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Weltdorf LVII

Hello, Freunde des Weltdorfs LVII,

wir verlangen ein Davos für die Vielzuvielen! Eine Bilderberg-Konferenz für die Abgehängten! Eine UN-Vollversammlung für die Armen und Schwachen! Einen IWF-Gipfel für die Verlierer. Ein Weltrettungs-Tribunal für die Abgehängten! Aber subito!

Wo treffen sich die Völker, um über ihr Schicksal zu beraten? Wo die Ohnmächtigen und Abhängigen, um den Planeten vor den Davoser Tycoons zu retten? Wo die Hälfte der Menschheit, die weniger besitzt als acht Giga-Mammonisten zusammen, um sich der scheingesetzlichen Blutsauger und Legal-Kriminellen zu entledigen? Wo die Milliarden Verachteten und Gedemütigten, über deren Schicksal Schnellschwätzer-Bürschchen mit prophetischen Gesten und visionärem Augenrollen bestimmen? Wo die 99PROZENT, die zugucken dürfen, welch technische Zukunftshölle mit Unsterblichkeits-Phantastereien man höheren Orts für sie ausbrütet? Ohne sie mit der einzig bedeutsamen Frage zu behelligen: wie stellt ihr euch selbst euer Leben vor?

EINPROZENT entscheidet über die Geschicke des Planeten und der Menschheit – und dies im Zeitalter der Volks-Herrschaft. Sprechen wir‘s aus: es hat sich eine Form des Totalitarismus entwickelt, von der Hannah Arendt nichts ahnen konnte. Ein weltweiter Totalitarismus hat sich etabliert – unter der Maske der Demokratie. Je mehr Völker an die Wahlurne gehen, je weniger bestimmen sie über

ihr Leben und Sterben. Weiße männliche Supermänner haben sich die Welt unter den Nagel gerissen und entscheiden mit Hilfe selbsternannter Geschichtsgesetze wie Fortschritt, Reichtum und Naturzerstörung, welche heiligen Supergötzen den homo sapiens – beerdigen werden.

Wo sind die Spezialisten, die jede Verschwörungstheorie von weitem riechen und ohne Argumente niederbügeln? Vor aller Welt versammeln sich die Reichen und Mächtigen, verschwören sich gegen den Rest der Welt – unter dem liebreizenden Motto: „Verpflichtet, den Zustand der Welt zu verbessern“ –, und kein Verschwörungs-Aufdecker schlägt Alarm?

„Doch will diese Welt sich von diesen Leuten überhaupt noch verbessern lassen?“ fragt der SPIEGEL, als ob die Welt sich jemals von diesen Leuten hätte verbessern lassen wollen. Ob sie scheinkritisch fragen, mosern oder nörgeln: stets schützen die Medien die Reichen, von deren Wohlwollen und Werbegeldern sie vollständig abhängen.

Woher kommt die Teilung der Menschheit in die erwählte EINPROZENT und den verworfenen Rest? Am Ende der Geschichte, der wir uns accelerando nähern, wird eine große Betrübnis ausbrechen. Diese Betrübnis wird so schrecklich sein, dass „nur die auserwählten und erweckten Christen, die 144 000 Heiligen des Neuen Testaments, verschont bleiben.“ (Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion, Evangelismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus)

„Und ich hörte die Zahl derer, die versiegelt wurden: hundertvierundvierzigtausend, die versiegelt waren von allen Geschlechtern der Kinder Israel.“

„Denn viele sind berufen, aber wenige auserwählt.“

„Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, so er der eines verliert, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis daß er’s finde? Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.“

„Denn die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden.

„Da sagte er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige.

Wie viel Prozent sind 144 000 von Abermilliarden Menschen, die je auf Erden lebten?

Die Moderne ist eine Epoche dogmatischer Quantifizierung. Was ist Armut? Weniger als die Hälfte des Durchschnitts, so legen sie in willkürlicher Forschheit fest. Normalerweise gilt das Gesetz der dominant höheren Zahl. Je größer die Zahl, desto besser und erfolgreicher. Je geringer, umso desaströser. Dennoch, in Grundprinzipien der westlichen Sieg- und Heilsgeschichte entscheiden nicht Quantitäten, sondern Qualitäten.

Das heidnisch-demokratische Prinzip der Mehrheit wird auf den Kopf gestellt. Nicht die Masse, die Meute, die Vielzuvielen bestimmen das Schicksal der Menschheit, sondern elitäre Minderheiten, die sich als Lieblinge des Schicksals definieren. Der gegenwärtige Hass der Eliteklassen gegen die Shitstorm-Horden gründet in der Ideologie der eschatologischen Auserwählung.

