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Weltdorf LX

Hello, Freunde des Weltdorfs LX,

Onan war nicht der Begründer der Onanie: er ließ es auf die Erde fallen. Kirchenlateiner, die versiertesten Sexologen der Welt, sprechen von coitus interruptus. Indem der Mann der Frau ekstatische Lust und Besamen verweigerte, wurde er zum Begründer des individuellen Eigentums oder zum Vorläufer des Kapitalismus.

Die gezeugten Kinder wären nicht die seinen, sondern die seines Bruders, begründete Onan seine Zeugungsverweigerung. Der Mann wollte, nachdem er das Weib bereits besaß, auch seine selbst produzierten Kinder besitzen. Creo, ergo sum; was ich kreiere und produziere, ist mein Eigentum. Was ich besitze, bin ich.

Erfinden, Produzieren ist extrauterines Besamen. Kreativität und Produktivität sind männliche Potenzen. Je mehr sie es auf die Erde fallen lassen, je mehr Dinge und Profit entwachsen dem Boden und werden zu ihrem Eigentum. (Nein, wir reden jetzt nicht über Gabriels beruflichen coitus interruptus kurz vor dem Orgasmus seiner Karriere.)

„Er, der Erstgeborene Judas, missfiel dem HERRN; darum tötete ihn der HERR. Da sprach Juda zu Onan: Gehe zu deines Bruders Weib und nimm sie zur Ehe, daß du deinem Bruder Samen erweckest. Aber da Onan wußte, daß der Same nicht sein eigen sein sollte, wenn er einging zu seines Bruders Weib, ließ er’s auf die Erde fallen und verderbte es, auf daß er seinem Bruder nicht Samen gäbe. Dem HERRN missfiel, was er tat, und er tötete ihn auch.“

Sieben weise Frauen, unter ihnen keine einzige Pastorentochter, beschlossen in Washington drakonische Strafen für Männer, die den Frauen

Lust und Kinder verweigern, indem sie es auf den Boden fallen lassen und algorithmische Sexpartnerinnen erfinden, mit denen sie fremd gehen. Ordinäre Onanie, Ehebruch mit Maschinen und Frauenhass per Lustverweigerung sollen mit lebenslanger Verbannung nach Silicon Valley geahndet werden.

„Es ist widerlich, zu sehen, wie sieben Männer darüber bestimmen, was Frauen mit ihren eigenen Körpern machen dürfen und was nicht. Wie es sieben alte bis sehr alte Männer denjenigen Frauen, die ihr Kind aus unterschiedlichen Gründen nicht behalten können, unendlich schwer machen, wichtige Informationen über alternative Möglichkeiten und Empfängnisverhütung zu erhalten. So lange du lebst, wirst du niemals ein Foto mit sieben Frauen sehen, die ein Gesetz unterzeichnen, das bestimmt, was Männer mit ihren Fortpflanzungsorganen machen dürfen.“ (Ze.tt)

Wer hätte das gedacht? Aufklärer waren die fanatischsten Gegner der Masturbation, woraus wir folgern müssen, dass sie noch gewaltig unter dem Einfluss ihres Kinderglaubens standen. Aufklärung ist kein abgeschlossenes Projekt. Sondern ein unaufhörliches Lernen.

„Für Kant war Selbstbefriedigung schlimmer als Suizid. Anders als beim Selbstmord, bei dem das Individuum aus freien Stücken in echter Verzweiflung handelt, ist der Onanist ein willenloses Objekt seiner Begierde.“ (ZEIT.de)

Allerdings spürten die Aufklärer etwas Richtiges: den asozialen und frauenfeindlichen Aspekt egoistischer Lustbefriedigung.

„Für die Aufklärer gaben nicht Religion oder Staat moralische Maßstäbe vor, sondern das Individuum im Zusammenspiel mit anderen Individuen. Wer masturbiert, verriet nach ihrer Ansicht dieses hehre Prinzip. Er gibt sich einem rein ichbezogenen – und damit unsozialen – Vergnügen hin. Im deutschen Wort Selbstbefleckung steckt all dies drin. Der Onanist befleckt das höchste, sein Selbst.“

Die religiöse Ablehnung der Selbstbefriedigung hingegen bezieht sich nicht auf das asoziale Verhalten des Mannes, sondern auf die nutzlose Verschwendung des männlichen Samens. Sollte doch letzterer ursprünglich dazu dienen, das biblische Gebot zu erfüllen: seid fruchtbar und mehret euch. Die Anzahl der Kinder ist ein Index der Macht.

