ersten sein. Wer euer aller Herrin sein will, sei euer aller Magd.

Die Empörung gegen Trump kann leicht zur Heuchelei werden, wenn wir nicht den Trump in uns erkennen. Wie Faust ist die deutsche Politelite nicht in der Lage, die Gegenwart mit klaren Begriffen zu benennen. Das wäre zu einfach, zu leicht, wie sie ihre Selbstverdummung zu formulieren pflegen. Der Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des Weges wohl bewusst: auf diese vernunftfeindliche Empfehlung eines göttlichen Dunkelmannes verlassen sie sich noch heute. In Nebelbegriffen und hohlen Reden stochern sie am liebsten. Ich bin noch neugierig, erklärte Merkel, um ihren zukünftigen Machtanspruch zu rechtfertigen. Das ist Kindergartensprache – die die Pastorentochter aus dem Effeff beherrscht.

Schon Faust schwafelte in religiösen Dingen. Sein Rezept gilt heute für alle Bereiche der gesellschaftlichen Debatte:        

„Nenn‘ es dann wie du willst, / Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch“. So könnte auch Merkels neues Politprogramm formuliert sein. Fehlt nur der Zusatz: Sie kennen mich. Was soll ich denn lange schwatzen?!

Marcel Fratzscher, ein Ökonom, der seiner Zunft immer öfter widerspricht und die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm attackiert, verfällt leider der faustischen Schall-und Rauchmethode, um die Deutschen vor einer vergeblichen Debatte um Gerechtigkeit zu warnen, indem er seine Form der Gerechtigkeit nur mit anderen Worten benennt:

„Anders als Ungleichheit, die belegt und deren Auswirkungen bemessen werden kann, ist Gerechtigkeit etwas Subjektives, und eine Debatte um Gerechtigkeit wird die Polarisierung der Gesellschaft eher verschärfen als lindern. Deutschland braucht keinen Streit über Gerechtigkeit, zu dem es nie eine definitive Antwort geben kann. Es benötigt einen Austausch darüber, wie unsere Gesellschaft zusammenwachsen und funktionieren kann. Und dafür muss die Frage in den Mittelpunkt rücken, nach welchen Grundsätzen wir unser Zusammenleben regeln wollen. Anders als Ungleichheit, die belegt und deren Auswirkungen bemessen werden kann, ist Gerechtigkeit etwas Subjektives, und eine Debatte um Gerechtigkeit wird die Polarisierung der Gesellschaft eher verschärfen als lindern. Deutschland braucht keinen Streit über Gerechtigkeit, zu dem es nie eine definitive Antwort geben kann. Es benötigt einen Austausch darüber, wie unsere Gesellschaft zusammenwachsen und funktionieren kann. Und dafür muss die Frage in den Mittelpunkt rücken, nach welchen Grundsätzen wir unser Zusammenleben regeln wollen.“ (ZEIT.de)

Doch eben dies ist Gerechtigkeit, den Ursachen des Zerfalls einer Gesellschaft nachzudenken. Wenn die Grundgesetze unseres Zusammenlebens funktionieren sollen, müssen sie gerecht sein. Es ist ein Bankrott der Vernunft, Debatten für vergeblich zu halten, weil jeder eine andere Meinung habe. Dann könnten wir uns den demokratischen Streit um das bestmögliche Leben gleich völlig ersparen. Quantitative Vergleiche allein nützen nichts. Zahlen und Fakten müssen durchdacht und bewertet werden, um eine gesellschaftliche Verständigung zu erzielen.

Nelles deklassierte im SPIEGEL die Kritiker des Establishments zu ressentimenthaften Verlierern der Moderne. Das ist nicht mehr weit entfernt von der Reaktion Trumps auf seine Kritiker: was haben Sie denn im Leben erreicht? Wie viele Milliarden haben Sie verdient, dass Sie hier berechtigt wären, den größten Master of Universe mit Neid und Missgunst zu behelligen?