Die Algorithmen-Zukunft der Menschen wird keine Massen mehr kennen. Denn sie werden bedeutungslos sein oder nicht mehr existieren. Man wird sie in weltweiten Slums auf niedrigstem Niveau durchfüttern (weswegen immer mehr Eliten für das BGE plädieren) – oder aber in jenen Weltgegenden zusammenballen, wo die Klimaverschärfung den Genozid ersetzen wird.

Das Gesetz der Quantifizierung ist „dialektisch“. Einerseits entscheidet das Gesetz der großen Zahl, in exquisiten Ausnahmesituationen aber entscheidet die Qualität und nicht die pöbelhafte Quantität. Wenige können wertvoller sein als ein Stadion voller Menschen.

Das Problem wurde in einem TV-Film dem deutschen Publikum zur Entscheidung vorgelegt – und der Pöbel versagte bei der Urteilsfindung. Er ging vom schlichten Grundsatz aus: viele Menschen sind wertvoller als wenige. Das sei ein Verstoß gegen das Grundgesetz, monierten erwählte Intellektuelle, die für die Rettung der Erwählten eintraten:

Basis für den Film ist das Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach. Darin verhandelt die große Strafkammer des Schwurgerichts Berlin den Fall des Kampfpiloten Lars Koch. Der 31-Jährige stand vor der Entscheidung, ein Passierflugzeug mit 164 Menschen abzuschießen oder es den Entführern zu erlauben, die Maschine in die mit 70.000 Zuschauern voll besetzte Allianz Arena in München abstürzen zu lassen.“

Doch die Ausnahme ist nur scheinbar eine. Souverän – also mächtig – ist, wer über die Ausnahme bestimmt. Das Gesetz von Carl Schmitt lässt sich auch anders formulieren: Ausnahmemenschen besitzen stets die Macht. Hinter den Fassaden pöbelhafter Mehrheiten bestimmen erwählte Ausnahmen. Dies sind die Eliten. Längst ist das Prinzip der Mehrheit durch technische, wirtschaftliche und politische Führungsklassen außer Kraft gesetzt.

Im Marxismus war es nicht anders. Zwar behauptet Marx: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“

Dennoch unterschieden Engels und Marx die Masse der Proletarier von den Massenauftritten der Elenden oder des „Lumpenproletariats.“ Streng genommen waren es nicht die Massen, sondern die elitären Funktionäre und prophetischen Geschichtsdeuter (die Geschichte muss dem Revolutionär „entgegen kommen“ – so Habermas), die das Zeichen zum Angriff geben mussten. Auch der klassenlose Sozialismus war eine Hierarchie mit winzigen totalitären Führungscliquen.

Marx, Apostel der Schwachen und Armen – verachtete die Elendesten der Elenden als Lumpenproletariat. Armut nannte er mit einem Fremdwort, das kein Armer verstehen konnte: Pauperismus. Nicht anders als die Kapitalisten waren auch die Proletarier die Sieger der Geschichte – wenn sie auch im vorrevolutionären Zustand der Geschichte noch zu den Ausgebeuteten gehörten.

Zum Lumpenproletariat – den Letzten der Letzten – gehörte der „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“. Dazu zählte Marx die „zerrütteten Lebeherren mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen ‚la bohème‘ nennen“. Die französische Boheme war keinesfalls eine Gruppe geistlos-verkommener Parasiten, sondern „eine Subkultur von intellektuellen Randgruppen mit schriftstellerischer, bildkünstlerischer und musikalischer Ambition und mit betont anti-bürgerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen.“

Im kommunistischen Manifest sprachen Marx-Engels von der „passiven Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“. Diese verrotteten Endmoränen der Gesellschaft seien unzuverlässig, bestechlich und zur Entwicklung eines proletarischen Klassenbewusstseins unfähig.

Nun verstehen wir allmählich den Hass der karriere-orientierten SPD auf all jene, die ihrem Aufruf zum Aufstieg nicht folgen. Sie könnten ihrem Milieu sehr wohl entrinnen, doch sie wollen nicht. Aus Trägheit, Faulheit oder sonstiger Verkommenheit.

Der Marxismus ist dieselbe naturzerstörende wirtschaftlich-technische Erfolgsideologie wie der Kapitalismus. Mit Ausnahme einer gerechteren Besitzverteilung und einem verspäteten Finalsieg über alle Feinde des Reiches der Freiheit – das von kapitalistischen Christen Garten Eden genannt wird. Auch die Linken sind in Fragen der Moral verschämte Christen, wie Gregor Gysi in einem Interview gestand:

„Ich habe – obwohl ich selbst nicht an Gott glaube – versucht, der Gemeinde zu erklären, dass ich eine gottlose Gesellschaft ganz furchtbar fände. Und zwar schon aus folgenden Gründen: Erstens sind die Religions- und Kirchengemeinschaft Bestandteil unserer Kultur, und zweitens sind zurzeit nur die Kirchen- und Religionsgemeinschaften in der Lage, allgemeinverbindliche Moralnormen aufzustellen. Wenn wir also die Kirchen und die Religionsgemeinschaften nicht hätten, gäbe es keine verbindliche Moral.“ (Domradio.de)