Weil biologisches Zeugen vieler Kinder von vielen Eltern nicht mehr finanziert werden kann, der Mann zudem von der Frau abhängig bleibt, sind die Herren der Schöpfung zum technischen Zeugen übergegangen. In ihren genialen Laboren können sie frauen-unabhängig endlose Kinder aus Metall hecken, deren Vollkommenheit die Sterblichkeit und mangelnde Intelligenz leiblicher Kinder bald überwunden haben wird. Der geniale Samen der Männer überflutet die Erde in Form von IQ-Robotern und auf Knopfdruck gehorchenden Ersatzfreunden.

Pater semper incertus, der Vater ist immer unsicher – solange die Frau das entscheidende Element der Zeugung ist. Um die patriarchalen Besitzverhältnisse zu sichern, muss die Frau zur bloßen Austrägerin des vom Manne produzierten Kindes degradiert werden. Gott braucht für seinen Sohn nur eine Dienerin oder einen irdischen Brutkasten. Er selbst zeugt durch das Wort oder den Logos, den man auch mit Intellekt übersetzen kann. Genies zeugen mit dem Intellekt. Ihr Kopf ersetzt den weiblichen Schoß. Ihr Roboternachwuchs wird die Frucht des weiblichen Leibes in den Schatten stellen. Aischylos hat den Geschlechterkampf protokolliert:

„Nicht ist die Mutter des Kindes ihre Zeugerin. Sie hegt und trägt das neue Leben nur. Es zeugt der Vater. Denn Vater kann man ohne Mutter sein: Beweis ist die eigne Tochter des Zeus, die nimmer eines Mutterschoßes Dunkel barg.“

Athene entsprang dem Kopf des Zeus und wurde Göttin der Weisheit und Intelligenz. Das war eine Kampfansage an die Zeugungskraft der Frau. In Zukunft sollen alle technoiden Kinder dem Großhirn der Männer entspringen. Die Frau wird evolutionär ausrangiert.

Nein, die Geschichte des Eigentums beginnt nicht mit jenem Frühkapitalisten, der sein Land einzäunte, um es zu seinem Besitz zu erklären. Rousseau und Marx irrten. Die Geschichte des Eigentums begann mit koitalen Waffen der Begattungsverweigerung. Wie viele potentielle Kinder verderben, wenn der Mann sein Bestes verschleudert? Zuerst nahm der Mann Frau und Kind zum Besitz, dann das Ackerland, das der matriarchalen Frau gehörte.

Am Anfang schuf kein gottähnlicher Mann die Erde mit seinem hohlen Wort. Am Anfang war die anfangslose mütterliche Natur, und das Land gehörte der Frau. „Der Besitz an Grund und Boden bildete sich in den Händen von Frauen. Denn Frauen waren die ersten, die das Land bebauten und auf diesem Wege den Besitz mit Grund und Boden begründeten. Frühe ägyptische Schriften schildern die Frau im vollen Besitz der Macht über sich selbst und ihr Heim; Besitz fiel von der Mutter an die Tochter. Die bedeutsamste Umwälzung in Griechenland war der Übergang von der weiblichen zur männlichen Erbfolge und die sich daraus ergebende Zerstörung der Familienzusammengehörigkeit.“ (Walker, Das geheime Wissen der Frau)

Nun wissen wir, warum das Heim-chen am Herd vernichtet werden muss: das Heim war Eigentum der Frau und Mittelpunkt der Sippe. Frauen müssen abhängig sein vom Mann. Also dürfen sie für ihre Erziehungs- und Sippenerhaltungsarbeit nicht entlohnt werden, damit sie dem Mann in die kapitalistische Falle folgen müssen. Will sie unabhängig sein vom Patriarchen, muss sie das Patriarchat als eisernes Gehäuse akzeptieren. Das Ende des Matriarchats war das Ende der selbstbestimmten Frau.