Die Gerechtigkeitsdebatte (welche? es gibt gar keine!) sei in Deutschland von Gefühlsäußerungen bestimmt, so Fratzscher:

„Ob die Verhältnisse als gerecht oder ungerecht empfunden werden, ist gar nicht der Punkt. Da Gerechtigkeit etwas völlig Subjektives ist, würde eine Debatte über sie die Polarisierung der Gesellschaft und damit das Gefühl der Ungerechtigkeit bei vielen eher noch verschärfen.“

Nichts am Menschen ist allwissend. Sein Intellekt kann irren, seine Gefühle ihn täuschen, sein Wille ihn im Stich lassen. Vernunft aber nimmt nicht das Hackebeilchen der Chirurgen und zerlegt den Menschen in Einzelteile. Vernunft ist nicht gefühlsallergisch und abstrakt, sondern verbindet alle menschlichen Fähigkeiten zur Einheit. Der vernunftgeleitete Mensch denkt, was er fühlt, fühlt, was er denkt und will, was Denken und Fühlen ihm unisono mitteilen. Solange die Instanzen miteinander im Konflikt liegen, ist es das sichere Zeichen der Zerrissenheit des Menschen.

Eben dies wäre die lohnende Aufgabe kleiner Politzirkel, die Zerrissenheit der Menschen zu entschlüsseln und ihnen die Möglichkeit der Selbstbesinnung zu geben. Medien kennen keine Debattenkultur, Politiker haben die sophistische Überredungskunst der Rhetorik zu einer unaufhörlich anbrandenden Suggestionsmethode perfektioniert.

„Was aber die Sophisten betrifft, die beanspruchen, die Staatskunst zu lehren, so sind sie offensichtlich weit davon entfernt, dies auch tun zu können. Denn sie wissen überhaupt nicht, was sie ist und mit was sie sich befasst. Denn sonst würden sie sie nicht mit der Rhetorik gleichsetzen oder ihr unterordnen.“ (Nikomachische Ethik)

Die bösartigen Charaktereigenschaften sogenannter Narzissten sind Schauermärchen der Moderne, die alle Urahnen ihrer Neurosen und Psychosen bei den heidnischen Griechen suchen. Dabei ist es mit Händen zu greifen, dass dem gottähnlichen Gläubigen der Erlöserreligionen keine Schandtat verboten ist, um das Ziel seiner eschatologischen Weltherrschaft zu erreichen. Seine Seligkeit muss der Gläubige mit allen Mitteln durchsetzen.

„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, dann werden euch alle diese Dinge hinzugefügt werden.“

John Bunyans Glaubensheld muss seine Familie erbarmungslos im Stich lassen, um seinen Wettlauf in die Goldene Stadt nicht zu verlieren. Gibt es eine bösartigere Aufforderung zu einem „malignen Narzissmus“ als die folgenden Verse, die zum radikalen Bruch mit der Familie auffordern:

„Und wer verläßt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird’s hundertfältig nehmen und das ewige Leben ererben“. „Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert.“

Das war die programmatische Destruktionsankündigung der christlichen Familie und aller empathischen Gefühle, die der Mensch von Natur aus zu seinen Liebsten besitzt.

Trump ist ein ordinärer, prahlend auftretender Din-A4-Kapitalist. Weltlicher Erfolg ist das Siegel der Erwählung und eine Vorabzahlung der ewigen Seligkeit. Nur der Erste zählt, schon der Zweite ist Verlierer: das Familienmotto der Kennedy-Dynastie ist paulinischer Herkunft:

„Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken laufen, die laufen alle, aber nur einer erlangt den Preis? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!“

Sollte Trump ein unheilbarer Narzisst sein: egoistisch, autistisch, unsolidarisch, asozial, gnadenlos, Welt und Familie hassend, seinen Erfolg und seine Macht mit allen Infamien durchpeitschend – dann wäre der christliche Glaube die narzisstischste und gefährlichste Religion der Welt.

„Ihr Abtrünnigen, wisst ihr nicht, dass die Freundschaft mit der Welt Feindschaft wider Gott ist? Wer also Freund der Welt sein will, der erweist sich als Feind Gottes!“

Humane Politik will Freundschaft mit der Welt. Sonst nichts? Sonst nichts.

 

Fortsetzung folgt.