Das ist nicht nur trostlos, sondern eine wesentliche Ursache, warum die Linken von religionsallergischen Menschen kaum noch gewählt werden können. Früher sei das anders gewesen, erklärte der charmante Politentertainer: „Die Linke konnte das mal, aber seit dem Scheitern des Staatssozialismus kann sie zwar Moralnormen aufstellen, die sind dann nur nicht allgemeinverbindlich.“

Hier rächt sich, dass Marx, trotz seichter Religionskritik, die Urbotschaft des Christentums nicht zerlegte, sondern in ökonomische Vokabeln übersetzte. Das Urgesetz der Heilsgeschichte blieb bei ihm intakt.

Gysi, wie alle Linken, scheint nicht bemerkt zu haben, dass Marx die Moral als Instrument der Veränderung ablehnte. Revolution ließe sich nur moralfrei vollstrecken. Wenn nicht anders, müssten auch Gewalt und andere Brutalitäten angewendet werden.

Der Stalinismus war keine Verirrung, sondern eine logische Folge der heilsgeschichtlichen Amoralität von Marx. Erst das Reich der Freiheit sei ein Reich vollendeter Moral. Auf dem steinigen und mühsamen Weg dorthin könne man nur machiavellistisch oder antinomisch die Ausbeuter aus dem Wege räumen.

Wie im Kapitalismus gilt auch bei Marx: moralische Verhältnisse werden durch Unmoral hergestellt. Der real existierende Sozialismus scheiterte nicht nur aus mangelnden Effizienzgründen. Er war nie eine ernst zu nehmende Alternative zum Kapitalismus. Dass er ohne Mühe in vorrevolutionäre Christenverhältnisse regredieren konnte, lag an seiner religiösen Tiefenstruktur, die er bis zum heutigen Tag nicht wahrhaben will.

Gysi gibt sich als Gottloser, der eine gottlose Gesellschaft ablehnt. Auch bei den Linken ist das Denken nachhaltig zerrüttet.

Nie treten deutsche Medien kritischer auf als bei politischen Gutmenschen, zu denen auch Oxfam gehört. Wie Pharisäer, die Mücken seihen, aber Kamele schlucken, kritteln sie an Belanglosigkeiten herum, obgleich sie das Gesamtergebnis von Oxfam nicht bezweifeln können: die Kluft zwischen Reichen und Armen wächst und wächst.

Da Edelschreiber nie definieren, was sie meinen, bleibt ihnen verborgen, dass es den Armen durchaus besser gehen und dennoch das Fazit stimmen könnte: die Kluft wächst. Dann nämlich, wenn der Abstand zwischen Reichen und Armen wächst. Der wächst dann, wenn der Reichtum der Reichen mehr zunimmt als der etwaige Wohlstand der Armen. Wenn es den Reichen weitaus „besser geht“ als den Armen, muss die Kluft gewachsen sein.

Wie schlecht muss es Superreichen ergehen, die nicht zu den acht Reichsten der Welt gehören. Trumps Dynastie muss hundsmäßig gelitten haben, dass sie kaum zu den hundert Reichsten der Welt gehören. Wen wundert es, dass sie durch politischen Erfolg ihren jämmerlichen Kontostand kompensieren mussten.

Was ist Armut? Armut wird verklärt – und verdammt, wenn auch die Zeiten poetischer Verklärung à la Rilke vorüber sind:

„Denn sie sind reiner als die reinen Steine
und wie das blinde Tier, das erst beginnt,
und voller Einfalt und unendlich Deine
und wollen nichts und brauchen nur das Eine:

so arm sein dürfen, wie sie wirklich sind.

Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen …“ (Stundenbuch).

Ein CDU-Abgeordneter hat in der WELT die Oxfam-Thesen vom Tisch gewischt: „Mein Gott, wir sind doch hier kein Armenhaus. Wer angesichts von steigenden Löhnen und Renten, sinkenden Arbeitslosenzahlen, wachsendem Wohlstand und einer starken sozialen Absicherung permanent behauptet, dass Deutschland immer ungleicher und ungerechter werde, betreibt unverantwortliche Stimmungsmache – und das oft aus purem politischem Eigennutz.“ Schreibt Grosse-Bröhmer in bewährtem politischem Eigennutz. (WELT.de)

Reichtum quantitativ zu erfassen, sei fast unmöglich. Ja, Reichtum sei weder erkenn- noch definierbar, erklären die Oxfam-Kritiker. Mit anderen Worten: Reichtum ist ein Mysterium, zu komplex für rohe Pöbel- und Moralistengehirne. Reichtum ist eine Arkandisziplin, vergleichbar den Mysterien des Glaubens. Zwischen Reichtum und Armut klafft eine seinsmäßige Differenz, die durch Quantität nicht erfassbar ist.