Als die christlichen Nationen den afrikanischen Kontinent besiegten, sorgten sie dafür, dass „den Frauen das Land weggenommen und ihren Ehemännern übergeben wurde.“ Der weltweite Kolonialismus des weißen Mannes war eine planetarische Enteignung der selbständigen Frau.

„Religiöse patriarchalische Autoritäten veränderten überall die Systeme der weiblichen Erb-Folge. Sie verfolgten das Ziel, den Reichtum in den Händen von Männern zu konzentrieren. Das Ziel der europäischen Christenheit war es, zu Reichtum zu kommen, und zu diesem Zweck mussten die heidnischen Systeme mütterlicher Erbfolge abgeschafft werden. Die fehlende Kontrolle über Geld und Besitz ist bis heute das größte Hindernis für Frauen, mit ihren Kindern die gewalttätigen und lieblosen Ehemänner zu verlassen. Die jahrhundertelangen patriarchalischen Unterdrückungen haben ihr Ziel erreicht.“

Die Frau in den Fängen eines naturzerstörenden Systems bedeutet das Ende jener Nestsicherheit, in der der Mensch das Urvertrauen zum Menschen gewinnen und sein Selbstbewusstsein entfalten konnte. Nur ein autonomes Ich kann das Du in jedem Menschen entdecken, als Bereicherung empfinden und als gleichwertiges Wesen anerkennen.

Familie ist keine christliche Erfindung. Im Gegenteil, der Herr zerstörte die familiäre Loyalität durch willkürliche Seligkeitsversprechen an den isolierten Einzelnen, der seine Familie als tödliche Konkurrenz um die wenigen Plätze im Himmelreich empfinden muss. Der Kampf um himmlisches Sein oder Nichtsein geht mitten durch die Sippe der Liebsten und Nächsten.

Die Konkurrenz um Himmel und Hölle ist das Urmuster der kapitalistischen Konkurrenz, die jeder phrasenhaften Versöhnung Hohn spricht. Abendländische Werte, die sich mit Empathie und Solidarität brüsten, werden durch gnadenlose Konkurrenz am Boden zerstört.

In der Willkommenskultur gegenüber Fremden – keiner Erfindung Merkels, sondern der Basis – zeigte sich eruptiv das verschüttete und unterdrückte Bedürfnis der Deutschen nach spontaner Humanität. Nicht länger schämte sich der Citoyen seiner Mitgefühle mit dem leidenden Menschen. Gefühle, die in einer Gesellschaft doktrinärer Trumpisten als sentimentale Gutmenschlichkeit und faschistoides Heilsversprechen verspottet werden. (Der Papst warnte vor charismatischen Heilsbringern – also vor sich selbst. Noch immer ist er oberster Vertuscher aller klerikalen Knabenschänder.)  

So weit haben wir es gebracht, dass wir schamrot werden müssen ob unserer mitfühlenden Fähigkeiten – die wir aber von unseren Kindern doktrinär verlangen. Allerdings nur bis zum Eintritt ins Berufsleben, dann müssen sie zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt sind.

Was mit der männlichen Hochkultur begann, erlebt in Trump seinen vorläufigen Höhepunkt. Die Männer haben die ganze Erde zu ihrem Eigentum gemacht. Das Riesenprojekt der Naturunterjochung und des Ausschließens von Frau und Kind steht kurz vor der Vollendung. Frauen und Kinder werden abserviert. Das Abtreibungsverbot zeugt keineswegs von Liebe zum Leben. Der Mann will die Zahl der Kinder selbst kontrollieren, denn eine elitäre Dynastie mit vielen Kindern bedeutet Macht. Unterschichten können sich keine Kinder mehr erlauben: sie sollen sich aus dem Staube machen.

Nun beginnt die offizielle Herrschaftsepoche der Reichen. Schon immer gehörten sie zu den Mächtigen. Doch mit Trump wird Reichsein zur obszön in alle Welt geplärrten Erwählung. „Schauen Sie sich doch an, Sie haben es zu nichts gebracht“, herrschte ein reicher VIP aus Hollywood den grünen Politiker Trittin in einer Talk-Show an. Wer nicht mindestens Milliardär ist, für den wäre es besser, er wäre nie geboren.

Beim Lob des Zasters sind die Medien stets vorn dabei. Der Pöbel könnte auf die Idee kommen, die herrschenden Verhältnisse zu stürzen. Also muss er zum grenzenlosen Mehr gereizt werden: schaut, das teuerste Haus, die prächtigste Yacht, der luxuriöseste Jet, die schönsten Anwesen.

Alle Schreiber legen Wert auf den Narzissmus des neuen Präsidenten. Narzissten wären süchtig nach Bestätigung. Welch Nonsens: jeder Mensch braucht permanent die Bestätigung seiner Mitmenschen. Trump & Co hingegen brauchen Bewunderung und kritiklose Anbetung: sie sind die Größten unter der Sonne. Trump hält sich für den besten Job-Erschaffer aller Zeiten.

Wer zufrieden ist, muss als Feind der Moderne und des Fortschritts betrachtet werden. Zufriedenheit ist das Brandzeichen der Hinterwäldler. Glück ist Langeweile. Der Glückliche hat nichts zu erzählen, er kennt keine Ziele, meidet alle Risiken.

Goethes zur Unzufriedenheit verdammter Faust, der das Böse als Stimulans seiner Sucht nach dem Maßlosen benötigt, könnte das Vorbild Trumps sein. Doch Trump wird bei uns verabscheut, Faust zum deutschen Heros verklärt.

Gelegentlich wusste Goethe es besser: „Alles Behagen im Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der äußeren Dinge gegründet. In der Gewohnheit ruht das einzige Behagen des Menschen. Man denkt an das, was man verließ; was man gewohnt war, bleibt ein Paradies.“

Von wem ist im Folgenden die Rede? „Das hohe sittliche Niveau der … hat alle Forscher beeindruckt. Die ungewöhnlich hohe Ethik ist das Ergebnis ihrer Lebensweise, vor allem der Abwesenheit von Privateigentum, das zur Ausbeutung anderer dienen könnte. Aber auch der Tatsache, dass es keinen Ansporn zur Sonderleistung, zur Übertrumpfung [heute müsste man von Über-Trumpung reden] des anderen, zur Herabsetzung der Schwächeren, als Beweis der eigenen Überlegenheit gibt. Wo keine Ausbeutung herrscht, besteht kein Grund zur Zerstörung konkurrierender Ichs, die das Merkmal des Patriarchats ist.“ (Ernst Bornemann, Das Patriarchat) Von den Pygmäen.

Neoliberale Ökonomen verachten die „edlen Wilden“. Für sie sind alle „Subsistenzler“ – Menschen, die keinen Wohlstand schaffen, sondern sich mit dem begnügen, was der Tag bringt – per definitionem arm. Das vorratslose Existenzminimum ist für sie ein Dasein in täglicher Furcht und Sorge. Dass Pygmäen in angstfreiem Urvertrauen zur Natur leben können, ist für sie Gerede von westlichen Zivilisationsmüden. Auf solch doktrinärem Armuts-Zeugnis beruhen die Fortschrittsfanfaren der kapitalistischen Erfolge.

Wie viele arme Völker haben es durch die Segnungen des Kapitalismus zu relativem Reichtum geschafft? Alles, was in den Tag hinein lebt, gilt automatisch als arm. Wie kommt es nur, dass so gut wie kein „Eingeborener“, der je einen Blick in die Welt des Reichtums tun konnte, seinen archaischen Lebensstil aufgibt, um an den zweifelhaften Segnungen des Mammons teilzunehmen? Wie kommt es, dass die Ärmsten der Welt auch die Glücklichsten zu sein scheinen?

Dabei sprachen wir noch nicht darüber, dass eingeborene Kulturen die einzigen sind, die das Überleben des Menschen in der Natur ungefährdet lassen. Lebten alle Menschen auf dem Niveau der Pygmäen, gäbe es keine ökologischen Gefahren. Die Natur versorgte alle Menschen, wie sie es immer tat. Wie sonst hätten die „Wilden“ am Amazonas bis heute überleben können?