Schon in den Finanzkrisen fiel auf, dass Rechtsgelehrte abwinkten, etwaige Schuldige zu erfassen und anzuklagen. Wie könne man göttergleiche Tycoons auf Erden zur Rechenschaft ziehen? Wenn die quantitative Moderne ans Eingemachte gerät – an den machtmäßigen Kern ihrer Elitenherrschaft –, schlägt Quantität um in unerfassbare Qualität. Das Glaubenszentrum des Kapitalismus ist rational unerfassbar. Wer an den Mammon glaubt, kann selig werden, wer nicht glaubt, wird ohn Erbarmen überrollt.

Kann man Reichtum quantitativ nicht erfassen, so kann man ihn auch nicht besteuern. Die Regierung legt alljährlich einen Armutsbericht vor, einen regelmäßigen Reichtumsbericht gibt es nicht. Ist die Differenz ontologisch, kann sie politischen Zwecken nicht dienstbar gemacht werden.

Armut ist am wenigsten ein quantitativer, es ist ein politisch-psychischer Begriff, der sich an der gesellschaftlichen Gesamteinschätzung der Armen im Vergleich mit den Reichen orientiert. Wer sich ausgesondert, verachtet, ignoriert und gedemütigt fühlt, ist arm in dieser Gesellschaft.

Das hängt nicht nur mit Geld zusammen. Wer in minderwertige Wohngebiete abgedrängt, wessen Kinder schlechte Schulen besuchen müssen, wessen Wort nicht ernst genommen wird – sodass er unflätig werden muss, um wahrgenommen zu werden, wer in seinem täglichen Revier keinen Reichen und Mächtigen begegnet, wessen Selbstbewusstsein zu politischem Engagement nicht ausreicht, wer nicht gebildet genug ist, um die Schaumschlägereien der oberen IQ-Bestien zu durchschauen, wer sich als Opfer fühlt, wer durch Hartz4-Gesetze und obrigkeitliche Beamte als störrisch, ja böswillig eingestuft wird, wessen Lohn gerade zum Vegetieren reicht – der ist arm.

Hegel wusste mehr über Armut als heutige sozialdemokratische Minister, die Armut ständig umdefinieren, um ihre Haushalte zu schonen:

„Das Herabsinken einer grossen Masse unter das Maß einer gewissen Substistenzweise, die zum Verlust des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen – bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt. Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen. Der Mensch, der auf Zufälligkeiten angewiesen ist, wird leichtsinnig und arbeitsscheu wie zB die Lazzaroni in Neapel. Somit entsteht im Pöbel das Böse, dass er die Ehre nicht hat, seinen Lebensunterhalt durch seine Arbeit zu finden.“

Trotz der vorzüglichen Analyse sah Hegel keine Chance, das Problem der Armut politisch zu lösen. „Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaß des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“

Die Weigerung des Schwaben, die sozialen Probleme der Gesellschaft politisch für lösbar zu halten, brachte seinen Schüler Marx zur Weißglut. Marx stellte Hegel auf den Kopf und erklärte die Verhältnisse durch Revolution für veränderbar. Dennoch gelang es ihm nicht, den Menschen zum Herrn und Meister seines irdischen Geschicks zu erklären. Nach markigen Sprüchen in seiner Jugend unterstellte er den rebellischen Menschen letzten Endes unveränderbaren Gesetzen der Geschichte.

Das Problem der Armut kann nur durch eine gerechte und freie Demokratie gelöst werden. Was ist Gerechtigkeit? Nicht pedantisch genaue Besitzverhältnisse, sondern gesellschaftliche Zustände, in der jeder sich jedem gleichberechtigt fühlen kann.

In einer solchen Gesellschaft wohnen Reiche nicht in separierten, ummauerten Bezirken. Ihre Kinder gehen in dieselben Schulen wie die Kinder von „Unterschichtlern“ und Einwanderern. Öffentliche Plätze sind Begegnungsorte für alle Schichten der Gesellschaft, wo jeder mit jedem ins Gespräch oder in einen philosophischen Disput kommen kann. Arme dürfen nicht mehr Sorgen um den morgigen Tag haben als Leute mit höherem Einkommen oder Besitz.

Gleichheit ist weniger ein quantitativer denn ein politisch-psychischer Begriff. Gleiche begegnen sich in allen Dingen auf gleicher Augenhöhe, unabhängig von IQ, Kontostand, wirtschaftlicher Macht und politischem Einfluss.

Wer Armut überwinden will, muss die Gesellschaft verändern.

(Thema wird fortgesetzt.)