Unbestreitbar, dass es gelegentlich Naturkatastrophen gab, die menschliche Kulturen zerstörten. Meteore oder riesige Vulkanausbrüche allerdings könnten auch die technifizierte Welt treffen und vernichten. Was zufällige Katastrophen nicht schaffen, schafft der Mensch durch selbst verschuldete Naturzerstörung.

Merkwürdig, dass die schärfsten Kritiker des Kapitalismus regelmäßig resignieren: seriöse Alternativen zum modernen Wirtschaftssystem gebe es nun mal nicht. So der Harvard-Dozent Yascha Mounk in der TAZ:

„Eine ähnliche Vision – wirtschaftlich fortschrittlich, institutionell konservativ – muss die Linke heute auch entwickeln. Aber eine richtig gute Antwort darauf, wie das konkret aussehen mag, gibt es momentan leider noch nicht.“ (TAZ.de)

Wie ist es möglich, dass man keine Alternative sieht, obgleich man glaubt, über eine fundierte Kritik zu verfügen? Zeugt das nicht davon, dass man den eigenen Argumenten nicht über den Weg traut? Dass man seine Kritik als unseriöse Spielerei im Sandkasten betrachtet?

Eine Alternative ist die Summa aller kritischen Argumente. Taugt die Alternative nichts, können die eigenen Argumente nicht glaubhaft sein. Wer keine Alternative sieht, müsste seinen verdrängten Selbstzweifeln auf die Spur kommen.

Wie die Frommen mit einem Rückgriff auf die Bibel, begnügen sich die Deutschen mit einem rituellen Rückgriff auf Marx. Schon Marx habe gewusst, vorausgesehen, analysiert, die Widersprüche des Kapitalismus präzis konstatiert. Warum fiel der Sozialismus dennoch in sich zusammen? Weil Marx den Menschen zur Marionette der Geschichte erklärte. Welch fataler Widerspruch: der Revolutionär als Statist und Vollzugsorgan einer göttlichen Geschichte.

Zwar schäumen die Linken ununterbrochen, doch außer Empörung ist nichts gewesen. Das ist der tiefste Punkt der linken Inkompetenz. Theoretisch scheinen sie alles zu wissen, doch praktisch fällt ihnen nichts ein als die eschatologische Hoffnung auf das Kommen des Messias – pardon, auf das Eintreten der wundersamen Umwälzung aller Dinge. Kein Deut anders als ihre christlichen Geschwister im Herrn. Marx war Aufklärer, der die Emanzipation des Menschen durch romantische Geschichtsverklärung ins Gegenteil verkehrte.

Sir Angus Deaton, weltbekannter amerikanischer Ökonom, sieht erhebliche Unterschiede zwischen der deutschen und der amerikanischen Sicht des Reichtums:

„Reich zu sein, ist per se nichts Schlechtes. Hier denken die Amerikaner anders als vielleicht viele Deutsche. Niemand hasst Bill Gates oder Mark Zuckerberg, weil sie so viel Geld besitzen. Im Gegenteil: Man gönnt es ihnen, weil sie als Unternehmer erfolgreich sind. Viele Superreiche sind aber nicht auf unternehmerischem Wege reich geworden. Sie haben nichts erfunden oder produziert, was die Welt auf irgendeine Art und Weise besser gemacht hat. Sie haben einfach ihren Einfluss und ihre Lobbymacht genutzt, um Privilegien zu erhalten oder neue durchzusetzen. Das Ziel: Ihr eigenes Vermögen zu mehren. Im Englischen heißt das Rent Seeking. Dagegen muss in den USA dringend etwas unternommen werden.“ (ZEIT.de)

Was zum Teufel ist Rentseeking? Es gehört zu den Unverschämtheiten der Medien und Gelehrten, ihr Expertengeschwurbel nicht in Klarsprache zu formulieren. Damit machen sie sich unüberprüfbar und verstoßen gegen den Geist demokratischer Kontrolle. Sie schrecken nicht davor zurück, den Plebs für unfähig zu halten, ihre überkomplexen Wahrheiten zu verstehen. Doch verstehen sie sich selbst?

Erste Definition: „Streben von Interessengruppen, Unternehmen und anderen Marktakteuren nach der Erschließung, Verteidigung oder Verbesserung von Einkommenserzielungschancen im Marktbereich mithilfe politisch erwirkter Privilegien. Ziel: Dauerhafte leistungslose Einkommen im Marktbereich.“ (Wirtschaftslexikon Gabler.de)

Zweite Definition: „Als Rent Seeking bezeichnet man das Verhalten von Marktakteuren welches darauf abzielt, unter Einsatz von Ressourcen (u.a. Geld) die Staatsgewalt so zu beeinflussen, dass der Marktakteur zusätzliches Einkommen erwirtschaftet.“ (Vimentis.ch)

Das alles klingt so vornehm und seriös wie der Begriff Freisetzen, der nichts als ordinäres Feuern bedeutet. Die Staatsgewalt zu beeinflussen, um leistungsloses Einkommen zu „erwirtschaften“, ist eine Anleitung zur Bestechung des Staates, um auf Kosten der Steuerzahler Profit abzugreifen. Die Korruptionsmethoden als „politisch erwirkte Privilegien“ zu kennzeichnen, ist Lügen in wissenschaftlicher Talmisprache.

Kapitalismus nennt sich auch Wirtschaftsliberalismus. Mit großen Worten sind sie nicht verlegen, die intellektuellen Bodyguards der Superreichen. Wirtschaftsliberalismus soll eine Lehre sein, „in deren Mittelpunkt das Konzept der spontanen Ordnung steht, nach dem die unsichtbare Hand des Marktes die Interessen der Individuen und der Gesellschaft in Einklang bringt. Die spontane Ordnung entsteht durch menschliches Handeln, aber nicht nach menschlicher Planung.“ (Wiki) Spontane Ordnung „ist das spontane, ungeplante Aufkommen von Ordnung aus vermeintlichem oder tatsächlichem Chaos.“

Spontan ist die Verklärung von planlos. Wer keinen Plan hat, wie kann der rational handeln? Hier stoßen wir auf die irrationalen Gefühle der Ökonomie, die sich aller rationalen Bewertung entziehen. Man könnte auch von Gegenaufklärung sprechen.

Die Urstelle des vernunftlosen Wurstelns – sonst die Paradedisziplin der Kanzlerin – steht bei Adam Smith, einem Stoiker mit Beilagen blanker Unvernunft. Ein Kapitalist „ist stets darauf bedacht, herauszufinden, wo er sein Kapital so vorteilhaft wie nur irgendmöglich einsetzen kann. Tatsächlich hat er dabei den eigenen Vorteil im Auge und nicht etwa den der Volkswirtschaft. Aber gerade das Streben nach seinem eigenen Vorteil ist es, das ihn ganz von selbst oder vielmehr notwendigerweise dazu führt, sein Kapital dort einzusetzen, wo es auch dem ganzen Land den größten Nutzen bringt.“ (Wohlstand der Nationen)

Die Urlehre des Kapitalismus lautet demnach: folge deinem Egoismus – und du wirst den größten Effekt für die Gesellschaft erzielen. Wäre das nicht ein blankes Wunder? Es ist eines – bewirkt durch die Intervention der unsichtbaren Hand, einer agnostischen Metapher für Gott. Smith, Anhänger der antiken Stoa, regrediert in seinen Kinderglauben: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu tun, aber Gott wird es zum Guten wenden.“ Menschen können böse sein, wie sie wollen. Sind sie fromm, wird ihr himmlischer Vater alles Böse durch Wunder in Gutes verwandeln.

Das ist purer Quietismus im Gewande moderner Ökonomie. Sie wissen nicht, was sie tun, doch keine Sorge: Gott sieht das Herz der Seinen und wendet alles zum Besten. Ende gut, alles gut. Wenn Kinder ihr chaotisches Handeln als rationalen Plan verkauften, würden ihre Autoritäten in Schnappatmung geraten. Hochkomplexe Ökonomen aber entlarven hier, dass sie selber nichts verstehen – doch dies für der Weisheit höchsten Schluss halten.

Machen wir‘s kurz. Der Kapitalismus steht mit den Füßen im Schlamm blindgläubiger Dumpfheit. Sie wissen, dass sie nichts wissen. Doch ihr Nichtwissen verkaufen sie als listige Strategie ihres Wissens. Im Gegensatz zu Sokrates, der seine theoretische Ignoranz zur Voraussetzung eines lebenslangen Suchens und Erkennens machte, bleiben die Kapitalisten auf ihrem Nichtwissen sitzen – das sie sich mit exquisiten Worten schön reden. Mit solchen Finessen machen sie sich zu Scharlatanen.

Sie, die anderen Unverstand vorwerfen, bleiben blinde Blindenleiter. Ihr Imperativ lautet: wursteln wir ad infinitum. Denn Gott pfuscht mit und bringt alles in trockene Tücher. Das Wursteln der Kanzlerin ist keine Privatmarotte, sondern kapitalistische Korrektheit.

Liberalismus heißt Freiheit. Wie kann ich frei handeln, wenn ich nicht weiß, was ich tue? Egoismus galt traditionell als böse. Durch Glauben an göttliches Eingreifen hat Smith das Böse in Gutes verwandelt. Es ist nicht anders: der Kapitalismus ist – wie einst die Alchimie – eine auf Basis des Wunders arbeitende Magie. Mit Wissenschaft hat dieses Abrakadabra nichts zu tun. Hat es mit Freiheit zu tun?

„Das allgemeine liberale Prinzip lautet: Jeder hat die Freiheit, alles zu tun, was er will, sofern er nicht die Freiheit eines anderen verletzt.“ John Stuart Mill fährt fort, „dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.“

Weiß Angus Deaton nicht, dass Reichtum Macht bedeutet, viel Reichtum noch mehr Macht? Wie kann es sein, dass Superreiche als omnipotente Akteure die Ohnmächtigen der Gesellschaft nicht schädigen? Ihre mächtige Dauerpräsenz nimmt den Ohnmächtigen die Luft zum Atmen. Durch ihre Macht können sie jede Regierung so beeinflussen, dass ihre Interessen in wachsendem Maße gefördert werden – auf Kosten der Armen und Schwachen. So bei Trump und seinem Milliarden-Kabinett. In einem ersten Staats-Akt wollte er Obamacare rückgängig machen. Millionen Deklassierter wären erneut ohne Krankenschutz. Sieht so sein Versprechen aus, den Entrechteten Recht und Würde zu verschaffen?

Liberalismus ist die Freiheit der Starken, tun zu können, was immer sie für richtig halten. Ohne jede Rücksichtnahme auf die Schwachen. Das ist keine Freiheit, sondern Brutalität mit Schalmaienklang.

Was wäre die Alternative zum bestehenden Kapitalismus? Abschaffen der ungeheuer Mächtigen. Zerschlagen der Monopole und Oligipole. Enteignen bis auf wenige Millionen. Das wäre erst der Anfang.

Auch der globale Freihandel müsste humane Formen annehmen. Der Tausch zwischen starken und schwachen Ländern darf nicht zuungunsten der Schwachen erfolgen. Zudem muss er durch einen gewissen Protektionismus ergänzt werden. Die Schwachen einer Nation dürfen durch die Starken fremder Länder nicht noch mehr geschädigt werden, als sie es im nationalen Bereich ohnehin werden.

Superreiche aus aller Welt kaufen nach Belieben Häuser und Wohnungen in London, Berlin und sonstigen Zentren. Hier steigen die Mieten ins Unermessliche und sind für Schwache unerschwinglich geworden. Die Starken haben nicht das Recht, sich die attraktivsten Sahnestückchen des Planeten unter den Nagel zu reißen – und die Schwachen dieser Erde vollends zu drangsalieren.

Die ungeplant-spontane Ordnung des Kapitalismus ist die geplante und gewollte Unordnung im rücksichtslosen Interesse der Starken. Wie anders wäre zu erklären, dass die Kluft zwischen Reich und Arm ins Unermessliche steigt?

 

Fortsetzung folgt.